KAPITEL 10

Am nächsten Morgen blieb Alice im Bett und lauschte den Geräuschen ihrer Familie oben in der Küche. Ein Stuhl kratzte über den Fußboden. Schritte. Geschirr klapperte. Die vertrauten Stimmen. Mike machte die Kinder für die Schule fertig. Er gönnte ihr eine Atempause, und sie hatte ihn nicht einmal darum bitten müssen.

Ein heller Sonnenstrahl drang durch einen Spalt in den Vorhängen, aber Alice sehnte sich nach Dunkelheit und Ruhe. Die ganze Nacht über hatte sie wach gelegen, wieder und wieder über Laurens brutalen Tod nachgedacht. Sie hatte das Messer und das blutende Fleisch vor sich gesehen. Hatte vor sich gesehen, wie Ivy sich ein letztes Mal im Leib der Mutter zusammengerollt hatte und dann dem plötzlichen Schock ausgesetzt war. Hatte überhaupt jemand ihren ersten Schrei gehört? Wie sollte sie ohne Liebe überleben?

Immer wieder versuchte Alice sich vorzustellen, wie Lauren wohl reagiert haben mochte, und sie fragte sich selbst: Wenn die Angst wie eine riesige Welle auf mich zurollen würde, was würde ich tun? Hineintauchen oder mich umdrehen und wegrennen? Würde ich Angst vor der Angst haben oder mich ihr ausliefern?

Sie lag auf der Seite und streichelte ihren festen Bauch.

Die Zwillinge waren ruhig, sie schliefen wohl, und sie wollte sie nicht aufwecken.

Gegen halb neun verließen Mike, Nell und Peter das Haus. Jetzt war alles still. Alice schloss die Augen und versuchte zu schlafen, aber sie fand keinen Weg aus ihrem Schmerz. Sie vermisste Lauren so sehr, dass ihr alles wehtat; es war der schlimmste und fremdeste Schmerz, den sie je in ihrem Leben empfunden hatte.

Als das Telefon klingelte, versuchte Alice zunächst, es zu ignorieren, aber als es nicht aufhörte, nahm sie schließlich ab.

»Es ist alles geregelt«, sagte Lizzie.

»Mom?«

»Ich bin jetzt am Flughafen.« Sie sprach in dem kühlen, sachlichen Tonfall, der Alice durch ihre Kindheit begleitet hatte.

»Um zehn nach eins lande ich am LaGuardia.«

»Du kommst heute her?«

»Schatz, ich habe extra vier Termine gecancelt, aber wen kümmert das schon? Mike hat mich angerufen. Wichtiges zuerst, und du bist das Wichtigste. Dicker Kuss. Du brauchst mich nicht abzuholen, ich nehme ein Taxi.«

»Ach was, Mom, ich hole dich doch immer ab.«

»Aber diesmal nicht. Ich…«

Alice setzte sich auf und erwiderte mit Nachdruck: »Wir machen heute den Laden nicht auf, und wenn ich nur hier zu Hause herumhänge, werde ich verrückt. Gib mir deine Flugnummer, und dann komme ich dich abholen.«

Alice duschte und zog sich an. Auf dem Küchentisch fand sie eine Notiz von Mike. Ruf mich an, wenn du wach bist. Wahrscheinlich war er in die Werkstatt gefahren und würde sofort nach Hause kommen, wenn sie ihn anrief, um sie zu beschützen. Sie wollte aber nicht, dass er sie vor ihrem Kummer bewahrte, und sie wollte auch nicht, dass er sich mit ihr von seiner eigenen Trauer ablenkte. Er sollte ruhig in seiner Werkstatt bleiben, wo er nicht lächeln, reden oder sie trösten musste. Alice wusste ganz genau, dass sie jetzt ihre Mutter brauchte. Und Lizzie kam, das war das Wichtigste.

Alice zwang sich, etwas zu essen, wegen der Babys, aber sie bekam ihre Scheibe Toast kaum herunter. Sie trank ein paar Schlucke Milch, und sofort stieg wieder Übelkeit in ihr auf.

Weil der Verkehr auf dem Brooklyn Queens Expressway kaum vorherzusagen war, beschloss sie, so früh wie möglich aufzubrechen.

