KAPITEL 28
Das ist Dana«, sagte Frannie zu Alice. »Sie ist über den Fall informiert.«
Dana war eine hellhäutige Schwarze mit einer Frisur aus unzähligen dünnen Zöpfchen. Sie war mittelgroß, schlank und sportlich, eine Kollegin Giomettis aus dem Morddezernat im 60. Revier. In Carroll Gardens war sie als Polizistin noch nie in Erscheinung getreten, und deshalb konnte sie sich ohne weiteres als Alices Freundin ausgeben, zumal man unter ihrer fließenden roten Batikhose nie im Leben eine Pistole vermutet hätte, die in einem Schaft am Knöchel saß.
»Sie dürfen Danas Identität niemandem verraten«, sagte Frannie. »Erzählen Sie bitte keinem Menschen davon.«
»Und was ist mit Mike?« Er wäre bestimmt enttäuscht, wenn er erführe, dass Alice eingewilligt hatte, die Polizei bei ihren Ermittlungen zu unterstützen. Wegfahren konnten sie nun nicht mehr.
»Nur Mike.«
»Und den Kindern?«
»Tun Sie ihnen einen Gefallen«, warf Dana ein. »Sagen Sie es ihnen nicht. Sie werden sich mit mir bestimmt wohler fühlen, wenn Sie glauben, ich sei eine Ihrer alten Schulfreundinnen. Kinder, die ein Geheimnis für sich behalten sollen, platzen beinahe immer, wenn sie es niemandem erzählen dürfen.«
»Okay«, erwiderte Alice. »Sind Sie eine alte Schulfreundin, die bei uns wohnt, oder bleiben Sie die ganze Zeit vor der Haustür stehen?«
Dana und Frannie lachten. »Das war gut«, sagte Dana, »das gefällt mir.«
»Sie wird nicht bei Ihnen wohnen«, erklärte Frannie. »Sie ist eine alte Freundin vom College, die Sie ab und zu besucht. Wenn sie nicht bei Ihnen ist, wird jemand anderer ein Auge auf Sie haben.«
»Okay, College-Freundin.« Alice und Dana schüttelten einander die Hand.
»Und wo sind wir zur Schule gegangen?«
»Sarah Lawrence College in Bronxville, New York.«
»Okay.«
»Was waren unsere Hauptfächer?«
»Bei mir Film, und bei Ihnen… Tanz.« Dana nickte. »Okay, Tanz. Warum nicht?«
»Wir werden bei unserem Freund Simon wohnen«, sagte Alice. »Auch seine Frau Maggie wird häufiger da sein, obwohl sie getrennt leben… Ich fürchte, dass Maggie mir die Geschichte von der alten Freundin nicht abkaufen wird, dazu kennt sie mich schon viel zu lange.«
»Da bin ich mir nicht so sicher.« Frannie lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.»Sie können sich gar nicht vorstellen, was die Leute alles zu glauben bereit sind.«
Es war schon fast vier, als Alice endlich fertig war. Sie ging mit Dana zu Fuß zu Simons Haus. Der Tag, der so kühl begonnen hatte, war feucht und warm geworden, und als sie an Simons Haus ankamen, war Alice schweißgebadet.
»Hübsches Haus«, sagte Dana anerkennend. Mike öffnete. Nell und Peter standen neben ihm. Peter hatte die Hände voller Popcorn und hatte auf dem blauen Teppichboden der Treppe, die zum Wohnzimmer im ersten Stock führte, eine deutliche Spur hinterlassen.
»Mommy!«, schrien beide Kinder aufgeregt und umarmten sie stürmisch.
»Wir schlafen heute Abend hier!«, sagte Nell.
»Ich auch?«, fragte Peter.
»Wir alle«, erwiderte Mike und zwinkerte Alice zu. Sie reichte ihm die Reisetasche.
»Hast du meinen Schlafanzug dabei?«, wollte Nell wissen?
»Meinen auch?«, fragte Peter.
»Ja, ja, ja«, erwiderte Alice.
Mike öffnete die Tür weiter, während die Kinder bereits wieder die Treppe hinaufrannten. Alice hörte Jubelrufe aus dem Wohnzimmer, offensichtlich lief der Fernseher.
»Ist Ethan zu Hause?« Sie konnte sich nicht erinnern, ob heute Maggie oder Simon an der Reihe war.
