KAPITEL 26
Judy Gersten wohnte an der Douglas Street, in einem der blauen Häuser, die sich von den typischen Brownstones abhoben. Alice stieg die Vordertreppe hinauf, läutete und wartete. Es war erst Viertel vor neun, aber Judy hatte ja ausdrücklich erwähnt, dass sie von acht bis fünf auf den Reparaturdienst warten müsse, also konnte Alice ja nicht zu früh vorbeigekommen sein. Aber niemand öffnete. Alice ging durch den Kopf, dass sie gar nichts über Judy wusste, ob sie allein lebte oder eine Familie hatte. Und sie hatte gestern Abend so durcheinander geklungen, vielleicht war ja etwas geschehen. Alice läutete noch einmal.
Endlich ging die Haustür einen Spalt weit auf und Judy musterte ihren Besuch. Anscheinend erkannte sie Alice nicht. Alice wollte sich fast schon entschuldigen und zurückziehen, aber sie hatte Peter versprochen, dass er heute nach der Schule sein Feuerwehrauto zurückbekommen würde.
»Bin ich zu früh?«, fragte sie. »Ich komme wegen des Spielzeugautos meines Sohnes.«
Judy öffnete die Tür. Sie trug einen champagnerfarbenen Satin-Morgenmantel, der über einer Jogginghose und einem Männerunterhemd auseinander klaffte. Ohne die Fassade aus Berufskleidung wirkte sie ungeschützt. Seltsamerweise sah sie älter und jünger zugleich aus, und Alice fühlte sich zu dieser Judy wesentlich mehr hingezogen als zu der Immobilienmaklerin, die ihr das Haus gezeigt hatte. Allerdings änderte sich das, als sie anfing zu reden.
»Es ist gleich da drüben«, sagte Judy. »Ich hole es.«
Sie stank nach Whiskey. Das war es also: Judy war betrunken. Aber Alice wollte Peters Feuerwehrauto wiederhaben, also folgte sie ihr nach drinnen. Das Wohnzimmer war gemütlichchaotisch, im französischen Landhausstil eingerichtet und ein bisschen abgewohnt.
»Wenn Sie mir das Feuerwehrauto geben, bin ich gleich wieder weg.«
Judy gab einen Laut von sich, als wolle sie wieder anfangen zu weinen.
Es war anscheinend noch schlimmer, als Alice befürchtet hatte. »Vielleicht sollte ich später wiederkommen.«
»Warten Sie bitte, ja?« Judys Stimme klang jämmerlich, Mitleid erregend.
Die Morgenzeitung lag aufgeschlagen auf einem Diwan vor einem großen Fenster. Daneben auf dem Boden stand ein Becher mit Judys Kaffee, einer öligen, bernsteinfarbenen Flüssigkeit, die jeder sofort als Whiskey erkannt hätte.
Judy durchwühlte ihre Tasche, als Alices Blick auf ein Foto in der Zeitung fiel, das ihr einen Schlag versetzte. Es war ein Foto von Julius, eine seltsame Aufnahme, weil er lächelte. Sie hatte ihn noch nie lächeln gesehen. Er hatte den Arm um einen anderen Mann gelegt. Die Schlagzeile über dem Foto konnte Alice nicht lesen, da in diesem Augenblick schon wieder Judy neben ihr stand.
»Danke.« Alice nahm das kleine rote Auto entgegen.
Aus der Nähe sah Judy nicht nur betrunken, sondern auch gepeinigt aus, und Alice fragte sich, ob wohl etwas anderes als der Whiskey an ihrem Zustand schuld war. »Ist alles in Ordnung?«, fragte sie.
»Oh, mir geht es wunderbar«, erwiderte Judy dramatisch. Sie trat zu einer Couch, die an einer Ziegelwand stand, und sank in die weichen Polster. Alice blickte auf die zusammengesunkene Gestalt. Die arme Frau. Hinter einer besonders beherrschten Fassade verbarg sich wie so oft der größte Aufruhr.
