KAPITEL 40

Julius Pollack«, klärte Frannie sie auf. »Wir haben vor einiger Zeit eine Schriftprobe von ihm genommen.«

»Es war also doch Julius?« Alice blickte Mike an. »Julius und Sylvie? Vielleicht war Ivy wirklich eine Zeit lang in seiner Wohnung, vielleicht war es nicht nur das Video.«

»Darüber wissen wir noch nichts Konkretes«, belehrte Dana sie. »Zum jetzigen Zeitpunkt sollten wir keine Hypothesen aufstellen.«

»Dana hat Recht.« Frannie schlug die Beine übereinander.

»Die Fingerabdrücke am Tatort werden noch untersucht.«

Aber Alice bekam den Gedanken nicht aus dem Kopf. Waren Julius und Sylvie gemeinsam an Laurens Tod beteiligt? Irgendwie ergab es Sinn: der ältere Mann, zynisch und reich, und die naive, junge Frau.

Mike marschierte mit geballten Fäusten durch die Küche. »Ich bringe ihn um.«

»Schscht!«, sagte Alice. »Die Kinder!« Sie spielten nebenan mit Ethan. Maggie und Simon passten auf sie auf.

»Ich kann verstehen, was Sie empfinden«, sagte Frannie zu Mike. Um ihre Mundwinkel hatten sich tiefe Falten eingegraben, die das junge Gesicht um Jahre gealtert erscheinen ließen. »Aber das brauchen Sie nicht selbst zu machen, Mike. Wenn Pollack schuldig ist, dann wird sich das FBI schon damit befassen.«

Sie blickte auf die Uhr und stürzte ihre dritte Tasse Kaffee hinunter. Dann verkündete sie: »Ich fahre jetzt aufs Revier. Es gibt viel zu tun. Dana bleibt hier.«

»Bis später, Chefin!« Dana salutierte vor der anderen Frau. Frannie lächelte, und auf einmal sah sie wieder sehr jung aus.

Sie zeigte auf einen Beamten an der Tür. »Nestor fährt mich, aber Rula steht immer noch draußen.«

Es erschien Alice absurd, dass Dana immer noch bei ihnen bleiben musste – Sylvie war weg und Pollack in Haft –, aber sie verstand doch, dass das gesamte Gebilde wesentlich komplizierter war und sie immer noch nicht genau wussten, was eigentlich passiert war.

Am späten Abend – sie hatten sich thailändisches Essen nach Hause bestellt und zwei Flaschen Wein getrunken, nur Alice hatte zu ihrem Bedauern verzichten müssen – erhielt Dana weitere Neuigkeiten. Die erste kam herein, als die vier Eltern oben gerade dabei waren, die Kinder ins Bett zu bringen. Alice und Mike kuschelten mit Nell und Peter im Gästezimmer auf dem Doppelbett. Allerdings würden die Kinder später mit ihren Schlafsäcken auf dem Boden schlafen, damit ihre Eltern eine ungestörte Nacht verbringen konnten. Maggie und Simon brachten in der Zwischenzeit Ethan ins Bett und waren vor Alice und Mike schon wieder im Wohnzimmer. Als die beiden gähnend die Treppe herunterkamen, rief Maggie ihnen die Nachricht entgegen.

»Sie hat es geschafft! Sie ist uns entwischt!« Sie klang wütend.

»Sylvie?«, fragte Mike.

»Ja, es sieht so aus«, antwortete Simon.

»Was ist passiert?« Alice wandte sich an Dana, um eine verlässliche Auskunft zu bekommen.

Dana saß auf dem Klavierhocker, die Beine in der Lotusposition verschränkt. »Frannie hat mich gerade angerufen. Danny hat sie im Zug zum John-F.-Kennedy-Flughafen verloren, aber jetzt haben wir einen Augenzeugen, der sie am Air-France-Schalter gesehen hat.«

»Also hat sie das Land verlassen«, sagte Alice.

»Jemand hat sie angerufen und ihr gesagt, dass das Tatfahrzeug entdeckt worden ist.« Mikes Augen glänzten in seinem blassen Gesicht. »Der zweite Anruf heute im Park.«

»Der Anruf hat ihr Angst eingejagt«, warf Alice ein.

»Sie musste weg.«

»Und deshalb ist sie zurück nach Frankreich geflogen, wo man sie nicht ohne weiteres ausliefert«, ergänzte Simon.

Dana hörte ihnen zu, schwieg aber. Schließlich sagte sie:

»Frannie und Paul geben in ein paar Minuten eine Pressekonferenz. Dann können Sie alle Fakten erfahren.«

Sie gingen nach oben, und Simon schaltete den Fernseher ein. Die meisten Lokalsender hatten sich zu der Pressekonferenz zugeschaltet. Frannie und Giometti standen vor der blau gefliesten Polizeiwache, vor sich das unvermeidliche Gewirr von Mikrophonen. Sie sahen beide todmüde aus.

