KAPITEL 7

Wir haben einen Zeugen«, sagte Frannie. »Unsere erste Spur.« Die Stimmen der Kinder drangen aus dem Garten durch die offene Küchentür. Alice saß am Tisch und sah Mike zu, der am Herd stand und geduldig in seinem Spezial-Risotto rührte. Es war ihr Lieblingsgericht. Dicker, cremiger Reis mit Schinken, Zwiebeln, Karotten und Erbsen. Ein Hauch von Zitrone.

»Es ist ein Künstler«, fuhr Frannie fort. »Er wohnt direkt am Kanal, in diesem runden Haus mit all den Dachfenstern. Er hatte am Freitagmorgen seine Staffelei auf der Carroll Street Bridge aufgestellt und hat Lauren um Viertel vor zwölf über die Brücke kommen sehen.«

Viertel vor zwölf. Da war sie auf dem Weg zu ihrem Pilates-Kurs gewesen.

»Der Mann wusste nicht, dass Lauren als vermisst gilt«, sagte Frannie. »Er gehört zu den Leuten, die Nachrichten hassen, nicht fernsehen und keine Zeitung lesen. Er reist viel und liebt alles Schöne, verstehen Sie?«

»Frannie, hat er mit Lauren geredet?«

»Sie haben einander angelächelt. Lauren wirkte ›freundlich und zivilisiert‹, hat der Mann gesagt. Es sah nicht so aus, als ob sie Wehen hatte.«

»Und weiter?«

»Er machte sich wieder ans Malen. Nach drei Stunden packte er ein und ging ins Haus.«

Die Kinder kamen von draußen herein, und Mike erlaubte ihnen, fernzusehen, damit Alice sich auf das Telefonat konzentrieren konnte. Er drehte die Gasflamme unter dem Risotto herunter und setzte sich neben sie an den Küchentisch, wobei er sich die Hände an seiner geblümten Schürze abtrocknete. Unter seinen Fingernägeln war ein dünner schwarzer Rand. Er hatte in der letzten Zeit viel gearbeitet, weil er seine Teilnahme an der Möbelmesse in Las Vegas im nächsten Monat vorbereitete, und Schmutz und Staub hatten sich in beinahe jede Körperfalte eingegraben. Sie griff nach seiner Hand und drückte sie.

»Jetzt können wir unsere Suche also auf das Gebiet zwischen dem Kanal und dem Pilates-Kurs, bei dem sie gar nicht angekommen ist, konzentrieren«, sagte Frannie.

»Was?«, rief Alice aus. »Dort ist sie nicht angekommen?« Die Kursleiterin hatte sich nicht bei Maggie gemeldet. Seit Freitag hatte kein Kurs mehr stattgefunden, und vermutlich hatte sie die Nachricht auf dem Anrufbeantworter gar nicht gehört.

»Die Lehrerin hat den Artikel in der Zeitung gelesen«, erwiderte Frannie. »Sie hat uns angerufen. Alice. Ich weiß, dass es sich für Sie nicht gut anhört, aber es wird die Ermittlungen beschleunigen, Sie werden sehen.«

Alice schloss die Augen und stellte sich den Kanal und die dünn besiedelte Gegend vor. Der Limousinen-Verleih an der Ecke. Der Parkplatz mit den Lieferwagen von Mr. Frosty. Die Firma mit den Gipsnachbildungen. Es war beinahe ein ganzer Häuserblock, bis das Wohnviertel wieder anfing.

»Alice, ich muss jetzt Schluss machen«, sagte Frannie. »Ich rufe Sie an, wenn sich etwas Neues ergibt. Und wenn Ihnen etwas einfällt, melden Sie sich bei mir. Wir finden sie. Gemeinsam finden wir sie.«

Gemeinsam, dachte Alice. Sie legte auf und berichtete Mike, was Frannie gesagt hatte.

»Das hört sich doch gut an«, erwiderte er in dem gleichen ermunternden Tonfall, mit dem er immer die Kinder beschwichtigte, wenn sie wütend waren.

