KAPITEL 32
Mike setzte die Kinder an der Schule ab und fuhr in die Werkstatt. Um elf Uhr schloss Alice zusammen mit Dana das Blue Shoes auf. Kurz nach zwei signalisierte man ihnen, die Luft sei rein, und sie fuhren rasch in die Wohnung in der President Street, um Kleider, Spielzeug und ein paar andere Dinge zusammenzupacken. Sylvie hatte sich einverstanden erklärt, die Kinder von der Schule abzuholen, für den Fall, dass Alice nicht rechtzeitig da sein konnte.
»Das ist er«, flüsterte Dana Alice zu, als sie an einem grauen Ford vorbeikamen, der vor dem Haus geparkt war. Ein einzelner Mann mit einer Yankees-Kappe saß darin und tat so, als ob er Zeitung läse. »Er« war natürlich der Polizist, der das Haus beobachtete, aber er blickte nicht auf, als die beiden Frauen die Treppe hinaufliefen und eintraten.
Sie waren erst wenige Tage weg, doch das Haus wirkte auf unheimliche Weise verlassen. Alles stand genau, wo es gestanden hatte, als sie so überstürzt gegangen waren. In der Spüle lag schmutziges Geschirr, Alices halb voller Teebecher stand auf der Theke beim Telefon. Überall lag Spielzeug herum.
Alice blickte auf die Uhr. »Wie viel Zeit haben wir denn?«
»So viel Sie brauchen.« Dana setzte sich an den Küchentisch und wartete.
Alice zwang sich, das schmutzige Geschirr und auch den Müll, der bereits zu stinken begann, zu ignorieren. Sie ging direkt nach unten, packte Kleider für alle, einen Stapel Kinderbücher, die Nell noch nicht gelesen hatte, und eine kleine Tasche mit Peters Lieblingsautos und Action-Figuren. Als sie nach oben kam, machte Dana ein komisches Gesicht.
»Was ist?«, fragte Alice.
»Pst.« Dana lauschte angestrengt, und jetzt hörte es auch Alice. Über ihnen waren Schritte zu hören.
»Er ist zu Hause«, flüsterte Alice. »Er sollte doch gar nicht zu Hause sein.«
»Er ist gerade zurückgekommen. Kommen Sie, wir müssen weg hier. Leise.«
Als sie durch das Wohnzimmer schlichen, fiel Alices Blick auf Judy Gerstens Pfingstrosenkissen, das sie auf die Couch gelegt hatte. Rasch stopfte sie es in die Tasche. Es war vielleicht die letzte Chance, es noch mitzunehmen. Sie wollte es im Blue Shoes zur Erinnerung an Lauren zu den Pfingstrosen legen, damit es so eine Art Altar wurde.
Dana öffnete die Wohnungstür so vorsichtig wie möglich und Alice folgte ihr in die Eingangshalle. Abgesehen von den Schritten war alles still. Dann verstummten auch die Schritte, und oben weinte wieder das Baby.
Alice warf Dana einen eindringlichen Blick zu, als wolle sie sagen: Hörst du das auch? Das musst du doch hören! Da oben schreit ein Baby.
Aber Dana schüttelte den Kopf. Nicht jetzt, formte sie mit dem Mund und ging zur Haustür.
Doch, genau jetzt, dachte Alice. Wann sonst? Die Polizei hatte immer noch nichts unternommen, und soweit Alice wusste, gab es auch noch keinen Durchsuchungsbefehl für Pollacks Wohnung.
Aber jetzt war sie hier. Und das Baby schrie genau über ihren Köpfen.
Alice stellte ihre Reisetaschen ab und wandte sich zur Treppe.
»Halt!«, zischte Dana. »Sie verderben alles, wenn Sie jetzt dort hinaufgehen. Überstürzen Sie nichts.«
Aber Alice war bereits auf halbem Weg die Treppe hinaufgeeilt, und Dana blieb nichts anderes übrig, als ihr hinterherzulaufen. »Nein, Alice! Lassen Sie uns…«
Keuchend stand Alice vor Pollacks Wohnungstür und hämmerte mit den Fäusten dagegen. Die Tür öffnete sich und Julius stand vor den Frauen, in seinem weißen, ärmellosen Unterhemd. Seine Haare waren völlig zerzaust, und er sah elend aus. Die rechteckige lila Brille hing ihm halb auf der Nase.
Böse musterte er sie. »Was tun Sie in meinem Haus?«
Das Babygeschrei hinter ihm war jetzt lauter, aber auch irgendwie irrealer. Alice hörte eine Frauenstimme ein Schlaflied summen. Das Baby beruhigte sich und das Geschrei ließ nach.
Dana stand neben Alice, die Pistole in der Hand, und zielte auf Julius Pollacks schäbige Küche. Auf einem weißen Kunststofftisch stapelten sich Post und Zeitungen. Überall standen Kisten. Hinter dem Tisch stand neben einer alten, tiefen Porzellanspüle eine Schneiderpuppe mit üppigen Maßen. Sie war in viele verschiedene, nicht zueinander passende Frauenkleider gekleidet, und davor standen die silbernen Schuhe, die Alice in jener Nacht, als sie das Baby zum ersten Mal hatte schreien hören, an Julius gesehen hatte.
Auf einer freien Stelle auf dem Tisch stand ein Teller mit einem angebissenen Sandwich. Julius war offensichtlich gerade beim Essen gewesen, als sie an die Tür geklopft hatte. Auf einer Theke gegenüber dem Tisch stand ein Fernseher. Julius hatte beim Essen ferngesehen. Über den Bildschirm flimmerten Szenen eines Home-Videos. Das winzige, rosa Gesicht eines Babys in den Armen einer Frau, die nicht auf die Kamera achtete. Eine Nahaufnahme ihrer Fingerspitze, die das Gesichtchen des Babys streichelte, als es sich beruhigte. Dann Julius’ Stimme, entspannt und zufrieden, die sagte: »Sie schläft schon. Lass sie einfach in Ruhe.«
Alice erkannte das Babygeschrei, das zu einem leisen Wimmern wurde. Sie hatte diese Laute Ivy zugeschrieben, aber jetzt merkte sie, dass es genau die Töne waren, mit denen Säuglinge sich selbst in den Schlaf weinten. Sie hatte etwas anderes darin hören wollen.
Es war nicht Ivy. Es war ein anderes Baby. Möglicherweise sogar Pollacks eigenes Kind, nach dem er sich in seiner einsamen Wohnung sehnte.
»Was zum Teufel«, sagte Pollack. Sein Tonfall war leise und beherrscht.
»Entschuldigen Sie, bitte«, erklärte Dana verlegen. »Alice, entschuldigen Sie sich bitte bei dem Herrn.«
»Es tut mir Leid«, sagte Alice.
»Nein, das stimmt nicht«, erklärte Julius. Er hatte Mayonnaise auf der Oberlippe. »Aber es wird Ihnen noch Leid tun.«