»Heute Nachmittag haben wir eine Suchmeldung für zwei Kinder herausgegeben, die offenbar in Brooklyn von ihrem Babysitter entführt wurden. Die Kinder wurden mittlerweile gefunden und sind jetzt wieder zu Hause. Der Babysitter heißt Sylvie Devrais. Von Ms. Devrais fehlt bisher jede Spur.«

Ein Foto von Sylvie erschien auf dem Bildschirm. Sie so, als Verdächtige, zu sehen, beraubte sie der süßen Unschuld, die Alice immer in ihr gesehen hatte. Dann kamen die beiden Ermittler wieder ins Bild und erklärten, sie werde wegen Mordes gesucht und habe möglicherweise einen Komplizen.

»Wir haben eine Liste von Verdächtigen, die Sylvie Devrais unter Umständen geholfen haben, aber ohne relevante Beweise werden wir niemanden festnehmen.«

Alice las zwischen den Zeilen. Frannie hatte ihre Worte sorgfältig gewählt: wir werden nicht statt wir können nicht. Freier Wille statt Hilflosigkeit. Als Frannie auf die nächste Frage eines Reporters antwortete, wurde noch deutlicher, wie genau sie kalkulierte, was sie der Presse sagte.

»Ich habe gehört, dass JFK abgeriegelt wurde. Es kommen weder Flüge an, noch gehen welche raus. Wie lange soll das anhalten?«, fragte ein Reporter.

»So lange wie nötig«, erwiderte Frannie. Schärfer fügte sie hinzu: »Wir suchen nach einem Mörder.«

»Was ist mit Tim Barnet?«

Frannie zögerte den Bruchteil einer Sekunde, also musste irgendetwas mit Tim sein.

»Tim Barnet ist einer der vielen, mit denen wir gesprochen haben«, erwiderte Frannie. »Aber wir haben keine Veranlassung, ihn mehr als jeden anderen zu verdächtigen.«

»Er hat die Stadt verlassen.«

»Wir stehen in engem Kontakt zu ihm«, erwiderte Frannie eine Spur zu schnell.

Hatte der Mann, der Tim überwachte, ihn etwa auch verloren? War mit Austin alles in Ordnung? Alice spürte schon wieder die ersten Vorboten der Schlaflosigkeit. Sie würde heute Nacht gar nicht erst versuchen zu schlafen, dachte sie. Solange Frannie auf dem Revier war, würde sie auch wach bleiben, um sofort Neuigkeiten zu erfahren.

»Was ist mit Simon Blue?«, fragte eine Reporterin.

»O nein, das darf doch nicht wahr sein!«, heulte Simon, der zwischen Maggie und Mike auf der Couch saß, auf. »Hast du etwa jeden gegen mich aufgehetzt, Maggie?«

Lachend versetzte Maggie ihm einen Schlag aufs Knie.

»Wenn ich das nur könnte!«

»Ms. Devrais hat für ihn gearbeitet«, sagte Frannie in die Mikrophone, »deshalb gibt es im ganzen Haus Spuren von ihr, aber wir haben keinen Beweis dafür gefunden, dass er in diesen Fall involviert ist.«

»Da hast du verdammt Recht!«, rief Simon aus.

»Gibt es eine Spur des Geldes? Wie passt Metro Properties in den Fall hinein?«, fragte ein Reporter.

»Wir haben alle Konten von Metro Properties überprüft.« Ein Lichtstrahl blendete Frannie kurz, und sie beschattete die Augen mit der Hand. Dann fuhr sie fort: »Es gibt keinen Hinweis darauf, dass jemand eine außergewöhnlich große Summe Geld erhalten hat. Wir konnten nichts Ungewöhnliches feststellen. Wir haben allerdings…«, hier zögerte sie, »keine Bankkonten von Sylvie Devrais finden können.«

»Dann ist der Babyhandel also…«

»Das wissen wir nicht«, unterbrach Frannie den Reporter. Über dieses Thema ärgerte sie sich offensichtlich. Es war eine der vielen Hypothesen, die Erin Brinkley als Erste mit ihren Artikeln ins Spiel gebracht hatte. »Wir arbeiten mit Beweisen und geben uns nicht mit Vermutungen ab.«

»Noch eine Frage…«, rief eine Reporterin, wurde jedoch von einer lauteren Stimme übertönt: »Was für eine Verbindung besteht zwischen Sylvie Devrais und Julius Pollack?«

Frannie kniff die Augen zusammen. »Nach unseren Erkenntnissen zurzeit überhaupt keine«, erwiderte sie.

»Was ist mit…«

Giometti trat vor und sagte: »Das ist alles für den Moment.« Sie drehten sich um und gingen in die Polizeiwache hinein. Simon schaltete den Fernseher mit der Fernbedienung aus, machte ihn aber sofort wieder an.

