KAPITEL 34
Innerhalb weniger Minuten war ein Polizeiwagen da, gefolgt von einem zerbeulten Kombi mit Beamten von der Spurensicherung, die sich das Fenster vornahmen.
Alice kauerte auf der Couch, erstarrt und zitternd unter einer roten Wolldecke, und streichelte unablässig ihren Bauch. Sie hatte immer schon das Gefühl gehabt, dass ihre ungeborenen Babys in ihrem Körper sicherer waren, als sie es nach der Geburt jemals wieder sein würden. Sie litt an der Verletzlichkeit ihrer Kinder umso mehr, je weiter sie von ihr weg waren. Und während jetzt ihre Hände über ihren Bauch strichen, gelobte sie den Zwillingen im Stillen ihren Schutz. Aber als sie den Technikern zuschaute, die versuchten, Spuren zu sichern, wusste sie, dass sie dieses Versprechen vielleicht nicht würde halten können.
Mit zitternden Händen holte sie ihr Handy aus der Tasche. Sie würde Mike bitten, nach Hause zu kommen, und wenn Nell und Peter erst einmal da waren, dann hatte sie alles, was sie brauchte. Sie würde mit Mike darüber reden, von hier fortzugehen. Es war alles viel zu gefährlich und zu unüberschaubar.
Als Mike abnahm, hörte sie sofort die Anspannung in seiner Stimme. »Ich stehe hier in der Bronx im Stau. Ich musste in Westchester ausliefern, und eigentlich hätte ich Diego darum bitten sollen, aber er musste in der Werkstatt noch was erledigen.«
Sie erzählte ihm, was passiert war, und er begann, auf die Hupe zu drücken. Immer wieder. Alice bekam Angst.
»Hör auf, Mike! Dadurch bist du auch nicht schneller hier!«
»Aber ich muss zu dir, ich kann doch hier nicht so feststecken.« Noch einmal heulte die Hupe auf, dann hörte sie ein Rascheln und das Schlagen einer Autotür. »Scheiß drauf, ich fahre mit der Subway.«
»Du kannst doch den Wagen nicht einfach so da stehen lassen, Mike!«
»Sollen sie ihn doch abschleppen. Ich bezahle die Strafe schon.«
»Ich bin doch nicht allein, Mike. Die Polizei ist hier, ein ganzer Haufen Leute, und Dana…«
»Wo sind die Kinder?«
»Bei Sylvie. Sie bringt sie nach Hause.«
Sie hörte ihn keuchend atmen und sah ihn vor sich, wie er rasch durch die Straßenschluchten der Bronx eilte, das Handy ans Ohr gepresst.
»Mike, Liebling, geh wieder zurück zum Auto.«
Er seufzte, und um ihn herum schien es ein wenig ruhiger zu werden.
»Es bringt ja nichts, wenn du dich jetzt so beeilst, um zu mir zu kommen«, fuhr Alice fort.»Dana hat alles im Griff.«
»Wahrscheinlich hast du Recht.«
»Ich liebe dich.« Wieder hörte sie eine Autotür schlagen. »Bist du jetzt wieder im Pick-up?«
»Ja.«
»Fließt der Verkehr wieder?«
»Nein, aber gleich bestimmt.«
»Ruf mich an, wenn du dir Sorgen machst, Mike. Ich bin ja hier.«
Sie legten auf, und Alice hielt nachdenklich ihr Handy in der Hand. Es überraschte sie, dass sie sich jetzt weniger panisch fühlte. Sie zog die Decke fester um sich und schaute zu, wie Dana die Ermittlungen leitete.
Ein Labortechniker sprühte etwas auf das Fenster, damit das Wasser verdunstete, und untersuchte sorgfältig jeden Quadratzentimeter der Glasscheibe. Ein Fotograf machte Aufnahmen von jeder Phase des Prozesses.
Alice fragte sich, wann Frannie wohl endlich eintreffen mochte. Und wo blieben Nell und Peter?
