KAPITEL 16

Am nächsten Morgen auf dem Weg zum Blue Shoes fiel Alice ein Ausspruch ihrer Mutter ein. Als Alice zum ersten Mal Liebeskummer gehabt hatte, war ihre Mutter mit einem riesigen Strauß Margeriten von der Arbeit nach Hause gekommen und hatte ihrer Tochter erklärt: »Blumen heilen ein gebrochenes Herz!« Kurz entschlossen betrat Alice nun den neuen Blumenladen hinter der Butler Street und ging lächelnd auf die Theke zu.

»Guten Morgen!« Ein Mann mit schulterlangen braunen Haaren, die er hinter die Ohren gesteckt hatte, trat aus dem Hinterzimmer. »Was kann ich für Sie tun?«

»Pfingstrosen«, erwiderte Alice und betrachtete die elegant gebundenen Sträuße aus exotischen Blumen. »Ich weiß, dass das nicht die richtige Jahreszeit ist, aber haben Sie welche?«

»Im Treibhaus sind sie immer zu bekommen.« Er führte sie zu einer Nische hinten im Laden, wo ein grüner Plastikeimer voller weiß-rosafarbener Pfingstrosen stand, die unterschiedlich weit aufgeblüht waren. »Ich habe sie heute Morgen frisch hereinbekommen und hatte noch keine Zeit, sie zu arrangieren.«

»Nicht nötig«, erklärte Alice. Pfingstrosen waren Laurens Lieblingsblumen gewesen. »Ich nehme sie alle.«

Zehn Minuten später verließ sie den Laden mit zwei Dutzend in Plastikfolie verpackten Pfingstrosen. Außerdem hatte sie noch eine überdimensionierte Glasvase erstanden und einen Dauerauftrag für die wöchentliche Lieferung von Pfingstrosen erteilt, worüber sich der Mann so gefreut hatte, dass er ihr für die Vase nichts berechnet hatte. Alice atmete tief den Duft der Blumen ein, als sie die drei Häuserblocks zum Blue Shoes ging.

Maggie war bereits da und ordnete die Belege zu ordentlichen Stapeln.

»Oh, wie hübsch!«, rief sie aus und kam angelaufen, um ihr die große Tüte mit der Vase abzunehmen. Sie steckte die Nase in die Blumen. »Ah ja, ich verstehe.«

»Wir bekommen sie jetzt jede Woche für sie«, sagte Alice.

»Das ist eine Super-Idee, Alice.« Maggie sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. »Du bist eine so tolle Freundin, und ich war wirklich ekelhaft.« Alice konnte es nicht leiden, wenn man sie beim Hereinkommen gleich mit irgendetwas überfiel, deshalb sagte sie ausweichend: »Hilf mir mal mit den Blumen.«

Maggie ging zum Bad hinten im Laden und ließ Wasser in die Vase laufen. Mühsam schleppte sie das schwere Gefäß wieder in den Laden. »Wo soll ich sie hinstellen?«

»Erst mal auf die Theke«, erwiderte Alice. »Vielleicht lassen wir uns in diesem Laden mit den schmiedeeisernen Sachen auf der Bergen Street einen Sockel machen.«

Maggie stellte die Vase vorsichtig auf die blassgrüne Theke. Gemeinsam arrangierten sie die Blumen zu einem üppigen, prachtvollen Strauß. Der Duft verursachte Alice Übelkeit, aber sie kümmerte sich nicht darum. Als sie an den zarten Blütenblättern schnupperte, dachte sie an die Babys in ihrem Bauch und fühlte einen Hauch von ihrem früheren Glück zurückkehren.

»Ich liebe Simon immer noch.«

»Das überrascht mich nicht, Mags. Aber ich dachte, du hättest eine Entscheidung getroffen.«

»Ja, habe ich ja auch.«

Alice blickte Maggie abwartend an. Sie sah ihr an, dass es noch mehr zu sagen gab.

