KAPITEL 33

Rasch gingen Dana und Alice die President Street hinauf. Der Himmel hatte sich bewölkt. Es sah nach einem Gewitter aus.

»Was haben Sie sich bloß dabei gedacht?« Danas Ton war streng; sie gab noch nicht einmal mehr vor, Alices Freundin zu sein.

»Ich habe gedacht, dass dort oben ein Baby sei, das meine Hilfe braucht.«

»Und wenn dort wirklich eines gewesen wäre? Warum hätte es gerade Ihre Hilfe brauchen sollen?«

»Weil ich es gehört habe«, erwiderte Alice, »deshalb wollte ich ihm auch helfen.«

»Sie hätten die Ermittlungen ernsthaft gefährden können. Ist Ihnen das eigentlich bewusst?«

Alice nahm ihre schwere Tasche in die andere Hand. »Ich konnte nicht anders handeln.«

»Warum nicht? Ich habe Ihnen doch ausdrücklich verboten, nach oben zu gehen.«

»Ich bin eine Mutter, darum.«

Sie bogen auf die Smith Street ein, und der Spielplatz kam in Sicht. Sie konnte Nell auf der Rutsche erkennen. Peter wurde auf der Schaukel von Sylvie angeschubst. Sie wünschte, sie könnte in den Park laufen, ihre Kinder küssen und mit Sylvie über irgendwelche Belanglosigkeiten sprechen. Aber sie musste diese Sache zu Ende bringen; sie musste ihr Verhalten Dana begreiflich machen. Und sie musste sich selbst klar machen, dass das Babygeschrei, das sie verfolgt hatte, nicht Ivy gewesen war, sondern eine liebe Erinnerung des Mannes, den sie verabscheute. Eines Mannes, den sie für unfähig gehalten hatte, menschliche Wärme zu empfinden, der aber offenbar eine Vergangenheit hatte, in der es Liebe und Verlust gegeben hatte. Alice hatte auf einmal das Gefühl, über vieles nachdenken zu müssen. Mit ruhiger Stimme sagte sie zu Dana: »Wenn Sie selbst einmal Mutter sind, werden Sie mich verstehen.«

»Oh, bitte, kommen Sie mir bloß nicht damit!«

Es ist aber so, dachte Alice, doch sie schwieg. Das Leben als Mutter verwandelte einen, und jemand, der diese Erfahrung nicht gemacht hatte, konnte sie auch nicht nachvollziehen. Das konnte sie Dana nicht begreiflich machen, das war ein hoffnungsloses Unterfangen.

»Ich hätte nicht hinaufgehen sollen«, sagte Alice. »Sie haben mir gesagt, ich sollte nicht gehen, und ich habe es trotzdem getan.«

»Ganz genau«, sagte Dana. »Sie haben eine einstweilige Verfügung gegen Julius Pollack erwirkt und sind geradewegs in seine Wohnung marschiert. Frannie wird stinksauer sein!«

»Aber ich habe ein Ergebnis für sie«, sagte Alice.

»Und was bitte?«, fragte Dana.

»Das Baby, das ich gehört habe, war noch nicht einmal real.« Dana verzog das Gesicht. »Wir wussten, dass es da oben kein Baby gab. Glauben Sie, Frannie hat das nicht überprüfen lassen?

Es beweist nur, dass Sie sich das Geschrei nicht eingebildet haben.«

Alice blickte sie erstaunt an. »Aber sie wusste doch, dass mich das Babygeschrei wahnsinnig gemacht hat. Warum hat sie mir das denn nicht gesagt?«

Zögernd antwortete Dana: »Julius Pollack hatte eine Frau und eine kleine Tochter. Sie kamen vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben.«

Alice sah das winzige Gesicht des Babys vor sich, das sich unter der zarten Berührung der Mutter beruhigte. Julius’ halb gegessenes Sandwich in der einsamen Wohnung. Seine Wutausbrüche.

»Es hätte mir geholfen, wenn sie es mir gesagt hätte«, erwiderte Alice leise.

»Ja, wir haben darüber gesprochen«, sagte Dana. »Frannie wollte Ihnen natürlich helfen, aber sie ist Polizistin. Die Ermittlungen gehen vor.«

»Ja.« Alice dachte an Frannies Worte. Wir mussten Sie auf die Probe stellen, Alice.

Sie starrten einander schweigend an. Vom polizeilichen Standpunkt aus hatte Dana natürlich Recht, und Alice war klar, dass sie sich dem beugen musste.

»Es tut mir Leid«, sagte sie.

Dana lächelte schief. »Ich würde es ja für mich behalten, aber Hank hat Sie hineingehen sehen.« Hank. Der Mann in dem grauen Ford.