»Es ist etwas passiert«, schluchzte Judy und schlug sich die Hände vors Gesicht, »und jetzt ist alles vorbei.«
»Das tut mir Leid«, flüsterte Alice. Und das stimmte auch, obwohl sie nicht wusste, wovon Judy redete. Sie stand da und wartete darauf, dass das Schluchzen nachließ, damit sie sich verabschieden konnte.
Als sie sich in dem hübschen, unordentlichen Zimmer umblickte, entdeckte sie überall ähnliche Handarbeiten wie auf Judys Schreibtisch im Büro. Jede weiche Fläche im Zimmer, abgesehen vom Teppich und dem silbrigen Jacquard-Bezug des Sofas, war von Judy bearbeitet worden. Die Sitzflächen von zwei antiken Sesseln waren mit Petit-Point-Stickerei bezogen. Zwischen den Sesseln stand ein kleiner Tisch mit einer großen, gerahmten Fotografie von Judy und einem Mann, der Alice irgendwie bekannt vorkam. Sie standen Arm in Arm da, wie ein altes Ehepaar, und lächelten breit in die Kamera. Aber nichts sonst im Zimmer gab einen Hinweis darauf, dass Judy verheiratet war. Es war eindeutig das Zimmer einer Frau. Auf der Couch, auf der Judy saß, lagen zahlreiche gestickte Kissen, alle bis auf eins mit symmetrisch angeordneten winzigen Blumen, was wie eine Art Gartenfeuerwerk wirkte. Die Ausnahme war ein Kissen, auf das nur eine einzige Blume gestickt war, in der Art eines Georgia-O’Keeffe-Gemäldes.
Alice musste das Kissen unwillkürlich angestarrt haben, denn Judy hörte abrupt auf zu schluchzen. »Es sollte eine Pfingstrose werden«, sagte sie, »aber wahrscheinlich habe ich auch das, wie alles andere, nicht richtig hingekriegt.«
Erst jetzt erkannte Alice, dass es tatsächlich eine Pfingstrose war. »Es ist wunderschön«, sagte sie.
Judy ergriff das Kissen und strich mit zitternden Fingern über die Oberfläche. Dabei blickte sie Alice an. »Es war die Idee dieses französischen Mädchens.« Ihre Stimme war rau vom Weinen. »Sylvie. Sie hat mir von der Frau erzählt, die Pfingstrosen geliebt hat, die, die sie im Kanal gefunden haben.
Eine Frau, die wie Abfall weggeworfen wurde.« Wieder begann sie zu weinen. »Hier.« Sie warf Alice das Kissen zu. »Sylvie hat mir auch erzählt, dass die Frau Ihre Freundin war. Ihnen bedeutet es sicher mehr als mir.«
Alice fing das Kissen auf. »Das kann ich nicht annehmen.«
»Mir bedeutet es nichts.« Judy holte tief Luft. Flehend blickte sie Alice aus ihren verquollenen Augen an. »Ich mache sie nur, weil ich etwas zu tun haben will. Sylvie bringt sie in den Frauenladen. Ich verkaufe sie, weil sie mir nichts bedeuten. Ich brauche das Geld nicht. Nehmen Sie es, bitte.«
Judy stand auf und trat zum Diwan. Dort ergriff sie ihren Becher und leerte ihn in einem Zug. Die Zeitung beachtete sie gar nicht.
»Danke«, sagte Alice. »Ich weiß schon genau, wo ich es hintun werde.«
Judy entließ sie mit einer nonchalanten Handbewegung, und Alice eilte mit Peters Feuerwehrauto und dem Kissen aus dem Haus.
Zu Hause holte sie sofort die Zeitung aus ihrer Plastikhülle und breitete sie auf dem Küchentisch aus. Im Lokalteil fand sie das Foto von Julius und seinem Gefährten unter der Schlagzeile Gegen Brooklyner Immobilienhai wird wegen Angriff auf Maklerin ermittelt. Von Erin Brinkley.