»In Wahrheit hältst du es für ein schlechtes Zeichen, oder?«

»Ich weiß nicht. Es ist seltsam, und ich habe das Gefühl…« Er zuckte mit den Schultern, als versuchte er eine Empfindung zu verdrängen, die er nicht mit Alice teilen wollte.

»Sag es«, forderte sie ihn auf. »Es ist unheimlich zu erfahren, dass jemand sie tatsächlich gesehen hat, und dann ist sie auf einmal wie vom Erdboden verschwunden. Es ist ein schlechtes Zeichen. Sag es.«

»Okay.« Er stemmte die Hände in die Hüften, wodurch er in seiner geblümten Schürze eher komisch wirkte. Mikes Lachfältchen wichen einem ernsten Gesichtsausdruck. »Es macht mir Angst.«

Alice nickte. Sie war Mike dankbar für seine Aufrichtigkeit. Diese Situation konnte nicht einmal er mit seinem unerschütterlichen Optimismus schönreden. Natürlich mochte das Auftauchen eines Zeugen hoffnungsvoll sein, aber es war eben auch ein Zeichen dafür, dass Lauren an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit verschwunden war. Und ihr Verschwinden wurde dadurch greifbarer, da jetzt klar war, dass ihr zwischen Viertel vor zwölf, als der Mann sie gesehen hatte, und zwölf Uhr mittags, als sie nicht zu ihrem Pilates-Kurs erschien, irgendetwas geschehen war, das ihre Pläne, möglicherweise ihr ganzes Leben geändert hatte. Und das in nur fünfzehn Minuten.

»Was sollen wir jetzt machen?«, fragte Alice.

Mike legte seine kräftige Hand auf ihren Bauch und streichelte ihn. Dann blickte er sie an. Braune, helle Augen mit goldenen Reflexen.

»Ich sage dir, was ich wirklich denke.«

Sie hatte diese Mischung aus Bedauern und Entschlossenheit bisher nur einmal bei ihm erlebt, vor neun Jahren, als sie in der ersten Schwangerschaft eine Fehlgeburt erlitten hatte. Damals hatte er nicht zugelassen, dass sie glaubte, nie wieder ein Kind bekommen zu können. Er hatte ihr Mut gemacht, obwohl es zu dieser Zeit mehr ihr Wunsch als seiner gewesen war, eine Familie zu gründen.

»Was denkst du, Mike?«

»Ich denke… nein, ich weiß, dass wir nichts tun können.« Er kniff die Augen zusammen. »Und es nützt überhaupt nichts, wenn wir uns ständig Sorgen machen.«

»Aber in so einer Situation ist es doch ganz normal, sich Sorgen zu machen«, protestierte Alice.

»Ja, schon, aber hast du letzte Nacht überhaupt geschlafen?« Sein Lächeln wirkte gezwungen, beinahe professionell. Es gefiel ihr nicht.

Sie wandte den Blick ab und betrachtete eingehend das Muster des Linoleumbodens in der Küche. Dann schüttelte sie den Kopf.

Mike beugte sich vor und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. »Du bist schwanger«, sagte er. »Muss ich dich daran erinnern?«

Jetzt musste auch sie lächeln. »Nein, natürlich nicht«, erwiderte sie.

»Versuch einfach, dich nicht zu sehr in deine Angst hineinzusteigern, Liebling, ja? Mehr will ich doch gar nicht sagen.«

Alice nickte.

»Ich liebe dich«, fuhr er leise fort, während aus dem Wohnzimmer der Refrain von Bob dem Baumeister drang. »Wir dürfen nicht zulassen, dass das Ganze schlimmer wird, als es ohnehin schon ist.«

»Ich wünschte, ich wüsste, wie es ohnehin schon ist.«

»Ich auch«, erwiderte er. »Aber das wissen wir eben erst hinterher. Ich habe heute früh Tim angerufen, nachdem ich den Bericht in der Zeitung gelesen habe. Er ist ein wandelndes Wrack. Wir müssen zusehen, dass wir für Tim und Austin stark bleiben, okay? Wir müssen ihnen klar machen, dass es im Moment immer noch eine realistische Chance gibt, dass Lauren heil und gesund zurückkommt.«

»Wir wissen nicht…«

»Es geht nicht anders, Alice.« Wieder legte er ihr die Hand auf den Bauch. »Bitte, steigere dich nicht hinein.«

Alice legte ihre Hand über seine, um die unruhigen Zwillinge zur Ruhe zu bringen. Das war der Mike, den sie geheiratet hatte, nicht der Komödiant oder der hyperaktive Creative Director, nicht der Schreiner, sondern der sensible, liebevolle Mann, der ihr immer zur Seite stand.