»Glauben Sie, er wird es ihr sagen?«

»Ich weiß, dass er das tun wird«, erklärte Dana. »Vermutlich hat er sie bereits informiert.«

Ein rascher Anruf bei Frannie bestätigte ihre Vermutung. Aber dass Dana auf einmal so alarmiert wirkte, konnte nicht an einem beruflichen Verweis liegen. Sie beendete das Gespräch, nahm Alice am Ellbogen und schob sie die President Street in Richtung Court entlang, vom Spielplatz weg.

»Warten Sie! Ich muss meine Kinder abholen.«

»Hat die Babysitterin ein Handy?«

»Ja, aber…«

»Rufen Sie sie an und sagen Sie ihr, sie soll die Kinder zu Simons Haus bringen. Wir gehen auf direktem Weg dorthin.« Dana nahm Alices Taschen, damit sie ihr Handy aus ihrer Handtasche holen konnte. Als sie Sylvies Nummer wählte, konnte sie das Handy auf dem Spielplatz klingeln hören und sah, wie Sylvie den Anruf annahm.

»Sylvie, ich bin es, Alice.« Sie versuchte, so ruhig wie möglich zu klingen, konnte aber die Angst in ihrer Stimme nicht verbergen. »Ich musste meine Pläne ändern. Können Sie die Kinder bitte direkt zu Simon bringen?«

»Klar«, erwiderte Sylvie. »Soll ich sie jetzt gleich rüberbringen? Es sieht nach Regen aus.«

»Ja, wir sehen uns dann da.« Alice beendete den Anruf und steckte ihr Handy wieder in die Tasche. »Was ist los, Dana? Sagen Sie es mir!«

Der Himmel bewölkte sich jetzt rasch.

»Frannie sagt, Pollack ist durchgeknallt. Er hat alle möglichen Leute angerufen und ihnen gesagt, dass die Bullen unrechtmäßig in sein Haus eingedrungen sind. Dann ist er aus dem Haus gerannt.«

»Wo ist er?«

Dana schüttelte den Kopf. Sie wusste es nicht.

»Ist Hank ihm gefolgt?« Alice bemühte sich, mit Dana Schritt zu halten. Ihr Körper fühlte sich schwerfälliger denn je an.

»Heute waren Sie sein Auftrag«, erwiderte Dana. »Wir haben zu wenig Personal, Alice, aber wir tun unser Bestes, vertrauen Sie mir.«

»Können Sie Julius nicht festnehmen?« Alice rang nach Luft, Dana ging viel zu schnell. »Er hat mich bedroht. Reicht das nicht aus?«

Die Antwort darauf war Danas Zögern. Ohne einen soliden, überprüfbaren Grund konnte Pollack nicht festgenommen werden.

In diesem Augenblick öffnete der Himmel sämtliche Schleusen, und ein Wolkenbruch setzte ein. Alice wäre am liebsten sofort umgekehrt, um die Kinder abzuholen. Sie würden pitschnass werden, und sie wollte sie heil nach Hause bringen.

»Ich gehe die Kinder holen.« Alice drehte sich um. »Sie werden ja ganz nass.«

Und wenn Julius Pollack ihnen am Spielplatz auflauerte?

»Alice!«, schrie Dana. »Die Babysitterin soll sie nach Hause bringen; wahrscheinlich sind sie sowieso schon auf dem Weg. Frannie erwartet uns vor Simons Haus, wenn sie schon aus New Jersey zurück ist. Kommen Sie!«

Da sie erst vor einer halben Stunde nicht auf Dana gehört und dadurch so dramatische Ereignisse heraufbeschworen hatte, beschloss Alice, ihr dieses Mal zu gehorchen. Sie hatte ja Recht: Sylvie war durchaus in der Lage, die Kinder nach Hause zu bringen, und es wäre sicher klug, wenn Alice schon da wäre, wenn sie kamen. Dann konnten sie absperren und drinnen in aller Ruhe abwarten, bis man Julius gefunden hatte. Abwarten, bis das alles hier endlich ein Ende hatte.

»Warum ist Frannie in New Jersey?«, fragte Alice, während sie durch den strömenden Regen liefen. »Was macht sie da so häufig?«

»Später«, antwortete Dana.

Blitze zuckten und Donner grollte. Es war eines dieser typischen Sommergewitter, die genauso plötzlich vorbei sind, wie sie angefangen haben. Als sie an Simons Brownstone ankamen, hatte es aufgehört zu regnen, und um sie herum war es unheimlich still. Und auf Simons Vorderfenster hatte jemand mit dem Finger geschrieben:

HÖR AUF, SONST SIND SIE DIE NÄCHSTEN Dana hatte die Schlüssel und öffnete bereits die Haustür. Aber Alice verharrte regungslos. Sie stand auf Simons Treppe und starrte den Satz an, der auf das nasse Glas gekritzelt war. Ihre Hände glitten wie von selbst unter ihr durchnässtes T-Shirt und strichen über die straff gespannte Haut ihres Bauches.