KAPITEL 15
Alice setzte sich gegenüber vom Präsidium auf eine Treppe und wartete, bis sie erneut von den Ermittlern vernommen wurde. Ihr Termin war für zwölf Uhr mittags angesetzt, und es waren noch zehn Minuten bis dahin, aber sie wollte nicht drinnen warten, da sie wusste, dass Tim dort bei Frannie und Giometti war. Sie waren jeder im Stundenabstand bestellt worden und wurden verhört, als ob sie als Gruppe etwas damit zu tun hätten, dass Lauren tot und ihr Baby verschwunden war.
Alice stützte die Ellbogen auf die Knie, legte das Gesicht in die Hände und atmete bewusst langsam tief aus und ein. Die Straßengeräusche wurden leiser, und sie versetzte sich um dreißig Jahre zurück in das Schlafzimmer ihrer Mutter. Sie lag im Bett neben ihrer Mutter, aß ein Schälchen Eiscreme und sah fern. Vor zwei Wochen hatte ihr Vater sie verlassen wegen der Nutte mit Doktortitel. Im Bett ihrer Eltern drückte sie sich an die weiche Haut ihrer Mutter und versuchte, mit dem grausamen Verlust und dem Schmerz fertig zu werden. Sie aß Erdbeereis, und als etwas von ihrem Löffel auf das Kissen tropfte, sagte ihre Mutter nichts. Die Angst, die Alice bei ihrem Schweigen damals empfunden hatte, konnte sie heute noch spüren, dreißig Jahre später.
Sie dachte darüber nach, wie gefährlich Menschen lebten, wenn sie ihre Leben auf faule Kompromisse gründeten. Dann zogen sie an irgendeinem Faden in ihrer Lieblingsfarbe und zerstörten Stück für Stück den gesamten Teppich aus jahrelanger Liebe. Ihr Vater, der einfach so gegangen war. Ihre Mutter, die sich einen harten, glamourösen Hollywood-Panzer zugelegt hatte, aber trotzdem noch wusste, was wirklich zählte und für die Liebe ihrer Familie dankbar war.
Alice schüttelte den Kopf, um die quälenden Erinnerungen zu vertreiben. Es war fünf vor zwölf. Sie ging über die Straße und trat ein. Der wachhabende Beamte hinter der Theke überprüfte ihren Namen auf einer Liste und wies sie in den Wartebereich. Dieses Mal betrachtete sie die »Gesucht«-Plakate an den Wänden nicht; sie konnte es nicht ertragen, diese grässlichen, verzerrten, bedürftigen oder, schlimmer noch, durchschnittlichen Gesichter anzuschauen. Jeder von ihnen konnte Laurens Mörder sein, jeder von ihnen konnte Ivy in den Armen gehalten haben – oder auch nicht. Es war viel zu grausam, über die Möglichkeiten nachzudenken.
Alice stellte sich vor das Aquarium und betrachtete die Fische, die durch die künstliche Korallenlandschaft schwammen. Ein Fisch versteckte sich hinter einem versunkenen Piratenschiff aus Plastik. Das Aquarium war peinlich sauber – offensichtlich kümmerte sich jemand sehr gewissenhaft darum.
Sie hörte eine vertraute Stimme und drehte sich um. Tim kam durch die Halle. Er war in Begleitung eines großen Mannes in Anzug und Krawatte, vermutlich ein Anwalt. Als er sie sah, verstummte er. Sie winkte, und er erwiderte den Gruß, aber das war schon alles. Der Mann der bei ihm war, musterte sie kurz, dann hob er arrogant das Kinn und dirigierte Tim aus der Tür.
Alice sah ihnen nach. Sie fröstelte. Was war passiert? Hatten Frannie und Giometti ihm gesagt, dass sie seine Bemerkung über das Geschlecht des Babys weitergegeben hatte? Hatten sie ihm gesagt, er solle ihr nicht trauen? Konnten die Freunde einander überhaupt noch trauen? Standen sie jetzt alle unter Mordverdacht?
»Alice.« Giomettis leise Stimme erschreckte sie. »Kommen Sie bitte mit.«
Er führte sie nach oben in das Vernehmungszimmer, wo Frannie wartend am Tisch saß.
»Hi, Alice«, sagte sie herzlich, »setzen Sie sich.«
Alice wehrte sich gegen das Gefühl, mit Frannie befreundet zu sein. Das war sie nicht. Hier handelte es sich schlicht um eine Vernehmung.