»Weißt du, Alice, wir schlafen ab und zu miteinander.«

Das war ja tatsächlich eine Neuigkeit. »Aber ihr seid doch geschieden.«

»Nein, eigentlich nicht.« Maggie verzog das Gesicht zu einem schelmischen Grinsen.

»Aber du hast doch gesagt…«

»Ich habe dir gesagt, dass die Papiere da sind. Wir haben sie einfach nie unterschrieben.«

Plötzlich wurde Alice alles klar. In ihrem typischen Mangel an Disziplin hatte Maggie mit Simon Geheimnisse geteilt, um ihn weiter an sich zu binden. Dinge, die ihm vermutlich ziemlich gleichgültig waren, wie das Geschlecht von Laurens Baby. Wie ein Spion hatte Maggie Ivy an Simon weitergegeben, und er wiederum hatte es Tim erzählt. Das ergab Sinn. Maggies und Simons Leidenschaft hatte sich noch nie nur auf sie beide beschränkt, sondern schon immer harmlose Außenstehende mit hineingezogen.

»Ich verstehe«, sagte Alice ruhig.

»Ich konnte nicht anders. Ich wollte es ihm nicht erzählen, es ist mir einfach so herausgerutscht. Und ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass mich die Polizei danach fragen würde.«

Der Gedanke daran, dass Maggie der Polizei alles hatte erklären müssen, schien Bestrafung genug, und für den Augenblick ließ Alice alles auf sich beruhen.

Im Laufe des Morgens allerdings wuchs in ihr die Wut darüber, dass Maggie diesen wichtigen Punkt verschwiegen hatte. Kein Wunder, dass Frannie und Giometti dieselben Aussagen noch einmal hatten hören wollen. Sie zweifelten an der Glaubwürdigkeit der Freunde.

Vielleicht hatten sie ja Recht, dachte Alice, als sie um kurz nach eins nach Hause ging. Sie hatte Lebensmittel eingekauft, und die Griffe der schweren Plastiktüten schnitten ihr in die Handflächen. Es bereitete ihr zunehmend Mühe, die Einkäufe zu tragen, aber heute hatte sie das Gefühl, die Unannehmlichkeiten verdient zu haben, weil sie Frannie dazu gedrängt hatte, ihren Freund Tim zu überprüfen. Und dabei war alles ganz einfach zu erklären gewesen. Alice fühlte sich verraten, sowohl von Maggie als auch von sich selbst.

Sie bog in die President Street ein, holte tief Luft und marschierte weiter. Je näher sie ihrem Häuserblock kam, desto dichter wurde der Verkehr. Sie hörte Autos hupen, und sie bemerkte, dass heute mehr Stau war als sonst. Und dann fiel es ihr ein: Natürlich, ihr neuer Vermieter zog heute ein, und seine Möbelwagen versperrten vermutlich die Straße.

Sie stieg die Stufen zur kühlen Eingangshalle hinauf, stellte die Einkaufstüten vor ihre Wohnungstür und rief die breite Treppe hinauf: »Hallo?«

Sofort ertönten polternde Schritte, und ein dicker Mann kam die Treppe herunter. Er trug eine zu Shorts abgeschnittene graue Trainingshose, aus der seine Beine dick und bleich mit vereinzelten schwarzen Haaren herausragten. Sein verschwitztes weißes Achselunterhemd wölbte sich über seinen Kugelbauch. Die lockigen schwarzen Haare waren offensichtlich gefärbt, und sein Gesicht war aufgedunsen und schlaff. Was Alice aber am meisten überraschte, war seine Brille. Sie war trendy auf eine Art, die überhaupt nicht zu ihm passte, minimalistische rechteckige Gläser in einer lila Fassung. Offenbar hatte er sich am Morgen nicht rasiert, aber das war verständlich, schließlich zog er heute um. Alice beschloss, sich zu zwingen, den Mann zu akzeptieren, auch wenn sie es vielleicht nur tat, um zu überleben.

Sie streckte die Hand aus: »Ich bin Alice Halpern.«

Er schüttelte ihr die Hand, ohne sich vorher den Schweiß abzuwischen, aber sie lächelte tapfer weiter.