Um sich abzulenken, sagte sie zu Dana: »Das war doch offensichtlich Julius.«
Dana warf Alice einen Blick zu. »Nichts ist offensichtlich«, antwortete sie. »Wir sammeln Beweise und schauen sie uns an. Und wir arbeiten mit dem, was wir vorfinden. Entscheidend sind die Fakten.«
Aber es konnte doch gar kein anderer sein als Julius. Du bist bestraft worden, dachte Alice, bestraft für deinen bösen Charakter und den Schmerz, den du anderen Menschen zugefügt hast. Andererseits war er natürlich nicht immer so gewesen. Der Verlust seiner Familie hatte Julius Pollack zu dem Misanthropen gemacht, der er war.
»Ja«, sagte Dana gerade. Alice hatte gar nicht gemerkt, dass sie am Telefon war. »Wir sehen uns dann in zwanzig Minuten, wenn der Tunnel nicht gesperrt ist.«
»Warum ist Frannie eigentlich in New Jersey?« Alice versuchte vergeblich, eine bequeme Sitzposition auf der Couch zu finden.
Dana drehte sich zu Alice um. »Sie haben den Tatort gefunden, und die Spurensicherung ist gerade eingetroffen. Paul bleibt da und leitet die Ermittlungen.«
Sie haben den Tatort gefunden. Den Ort, an dem Lauren ihr Leben verloren hatte – nein, an dem es ihr genommen wurde.
»Was ist mit dem Baby?«, fragte Alice. »Haben sie…?«
»Nein.« Dana setzte sich neben sie auf die Couch.
»Kein Baby. Nur viel Blut.«
Alice starrte durch Simons Wohnzimmer. »Was haben sie sonst noch gefunden?«
»Sie sind ja ganz nass. Sie sollten sich umziehen.«
»Sagen Sie es mir. Was haben sie sonst noch gefunden?«
»Die Spurensicherung hat ja gerade erst angefangen. Frannie kann uns bestimmt mehr sagen, wenn sie hier ist. Sie muss jetzt gleich kommen, Alice. Sie ist schon auf dem Weg.«
Alice begriff nicht: Wie konnte Lauren um Viertel vor zwölf über die Carroll Street Bridge in Brooklyn gehen und sieben Minuten vor zwölf in New Jersey sterben? Sie fragte Dana, wie diese Diskrepanz zu erklären sei.
»Die Tat wurde in Brooklyn begangen«, antwortete Dana, »in einem Fahrzeug, das nach New Jersey fuhr.«
»Ein Fahrzeug?« Alice schloss die Augen und sah es im Geiste vor sich. Es musste ein Auto mit getönten Scheiben oder ein geschlossener Lieferwagen gewesen sein. Eine Tür glitt geräuschlos auf, starke Hände zerrten Lauren hinein und zerstörten ihr Leben, das Leben ihrer Familie.
Julius Pollack, das Schwein.
Aber Dana korrigierte Alices Vorstellung kühl. »Es war ein Eiscreme-Wagen. Man hat ihn auf einem einsamen Parkplatz in der Nähe von Trenton gefunden.«
Alice wurde es schwindlig, und sie atmete tief durch.
Wie oft hatten sie und die anderen beiden Frauen ihren Kindern an solchen Wagen Eis gekauft? Nell hatte Alice einmal gestanden, sie glaube, es gäbe nur einen einzigen Eiscreme-Wagen, und er tauche wie durch ein Wunder immer genau zum richtigen Zeitpunkt auf. Sie war völlig desillusioniert, als sie zum ersten Mal den großen Parkplatz von Mr. Frosty kurz hinter der Carroll Bridge sah. Es war also gar keine Magie, es gab einfach nur jede Menge Wagen.
Alice zitterte unter der Decke. Sie sehnte sich danach, ihre Kinder in die Arme zu schließen, und sie wünschte, sie kämen ins Zimmer gerannt.
Wo waren sie überhaupt?
Sie wählte Sylvies Handynummer und lauschte dem elektronischen Klingelton.
Dana hob das Pfingstrosenkissen auf, das aus der Tasche herausgefallen war. Sie betrachtete die Stickerei, fuhr mit den Fingerspitzen darüber und drehte und wendete das Kissen, um es sich von allen Seiten anzuschauen.