»Ich bin viel zu aufgedreht, um jetzt ins Bett zu gehen«, sagte er. »Ich sehe mir noch die Sportergebnisse an.«

»Ich mache uns eine heiße Milch, meine Damen«, erklärte Maggie. »Ich glaube, wir haben auch noch ein paar Ingwerplätzchen.«

Dana stand auf und reckte sich. »Ich fahre rasch zum Revier.

Wenn Sie etwas brauchen, wenden Sie sich an Rula. Er steht vor der Tür.«

Mike warf ihr einen Blick zu. »Holt er einem auch Pizza?« Dana zwang sich zu einem spöttischen Lächeln. »Mein Lieber, wir sind hier in Brooklyn. Hier bekommen Sie vierundzwanzig Stunden am Tag Pizza ins Haus geliefert. Auch ohne Hilfe der Polizei.«

Alice brachte Dana zur Tür, während Maggie in die Küche eilte.

»Danke für alles«, sagte sie.

»Ich mache nur meine Arbeit.« Dana beugte sich vor, um sich von Alice mit einem Kuss auf die Wange zu verabschieden, zog sich aber im letzten Moment verlegen zurück und beschränkte sich darauf, Alice fest die Hand zu drücken.

Alice sah ihr nach, wie sie die Vordertreppe hinunterging. Rula, ein junger Latino, schien in dem verbeulten Honda, der am Straßenrand stand, zu schlafen.

Maggie hatte zwei rote Keramikbecher mit heißer Milch und einen Teller mit Ingwerplätzchen auf den Couchtisch im Wohnzimmer gestellt. Alice machte es sich auf der Couch gemütlich. Sie ergriff einen Becher und pustete in die heiße Milch, stellte sie aber dann noch einmal auf den Tisch, um auf Maggie zu warten.

Sie ließ die Ereignisse des Nachmittags noch einmal Revue passieren. Gott sei Dank waren die Kinder wieder heil zu Hause und lagen schlafend in ihren Betten. Auch um sie herum war alles still. Ob wohl in der Nachbarschaft alle schliefen? Wie viele Menschen in dieser Stadt mochten jetzt wohl ebenso wach sein wie sie?

»Weißt du«, sagte Maggie und warf sich neben Alice auf die Couch, »ich glaube, Simon und ich versuchen es noch einmal.«

»Na ja«, erwiderte Alice, »ihr seid ja auch füreinander geschaffen.«

»Findest du?« Maggie blickte Alice an. »Sag die Wahrheit. Glaubst du, Tim hat etwas mit der Sache zu tun?«

Bei dem furchtbaren Gedanken erschauerte Alice. »Ich möchte es mir lieber nicht vorstellen«, erwiderte sie.

Maggie beugte sich vor. »Aber du glaubst es?«

»Vielleicht«, antwortete Alice zögernd. »Und du?«

Maggie nickte entschlossen. »Ich fand den Mann schon immer zu gut, um wahr zu sein. Er war zu unbeschwert, weißt du, was ich meine? Beklagte sich nie und war am Boden zerstört, als Lauren tot war. Aber dann verließ er die Stadt.«

»Er sagte, er könne hier nicht mehr bleiben.« Alice wollte gerne glauben, dass Tim zu etwas so Grauenhaftem nicht fähig war. »Es ergab doch Sinn, Mags, oder? Selbst du hast ihn ja verteidigt. Er musste einfach gehen.«

»Ich habe darüber nachgedacht«, erwiderte Maggie.

»Simon ist hier geblieben, als es wirklich schwierig wurde, und ich habe ihm bestimmt die Hölle heiß gemacht.«

»Er ist wegen Ethan geblieben.«

»Zum Teil, ja«, erwiderte Maggie. »Aber er ist auch geblieben, weil das hier sein Zuhause ist. Tim ist gegangen, weil er sich hier, mit uns, nicht mehr wohl fühlte. Es hatte sich noch etwas anderes geändert. Verstehst du?«

Wenn Maggie Recht hatte, dachte Alice, dann hatte die Polizei richtig gelegen, als sie von Anfang an einen aus dem Freundeskreis für Laurens Mörder gehalten hatten. Sie hatten schon festgestellt, dass Sylvie in das Verbrechen verwickelt war. War das denn noch nicht genug?

Wenn Alice etwas aus den Ereignissen gelernt hatte, dann, dass es nicht ratsam war, voreilige Schlüsse zu ziehen. Und sie wusste, dass die Menschen, die den Fall aufklären wollten, die ganze Nacht durcharbeiten würden, wenn es sein musste.

Frannie, Giometti und Dana waren auf dem Revier; das FBI war eingeschaltet. In der ganzen Stadt und am Kennedy-Airport suchte die Polizei nach Sylvie, um die Spur zu dem vermissten Baby zu finden.