Das Zimmer war nur schwach beleuchtet. Wie beim letzten Mal waren die Jalousien heruntergelassen. Giometti setzte sich neben Frannie, die sich vorbeugte, um das Aufnahmegerät einzuschalten. Sie gab Datum und Zeit an und die Namen der Anwesenden. Dann blickte sie Alice direkt an.
»Die Fragen heute sind hauptsächlich Routine.«
»Okay.«
Sie fragten sie, wo sie letzten Freitag, als Lauren verschwunden war, gewesen war. Alice wiederholte alles, was sie bereits gesagt hatte, so detailgetreu wie möglich. Sie erinnerte sich an jenen Tag, als sei er ein Juwel, von einem Scheinwerfer angestrahlt auf einer dunklen Bühne. Sie erinnerte sich daran, wie sie im Park auf Lauren gewartet hatte, an ihre wachsende Gewissheit, dass Lauren das Baby bekommen hatte, an ihre Vorfreude auf Ivy. Rückblickend konnte sie es nicht fassen, wie hoffnungsvoll sie an jenem Nachmittag gewesen war. Sie erinnerte sich daran, wie sie mit allen vier Kindern die Court Street entlanggegangen war. Die Geschichte dieses Tages endete mit der Erinnerung daran, wie sie sich in jener Nacht und den Nächten danach schlaflos im Bett wälzte, bis sie dann schließlich den Autounfall gehabt hatte. Aber das erwähnte Alice nicht mehr. Sie sagte einfach nur: »Ich bin ins Bett gegangen.« Und damit war sie mit ihrem Bericht am Ende. Frannie warf einen Blick auf die Wanduhr, dann gab sie die Zeit an und schaltete den Recorder ab.
»Danke.« Giometti erhob sich halb und streckte Alice die Hand entgegen.
»Ist das alles?«, fragte Alice.
»Sie sind fertig.«
»Darf ich etwas fragen?«
Frannie lächelte. »Nur zu.«
»Was ist hier drin gerade mit Tim passiert?«
Giometti warf Frannie einen Blick zu. Dann antwortete er: »Es tut mir Leid, aber darüber dürfen wir Ihnen keine Auskunft geben.«
Alice blickte in Frannies dunkle Augen. »Was hat er Ihnen über das Baby gesagt? Woher wusste er, dass es ein Mädchen ist? Was hat Dr. Rose Ihnen gesagt? Haben Sie überhaupt mit ihr gesprochen?«
»Ja, wir haben mit Dr. Rose gesprochen«, erwiderte Frannie.
»Und?«
»Ich sage Ihnen was.« Frannie stand auf und ging um den Schreibtisch herum, um Alice zur Tür zu begleiten.
»Wenn Sie wissen wollen, wie Tim herausgefunden hat, dass das Kind ein Mädchen ist, fragen Sie Ihre Freundin Maggie.«
Als Alice aus dem Präsidium heraustrat, kam ihr Maggie auf der Union Street entgegen, ein wenig zu spät für ihren Termin. Sie trug einen engen gelben Rock, der kurz über ihren Knien endete, und taubengraue Wildlederschuhe mit hohen Absätzen, die gestern erst in den Laden geliefert worden waren. Der Anblick irritierte Alice.
»Ich hoffe, du hast sie bezahlt«, rief sie ihr entgegen.
»Was?« Maggie beschleunigte ihre Schritte nicht. »Was ist los, Alice?«
»Ich bin ein bisschen durcheinander. Vor einer Stunde ist Tim hier in Begleitung eines Anwalts herausgekommen.«
»Ich verstehe. Und wenn ich meine Schuhe bezahle, ist das leichter zu ertragen?«
Alice nahm all ihren Mut zusammen. »Mags, hast du Tim von Ivy erzählt?«
»Dass sie ein Mädchen ist?«
Alice nickte.
Die Sonne verschwand hinter einer Schleierwolke, und im klaren Licht warf Maggie einen Blick auf ihre eleganten Füße.
»Sind sie nicht wunderschön?« Sie küsste Alice auf die Wange.
»Ja, natürlich habe ich sie bezahlt, mit unseren üblichen Prozenten, wie vereinbart.« Zwinkernd stieg sie die Treppe hinauf.
»Ja, und?«, fragte Alice.
Maggie blieb stehen und blickte sich um. Ihr Gesicht wurde ernst. »Das wird ein längeres Gespräch. Ich bin den ganzen Tag bei Ethan. Lass uns morgen früh im Laden reden, während wir die Belege fertig sortieren. Martin hat übrigens schon drei Nachrichten auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Wir müssen endlich die Quartalsabrechnung machen.« Mit diesen Worten trat sie durch die offene Tür und verschwand.