Sie verließ das Haus und ging die Treppe hinunter. Die Sonne blendete sie, und Alice wünschte, sie hätte ihre Sonnenbrille mitgenommen. Kaum war sie ein paar Schritte gegangen, da sah sie auch schon den ersten gelben Zettel an einem Laternenmast. Vermisst wird… Sie riss ihn ab, zerknüllte ihn und warf ihn bei der ersten Gelegenheit in einen Abfalleimer. Auf der anderen Straßenseite lag der Kleinkinderbereich des Spielplatzes. Es wimmelte von kleinen Kindern und ihren Müttern, die neue Freundschaften schlossen und alte pflegten. Sie wusste nicht, ob sie jemals wieder in der Lage sein würde, dorthin zurückzukehren. Aber sie würde es müssen, schon wegen ihrer Kinder. Wieder traten ihr die Tränen in die Augen, und sie begann haltlos zu schluchzen. Bei jedem gelben Zettel, den sie abriss, dachte sie an Ivy, und der Text verwandelte sich vor ihren Augen in Finde mein Baby, bitte. Finde Ivy mach dich sofort auf die Suche nach ihr, sie ist da draußen ganz allein.

Wo war Ivy? Wo mochte sie sein? Sie brauchte eine Mutter, und Alice konnte das für sie sein. Ohne Mutter konnte Ivy nicht überleben.

Alice war froh darüber, dass sie niemandem begegnete, den sie kannte, damit sie nichts zu erklären brauchte. Nur Fremde sahen ihre Tränen, liefen aber gleichgültig an ihr vorbei.

Schließlich gelangte sie zu dem billigen Parkplatz, auf dem sie das Familienauto abstellten. Seinen Pick-up parkte Mike auf der Straße, weil er ihn ständig brauchte. Die Gegend war fast völlig menschenleer, nur ein grauhaariger Mann drehte sich um und ging in die andere Richtung, als Alice sich näherte. Er kam ihr irgendwie bekannt vor, aber sie wusste nicht genau, woher. Sie öffnete das Vorhängeschloss und schob das massive Eisentor auf. Es war auf seltsame Weise beruhigend, wie der Kies unter ihren Füßen knirschte. An ihrem alten grünen Kombi öffnete sie erst einmal sämtliche Fenster, bevor sie sich hinters Steuer setzte. Die Klimaanlage war schon seit zwei Jahren kaputt, aber der Wagen war Baujahr ’88, da lohnte sich eine Reparatur nicht mehr. Als sie sich auf den Vinylsitz setzte, lief ihr der Schweiß die Oberschenkel hinunter.

Es war eine Erleichterung, loszufahren und den Fahrtwind zu spüren. An der Bond Street stieg ihr der Geruch des Kanals in die Nase, und sie trat aufs Gaspedal, weil sie den Gestank nicht ertragen konnte. Und sie wollte so schnell wie möglich aus Brooklyn heraus, die gelben Zettel und die Erinnerung an Lauren hinter sich lassen. Obwohl sie in dem dichten Verkehr eigentlich langsamer hätte werden müssen, fuhr sie unwillkürlich schneller, um endlich auf den Highway und zum Flughafen zu gelangen. Eigentlich könnte sie sich dort ein Ticket kaufen und irgendwohin fliegen. Maggie konnte sie im Laden vertreten, und Mike und die Kinder konnten ja nachkommen. Sie könnte nach Frankreich, Italien, Griechenland oder Mexiko reisen – und alles vergessen. Sie stellte sich das klare Wasser, die breiten, endlosen Sandstrände, den weiten Horizont vor und war so in ihre Träumerei versunken, dass sie den Stau vor sich zu spät bemerkte. Instinktiv riss sie das Steuer herum und bog rechts ab. Die Sonne blendete sie, und dann krachte und knirschte Metall auf Metall, und Alice prallte gegen das Lenkrad. Ihr Bauch zog sich zusammen und wurde steinhart. Ihre Babys!

Panik stieg in ihr auf. Sie versuchte, ihren Wagen frei zu bekommen, aber nichts funktionierte. Offensichtlich hatte sie einen Bus gerammt, und jetzt steckte sie fest.

An der Ecke stand ein großer, dünner Schwarzer in zerrissener Kleidung. Um seinen Hals hing ein absurd großes Kreuz aus Alu-Folie, und er winkte und gestikulierte in ihre Richtung.

»Lady, Lady!«, rief er.

Alice blickte nach oben zum Bus. Die Fahrerin, eine stämmige Frau mit kurzen, metallisch roten Haaren, musterte sie wütend durch die Windschutzscheibe.

»Lady!«

Der Mann kam jetzt auf sie zu, und Alice wusste nicht, was sie tun sollte. Würde er sie angreifen?