Endlich ging Sylvie ans Telefon. »Ich habe die Kinder in Maggies Wohnung gebracht«, erklärte sie. »Es war näher, weil es doch so geregnet hat. Bist du jetzt böse, Alice?«
»Nein, ich bin nicht böse.«
»Ist alles okay?«
Sylvies Tonfall gefiel Alice nicht. Sie war jung, und manchmal nahm sie die Dinge nicht ernst genug. Aber sie ließ sich ihre Irritation nicht anmerken.
»Ja, es ist alles in Ordnung. Du brauchst sie nicht herzubringen, Sylvie, Mike ist schon auf dem Weg nach Hause. Ich bitte ihn, kurz bei Maggie vorbeizufahren und sie abzuholen.«
»Ich höre doch, dass du dir Sorgen machst«, sagte Sylvie.
»Das ist unnötig, und es macht unattraktiv, wie meine Mutter immer sagte.«
»Mike wird gleich vorbeikommen.« Alice wollte das seltsame Gespräch beenden. Sie wollte, dass endlich alles vorbei war, dass Mike kam und die Kinder mitbrachte.
»Tschüs, Alice«, sagte Sylvie, in einem Ton, der Alice merkwürdig munter vorkam.
Sofort anschließend rief sie Mike an.
»Ich kann jetzt nicht reden – der Verkehr«, sagte er.
»Hol bitte auf dem Heimweg die Kinder ab«, bat sie ihn. »Sie sind bei Maggie, mit Sylvie.«
»Mache ich. Geht es dir gut?«
»Ja.« Dass man den Tatort gefunden hatte, würde sie ihm erst später erzählen.
»Bis gleich«, sagte er. »Ich bin fast da.«
Sie ließ den Kopf zurücksinken und schloss die Augen. Auf einmal fragte Dana: »Wo haben Sie das denn her?«
Alice öffnete die Augen und blickte auf das Pfingstrosenkissen.
»Von Judy Gersten«, erwiderte sie. »Sie macht sie selbst.«
»Sie, Plural?«, fragte Dana. »Gibt es noch mehr?«
»Sie macht lauter so ein Zeug. Sticken, stricken, häkeln und nähen. Ihr ganzes Haus und auch ihr Schreibtisch im Büro sind voll davon. Sie sagt, sie muss ihre Hände beschäftigt halten. Sie hat gesagt, Sylvie macht die Kissen für sie fertig.«
»Was bedeutet das?«
Alice war überrascht von Danas plötzlichem Interesse.
»Sie wissen schon, die Füllung und das Futter und so. Und dann bringt Sylvie sie zum Frauenladen und verkauft sie da.«
»Warum?« Dana beugte sich vor, das Kissen auf ihrem Schoß.
»Nur aus Hilfsbereitschaft, glaube ich«, erwiderte Alice.
»Sylvie arbeitet als Teilzeitkraft bei Garden Hill. Judy sagt, sie habe die Idee mit der Pfingstrose gehabt. Als Tribut an Lauren sozusagen. Lauren liebte Pfingstrosen.«
»Dann haben Sie das Kissen also gekauft?«
»Nein, Judy hat es mir geschenkt. Das heißt, sie hat es mir eigentlich zugeworfen. Sie meinte, ich solle es nehmen, weil ich Laurens Freundin war.«
Dana hielt Alice das Kissen hin und deutete in die untere linke Ecke. »Sehen Sie mal.«
Alice hatte die Stickerei noch nie aus der Nähe betrachtet, weil die Pfingstrose am besten von weitem wirkte. Und je genauer sie nun hinsah, desto deutlicher wurde, dass der Hintergrund nicht so simpel war, wie es aussah. Er bestand aus zwei Farben, nicht nur aus einer, wie sie zunächst geglaubt hatte, und in der Ecke, auf die Dana zeigte, war noch etwas anderes zu sehen.
Alice musterte das Kissen ganz aus der Nähe. In der unteren linken Ecke waren, eine Schattierung dunkler als der Hintergrund, zwei winzige Buchstaben eingestickt: LB.