»Okay.«

Mike fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Wenn ich so weitermache, ist das Risotto gleich Matsch.«

»Dann koch jetzt weiter. Ich werde versuchen, mir nicht mehr so viel Sorgen zu machen.«

Er lächelte sie voller Liebe an. »Wir sollten uns darauf konzentrieren, ein Haus zu finden.«

»Genau.«

»Und endlich hier rauszukommen.«

»Genau«, wiederholte sie.

»Die Polizei findet Lauren schon«, fuhr er fort. »Das ist ihr Job.« Er stand auf und begann, wieder in seinem Risotto zu rühren.

Nach einer Weile fragte Alice: »Glaubst du, jemand kann zu nett sein?«

»Meinst du Tim?«

»Nein, ich habe an Frannie gedacht. War es falsch von mir, heute früh zu ihr zu gehen?«

»Nein, definitiv nicht. Es ist immer besser, aufrichtig zu sein.«

»Frannie hat gesagt, dass ja nicht ich gelogen habe.«

Mike lächelte. »Das war wirklich nett von ihr.«

»Ich hatte dadurch weniger Schuldgefühle, schließlich hatte Maggie es gesagt. Sie hat gelogen.«

»Aber wenn man etwas nicht richtig stellt, ist es vermutlich genauso schlimm«, entgegnete Mike.

»Na ja, auf jeden Fall findet Maggie Frannie zu nett.«

»Das sieht Maggie ähnlich.« Mike hielt im Rühren inne und drehte sich zu ihr um. »Wenn jemand wirklich nett ist, bleibt ihr nicht genug Raum, um sich mit ihm anzulegen.«

Alice vermutete, dass Mike Maggie zwar grundsätzlich mochte, ihr aber nicht mehr ganz traute, seitdem sie Simon wegen seiner angeblichen Untreue verlassen hatte.

»Und warum mag sie mich? Ich bin doch auch nett.«

Mikes Augen begannen zu funkeln. »Na ja, so nett bist du nun auch wieder nicht, Liebling.«

»Arschloch.«

»Siehst du?«

Den ganzen restlichen Abend dachte Alice darüber nach, was nett eigentlich bedeutete. Sie fragte sich, ob Ehrlichkeit ein Wert an sich war. Sie jedenfalls litt unter Unehrlichkeit. Lügen konnte sie nur schwer ertragen. Sie hatte der Polizei einfach von Maggies gut gemeinter Lüge erzählen müssen. Auch wenn ihre Freundschaft vielleicht darunter leiden würde…

Als Alice am Montagmorgen die Tür zum Blue Shoes öffnete, war die Türglocke wegen der Musik kaum zu hören. Sie hatte einen ruhigen Morgen erwartet, allein im Laden, sodass sie sich in Ruhe überlegen konnte, wie sie Maggie ihren gestrigen Besuch im Polizeirevier gestehen konnte. Sie hatte ihr gemeinsames Geheimnis preisgegeben, und wenn Lauren zurückkäme, wäre Maggie diejenige, die aufrecht und wahrhaftig geblieben war, während Alice gewankt hatte.

»Was machst du hier?«, rief sie Maggie zu, die im Hinterzimmer saß und Belege ordnete.

Als Maggie aufblickte, sah Alice, dass ihre Augen gerötet waren. Also hatte auch sie nicht gut geschlafen. Alice war in der letzten Nacht irgendwann aufgestanden, um weiter an Laurens Website zu arbeiten, und jetzt war ihr leicht schwindlig und übel vor Müdigkeit.

Maggie schaltete das Radio aus. »Heute Mittag um zwölf müssen wir zu Martin wegen unserer vierteljährlichen Steuervorauszahlung. Hast du das auch vergessen?«

»Mist!« Alice hatte tatsächlich nicht mehr daran gedacht.