Alice war erstaunt darüber, wie schnell Erin Brinkley auf Julius Pollack gestoßen war. In der letzten Zeit konnte die Reporterin offenbar Alices Gedanken lesen. Der Mann auf dem Foto wurde als Pollacks Partner, Sal Cattaneo, identifiziert. Er war in den Fünfzigern, schätzte Alice, mit einem wirren Haarkranz aus weißen Haaren und Lachfältchen um die Augen. Er sah freundlich aus, im Gegensatz zu Julius, der trotz seines Lächelns hart wirkte. Alice betrachtete Sal Cattaneo, den Mann, über den Pam erfolglos Nachforschungen angestellt hatte. Wie war es Erin Brinkley gelungen, ihn so einfach zu entdecken? Der Name und auch das Gesicht kamen ihr bekannt vor, aber sie konnte ihn nicht einordnen.
Sie setzte sich an den Küchentisch und las den Artikel.
Wegen Übereinstimmungen in drei ungelösten Fällen hat die örtliche Polizei begonnen, die berüchtigten Immobilienhaie Julius Pollack und Sal Cattaneo, seit langem Partner bei Metro Properties, unter die Lupe zu nehmen, auch im Hinblick auf den Tod von Lauren Barnet und das Verschwinden ihres ungeborenen Babys. Gegen die beiden Männer wird auch in Verbindung mit dem Verschwinden von Christine Craddock, die ebenfalls schwanger war, ermittelt. Ms. Craddock verschwand vor zwei Jahren am errechneten Geburtstermin ihres Babys. Sowohl Ms. Barnet als auch Ms. Craddock waren Mieter bei Metro Properties und wehrten sich zur Zeit ihres Verschwindens gegen die Bemühungen von Metro, sie aus ihren mietpreisgebundenen Wohnungen in der Gegend Carroll Gardens-Cobble Hill zu vertreiben. Gut informierte Kreise berichten, dass die Polizei Mr. Pollack und Mr. Cattaneo auch im Zusammenhang mit dem Überfall auf Pam Short verhört hat. Ms. Short ist Immobilienmaklerin in Brooklyn und hat möglicherweise etwas über Metro erfahren, das sie in Gefahr gebracht hat. Sie liegt immer noch im Koma im Long Island College Hospital.
Nach Angaben der Polizei gelten Ms. Barnets Ehemann, Tim Barnet, und Ms. Craddocks Freund, David Jonstone, nicht mehr als Hauptverdächtige. Man sah sich gezwungen, die Suche wesentlich zu erweitern, als deutlich wurde, dass die drei Fälle offenbar miteinander in Verbindung stehen.
Im Rahmen der Ermittlungen kursieren verschiedene Hypothesen, die von der des einsamen Serienkillers über die eines Komplotts in der Immobilienbranche bis hin zu jener eines schwarzen Markts für Babys reichen. Die Angelegenheit scheint eine harte Nuss für die Polizei zu sein.
»Offensichtlich spielt jemand mit uns«, sagt Detective Francesca Viola vom 76. Revier. »Wir suchen nach dem gemeinsamen Nenner, und im Moment sind das zwei schwangere Frauen, die verschwanden, ihr Vermieter Metro Properties, und eine Immobilienmaklerin, die möglicherweise einer Sache auf der Spur war.«
Alice las den Artikel noch zweimal durch. Andre Capa wurde immer noch nicht erwähnt, diese Information hielten Frannie und Giometti offensichtlich zurück. Aber warum? Einen Augenblick lang war Alice wieder versucht, die Reporterin anzurufen, um die Lücken aufzufüllen. Aber schließlich entschied sie sich doch dagegen. Sie hatte Frannie versprochen, nichts zu sagen.
Als könne die Polizistin Gedanken lesen, klingelte in diesem Moment ihr Handy, und das Display kündigte das 76. Revier an. Alice wollte das Gespräch gerade entgegennehmen, als ihr noch etwas klar wurde.
Sie wusste jetzt, wo sie Sal Cattaneo gesehen hatte: vor einer halben Stunde in Judy Gerstens Wohnung in dem Rahmen auf dem hübschen Tischchen. Wie ein Ehemann, Partner oder langjähriger Freund hatte er neben Judy gestanden.
Und dann fiel Alice ein, wo sie den lächelnden Mann auf Judys Foto noch gesehen hatte; plötzlich wusste sie ganz genau, wer er war.