»Sylvie hütet ihn drüben bei Maggie, aber sie kommen nachher alle zum Abendessen vorbei. Ich muss rasch noch etwas einkaufen, ich habe nur auf dich gewartet.« Er küsste Alice, dann streckte er Dana die Hand hin. »Mike Halpern.«
»Das ist Dana«, sagte Alice und fügte laut hinzu, »meine alte Freundin vom College.« Dann flüsterte sie Mike zu:
»Mordkommission. Sie arbeitet mit Frannie und Giometti zusammen. Das darf sonst niemand wissen.«
»Na, das kann ja heiter werden!«, sagte Mike.
Dana lächelte ihm zu. »Nett, Sie kennen zu lernen, alter Freund.«
»Möchten Sie nicht hereinkommen?« Mike trat einen Schritt zur Seite.
»Sehr gern.« Dana trat in die Eingangshalle. Alice konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie das erste Mal hier gewesen war. Maggie, Lauren und zwei andere Mütter hatten eine Spielgruppe gegründet, als die Jungen noch Babys waren. Damals war sie ganz überwältigt von der Ausstattung des Hauses gewesen, aber mittlerweile kannte sie auch ein paar Mängel.
Seit Maggies Auszug hatte sich nur wenig verändert. Sie hatte dem Haus ihren Stempel aufgedrückt mit ihrer Vorliebe für wuchtige Möbel, extravagante Farben und Kunstwerke. Simons geliebter Steinway-Flügel dominierte das Wohnzimmer, unter einem Kristalllüster, den Maggie in Österreich gekauft hatte. Weiße Wände, Orientteppiche auf glänzenden Walnussböden, moderne Halogenlampen an den viktorianischen Stuckdecken. Maggie hatte dieses Haus geliebt. In einer dramatischen Geste hatte sie darauf bestanden, dass Simon es behielt, und betont, sie sei durchaus in der Lage, sich eine schicke neue Eigentumswohnung auf der Warren Street zu leisten, wohingegen er kaum für irgendetwas zahlen könne.
Wieder ertönten Jubelschreie von oben.
»Was ist denn da los?«, fragte Alice Mike.
»Yankees gegen Red Sox, vier zu vier, Ende der neunten Runde.«
»So knapp?«, sagte Alice. »Aber glaubst du…?«
»Ach was, Liebling. Heute machen wir sie fertig.«
Mike war ein glühender Red-Sox-Fan, da er in der Nähe von Boston aufgewachsen war. Simon hingegen war als geborener New Yorker natürlich eingefleischter Anhänger der Yankees.
»Mike, hör mal…«, begann Alice, aber bevor sie weitersprechen konnte, unterbrach ihr Mann sie flüsternd.
»Ich habe beim Reisebüro angerufen. Wir können heute Abend noch fliegen…«
»Nein, das können wir nicht«, erwiderte Alice. »Das muss ich dir erklären. Komm bitte.«
Sie ergriff seine Hand und führte ihn ins Wohnzimmer, wo Dana bereits am Flügel saß und wunderschön zu spielen begann. Eine Sonate. Alice glaubte, Mozart zu erkennen.
»Beeindruckend«, sagte Alice, als sie zu Ende gespielt hatte.
»Ich wünschte, ich hätte den Unterricht ernster genommen.« Dana schloss den Deckel über den Tasten und fuhr mit der Hand zärtlich über das glänzende Holz.
»Meine Mutter hat mich damals immer gewarnt, ich würde es nochmal bereuen, und sie hatte Recht.«
Mike und Alice saßen nebeneinander auf dem smaragdgrünen Sofa. Dana erhob sich vom Klavierhocker und setzte sich ihnen gegenüber in einen saphirblauen Lehnsessel, von dessen Sitzfläche Fransen baumelten. Sorgsam stellte sie die Füße nebeneinander, und Alice dachte sofort, dass man die Pistole sähe, wenn sie die Beine übereinander schlagen würde. Alice berichtete Mike von ihrem Besuch bei Judy Gersten, den Artikeln in der Zeitung, Pollacks Angriff auf ihre Wohnungstür, der einstweiligen Verfügung, ihrem anschließenden Gespräch mit den Ermittlern und der wahren Identität des Mannes, der sie verfolgt hatte. Sie ließ nichts aus, und wenn sie doch etwas vergaß, dann kam ihr Dana zu Hilfe.
Am nächsten Morgen sollten sie wieder aufs Revier kommen, damit die Polizei Alice auf den Besuch bei Cattaneo & Sohn vorbereiten konnte. Sie sollte versuchen herauszufinden, welche Rolle Sal Cattaneo in dem Netz spielte, das drei Frauen und ein Baby verschluckt hatte.