»Können wir das nicht verschieben?«

»Wir haben den Termin bereits zweimal verschoben. Ich glaube, letztes Mal war er ziemlich ärgerlich deswegen, und ich möchte ihn nicht verlieren. Er ist ein guter Steuerberater.«

»Aber…«

»Schscht, Liebes. Wir müssen nach vorne schauen.«

Vielleicht hatte Maggie ja Recht. Lauren war jetzt seit drei Tagen weg, drei endlose Tage und Nächte voller Warten und Hoffen. Aber die Hoffnung schien zu schwinden, je mehr Zeit verstrich. Sie mussten weitermachen und sich an ihrer täglichen Routine festhalten.

»Du willst doch sicher nicht, dass ich alleine zu Martin gehe?«, fragte Maggie. Das war ein lächerlicher Vorschlag, wenn man bedachte, wie schlecht Maggie mit Zahlen umgehen konnte.

»Nein, ganz bestimmt nicht«, erwiderte Alice. »Ich nehme den Termin schon selber wahr.« Sie zog den Schuhkarton mit den Belegen zu sich heran. »Wir teilen uns die Arbeit und ordnen das alles, bevor ich zu ihm gehe.«

Nebeneinander saßen sie an der Theke und arbeiteten sich durch die Belege. Ab und zu warf Alice Maggie einen Blick zu und dachte: Jetzt, jetzt sage ich es ihr. Aber immer gerade dann rieb sich Maggie müde die Augen oder seufzte oder gab sonst einen Hinweis darauf, dass es ihr heute nicht so besonders gut ging, und Alice schwieg.

Eine Dreiviertelstunde später hatten sie ihre Aufgabe erledigt, da noch kein Kunde den Laden betreten und sie gestört hatte. Auf einmal knurrte Alices Magen so laut, dass selbst Maggie es hörte.

»Du hast Hunger, oder?«

»Ja, ich komme um vor Hunger, das merke ich erst jetzt.«

»Ich könnte einen Cappuccino vertragen. Soll ich rasch gehen und uns etwas holen?«

Maggie griff nach ihrer Handtasche unter der Theke, öffnete sie und suchte nach ihrer Sonnenbrille.

Jetzt, dachte Alice wieder und begann: »Mags…«

»Ah, das dürfen wir auch nicht vergessen.« Maggie holte einen mit Dinosauriern bedruckten Schlafanzug aus ihrer Tasche und legte ihn auf das Regal unter der Theke.

»Der gehört Ethan. Er schläft heute bei Simon, und Sylvie kommt den Schlafanzug gleich abholen.« In ihre Augen trat ein wütendes Funkeln. »Kannst du dir vorstellen, dass er mich heute Morgen angerufen hat, um mir mitzuteilen, dass er keinen sauberen Schlafanzug für seinen Sohn hat? Natürlich hat er es nicht mehr geschafft zu waschen. Typisch Simon. Wahrscheinlich war er zu beschäftigt damit, mit Sylvie herumzumachen.«

»Sie war krank, Mags.«

»Ja.« Maggie schniefte. »Das behauptet sie. Dass sie in den letzten Tagen krank war, hat diese ganze Sache mit Lauren noch schwerer für mich gemacht.«

Alice schwieg. Laurens Verschwinden und Sylvies Nichterscheinen bei der Arbeit waren nicht miteinander zu vergleichen, und es war schon sehr gewagt, diese beiden Dinge miteinander zu verbinden. Sie holte tief Luft und bemühte sich, Maggies Gejammer einigermaßen gleichmütig zu ertragen. Mittlerweile war sie froh, Maggie ihren Besuch auf dem Polizeirevier nicht gestanden zu haben; vermutlich hätte die sowieso alles missverstanden.

»Denk zur Abwechslung an was anderes«, riet Alice der Freundin. Sie stand auf und reichte Maggie ein paar Dollar, damit sie ihr den üblichen Trinkjoghurt mitbrachte.