»Julius Pollack«, sagte er mit öliger Stimme, die sie seltsamerweise an gelben Lack erinnerte.

Auffordernd blickte er sie an.

»Mr. Pollack«, begann sie aufgesetzt selbstbewusst, weil sie seinem eindringlichen Blick etwas entgegensetzen musste, »ich weiß nicht, wie viel Ihnen Joey über unsere Lage berichtet hat. Wir hatten ihn gebeten, es Ihnen…«

»Er hat mir gesagt, Sie seien noch hier.« Julius Pollack lächelte steif, ein Plastiklächeln, das zu seinem gelackten Tonfall passte. Ihr wurde ganz mulmig zumute. »Und jetzt bin ich hier. Wir sind zusammen hier.«

Wieder starrte er sie an und wartete.

»Es kostet Zeit, ein Haus zu kaufen«, sagte sie. Dieses Lächeln. Sie kam sich ganz dumm vor.

»Wir haben Kinder«, erklärte sie. »Wir brauchen Platz. Und wie Sie sicher wissen, ist der Markt zurzeit…«

»Ich will keine Erklärung.« Sein öliger Tonfall war unerträglich süßlich geworden. »Nur die schriftliche Zusage, dass Sie vor Ende des Monats ausziehen.«

Blutsauger, hörte Alice Lauren sagen. Ich beginne diese Blutsauger zu hassen für das, was sie uns zumuten. Alice verabscheute diesen Mann, Julius Pollack, bereits aus ganzem Herzen, und dabei kannte sie ihn kaum. Dieser Mann, der sie in einem Monat aus dem Haus haben wollte; dieser Mann, dem sie ihre Lage erklären musste; den sie höflich bitten – nein: anbetteln – musste, damit er ihnen mehr Zeit ließ. Es war zu viel auf einmal – die Haussuche und der Verlust der geliebten Freundin. Lauren hätte seine Arroganz nicht toleriert. Sie hätte ihm schon die Meinung gesagt. Aber Alice war nicht Lauren. Sie stand nur sprachlos in der Eingangshalle, unfähig zu reagieren, während Julius Pollack sie einfach stehen ließ und durch die Eingangstür trat. Sie hörte, wie er den Möbelpackern zurief: »Bitte, seien Sie vorsichtig mit meinen Sachen!«

Sie trug die Tüten in ihre Wohnung. Auf dem Küchentisch lag eine Nachricht von Mike. Er war mit den Kindern ins Kino gegangen. Ohne sie war die Wohnung leer. Sie räumte die Lebensmittel weg und setzte sich in ihre stille Küche, die sich gar nicht mehr wie ihre Küche anfühlte. Nach fünfzehn Jahren kam ihr die Wohnung auf einmal nicht mehr wie ihr Zuhause vor. Es war Julius Pollacks Haus, das hatte er mit seiner Kündigung vollkommen klar gemacht.

Sie blickte auf den Notizblock, der auf dem Tisch lag, und ihr fiel ein, dass ihre Mutter ihr ja einen Termin bei der Maklerin gemacht hatte. Sie schlug die Seite auf, und es versetzte ihr einen Stich, als sie die runde Schrift ihrer Mutter sah. Montag, 10.00 Uhr, Pam Short, Garden Hill Realty, Treffen in ihrem Büro, Besichtigung von 3 Häusern. Pam Short war die Maklerin, von der Sylvie behauptete dass sie für jeden ein Haus finden würde. Alice hatte eigentlich nicht vorgehabt, den Termin einzuhalten – in ihrer wackeligen Gefühlslage hatte sie sich nicht vorstellen können, Häuser anzuschauen –, aber mittlerweile war ihr klar, dass sie gar keine andere Wahl hatte.

Sie konnte gegen den neuen Eigentümer nichts ausrichten. Ihr Vertrag war nicht mehr gültig, und es war sein Haus. Also griff sie zum Telefon und bestätigte den Termin, indem sie eine Nachricht auf Pam Shorts Anrufbeantworter hinterließ. So konnte sie es sich wenigstens nicht mehr anders überlegen.