»Erdbeer-Banane, bitte.«

»Oh, Mist, sieh mal, wie spät es schon ist. Wenn ich mich nicht beeile, kommst du noch zu spät zu Martin.«

Maggie steckte Alices Geld in ihr Portemonnaie und eilte hinaus.

Allein in der Stille des Ladens, erschienen Alice auf einmal der Fußboden glänzender, die Wände blauer, die Decke schimmernder als sonst. Um sich abzulenken, legte sie eine CD ein. Als die ersten Takte des Norah-Jones-Songs erklangen, merkte sie, wie laut Maggie die Musik gestellt hatte. Sie drehte sie leiser und hörte im gleichen Moment, dass jemand den Laden betreten hatte.

Es war Sylvie. Lächelnd trat sie auf Alice zu. Wie immer waren ihre kleinen, dunklen Augen dick mit schwarzem Kajal umrandet, wodurch ihre blonden Haare, die ihr gewollt unordentlich über die Schultern fielen, noch heller wirkten. Sie trug schwarze Caprihosen und eine kurze weiße Bluse, die den rubinroten Stein in ihrem Nabel enthüllte. Um ihren rechten Knöchel wand sich ein Tattoo. Rote, mit Strasssteinchen besetzte Leder-Flipflops lenkten die Aufmerksamkeit auf ihre passend rot lackierten Fußnägel.

Sie küsste Alice auf beide Wangen.

»Geht es dir besser?«, fragte Alice.

»Ja, ja, es war nur eine Magen-Darm-Grippe.« In dem französischen Akzent, der wie ein goldener Schimmer über ihrem ansonsten fließenden Englisch lag, klang selbst diese banale Äußerung hübsch. »Gibt es was Neues wegen Lauren?«

Alice berichtete von dem Zeugen, der aufgetaucht war, und Sylvie hörte interessiert zu.

»Vielleicht ist sie ja mit einem italienischen Liebhaber durchgebrannt«, schlug sie vor.

Zum Gowanus-Kanal? Das war eher unwahrscheinlich. Aber Sylvie war eine leidenschaftliche Leserin von Liebesromanen, und das hatte sie vermutlich auf die Idee mit dem italienischen Liebhaber gebracht. Sie redete lieber mit ihr gar nicht über das Thema, dachte Alice und antwortete ausweichend: »Na, hoffentlich.«

»Wie geht es deinen Babys heute?«, fragte Sylvie fröhlich.

»Sie strampeln wie besessen.«

Sylvie blies zwei Luftküsse auf Alices Bauch, und Alice dachte, dass Maggie verrückt war, an dem Mädchen zu zweifeln. Sie war doch einfach ganz reizend.

Alice griff nach Ethans Dinosaurier-Schlafanzug und legte ihn auf die Theke. »Brauchst du eine Tüte?«

»Nein, ich tue ihn hier hinein.« Sylvie faltete den Schlafanzug sorgfältig und steckte ihn in die farbige Baumwolltasche mit dem langen Schulterriemen, die sie umgehängt hatte. Sie war jetzt seit vier Jahren in Brooklyn und sah ganz so aus wie eine Einheimische – nicht zu aufgedonnert, lässige Frisur und eine große Umhängetasche.

»Arbeitest du heute bei Garden Hill?«, fragte Alice.

»Ich habe mit der Maklerin, die du mir empfohlen hast, Nachrichtenhinterlassen gespielt. Mittlerweile weiß ich schon gar nicht mehr, wer eigentlich an der Reihe ist zurückzurufen. Aber sie weiß sicher Bescheid.«

»O ja, wenn sich irgendetwas ergibt, reagiert Pam bestimmt sofort. Aber ich arbeite heute nicht da. Ich gehe spazieren und mache ein paar Besorgungen. Es ist so ein schöner Morgen.«

Alice blickte aus dem Fenster. Die Sonne strahlte von einem wolkenlosen Himmel. »Viel Vergnügen«, sagte sie. In diesem Augenblick stürmte Maggie durch die Ladentür. Sie war völlig außer Atem, und Schweißtropfen standen ihr auf der Stirn.

»Hast du schon gehört?«, rief sie. »Drüben am Kanal haben sie eine Leiche gefunden.«