Aber er beugte sich nur vor und sagte: »Atmen Sie tief durch und beruhigen Sie sich. Eins, zwei, drei.« Er atmete ihr den Rhythmus vor, und sie gehorchte. Die Panik begann zu schwinden, und es ging ihr ein wenig besser. Er blickte sie durch das offene Fenster aufmunternd an.

»Wissen Sie was, Lady? Zwanzig Jahre lang war ich Busfahrer in der Stadt. Jetzt bin ich pensioniert. Aber einmal ist mir genau das Gleiche passiert wie Ihnen jetzt. Ich gebe Ihnen einen guten Rat.«

Alice wusste gar nicht, was ihr passiert war. Einen kurzen Moment lang war sie mit den Gedanken woanders gewesen.

»Vergewissern Sie sich beim Abbiegen, dass Sie dort auch fahren dürfen. Bei den vielen Einbahnstraßen hier kennt sich doch kein Mensch aus. Also, gucken Sie lieber zweimal hin, verstehen Sie?«

Hinter dem Bus ertönte ein Hupkonzert. Alice holte noch einmal tief Luft und stieg aus dem Auto. Jetzt sah sie auch das Einbahnstraßenschild an der Ecke. Sie hätte hier nicht abbiegen dürfen. Und sie hätte es wissen müssen, schließlich kannte sie die Gegend hier.

»Herr im Himmel!«, rief der Mann aus. »Wann soll das Baby kommen?«

»Im Dezember.« Alice legte die Hand auf den Bauch. Die Babys lagen wieder ruhig und schwer in ihr. »Vor Weihnachten.«

Auch die Busfahrerin war ausgestiegen und blickte jetzt kopfschüttelnd zu Alice und dem Mann. Die Fahrgäste drückten sich die Nasen an den Scheiben platt und machten ihrem Ärger Luft.

»Machen Sie erst mal den Führerschein!«

»Sie sind schuld, dass ich zu spät komme!«

»Sie sollten beim Autofahren eine Brille tragen!«

Alice war sich noch nie in ihrem Leben so dumm vorgekommen. Sie trat auf die Busfahrerin zu. »Es tut mir Leid. Es war meine Schuld, ich bin falsch abgebogen. Ich nehme alles auf mich.«

Die Frau warf ihr einen geschockten Blick zu. Damit hatte sie nicht gerechnet, schließlich waren sie in New York City, in Brooklyn. Aber mit einer Schwangeren, die alles zugab, konnte man schlecht streiten. Kopfschüttelnd wandte sie sich zum Bus, um den Schaden zu begutachten. Alice trat zu ihr.

Die Beifahrertür an Alices Auto war komplett eingedrückt, aber der Bus hatte nichts abbekommen, wenn man einmal davon absah, dass ein Gummipuffer vorne halb herunterhing.

»Die Beule war schon vorher da«, behauptete Alice. Das stimmte natürlich nicht, sie hatte sie verursacht.

»Oh, oh«, sagte der Mann und wiegte bedenklich den Kopf. Alice folgte der Fahrerin in den Bus. Sie wandte sich an die erregten Fahrgäste und wiederholte ihre Entschuldigung: »Es tut mir Leid. Es ist meine Schuld. Es tut mir Leid, wenn Sie meinetwegen jetzt zu spät kommen.« Sie konnte beinahe körperlich spüren, wie die Spannung wich. Die Blicke waren mit einem Mal viel freundlicher.

Die Busfahrerin schrieb sich Alices Personalien auf, und Alice entschuldigte sich auch noch einmal bei ihr. Die Frau erwiderte nichts und nickte nur, aber Alice konnte spüren, dass sie die Entschuldigung akzeptierte. Und dann geschah etwas Seltsames. Die Stimmung im Bus schlug zu ihren Gunsten um, und die Fahrgäste gaben mitfühlende Äußerungen von sich.

»Das ist mir auch schon zweimal passiert.«

»Machen Sie sich nichts daraus, meine Liebe. Sie sind auch nur ein Mensch.«

»Passen Sie auf Ihr Baby auf.«

»Machen Sie sich um uns keine Gedanken. Wir können den nächsten Bus nehmen.«

Alice nickte dankbar. Schließlich stieg sie aus dem Bus und setzte sich wieder in ihr Auto. Der dünne Schwarze, ihr Retter, regelte den Verkehr, damit sie zurücksetzen und wenden konnte. Langsam und vorsichtig fuhr Alice über die Court Street in die Degraw und stellte den Wagen wieder auf den Parkplatz.

Sie hatte jetzt zu viel Angst davor, weiterzufahren, und der Gedanke, was sie alles hätte anrichten können, entsetzte sie. Sie rief bei ihrer Gynäkologin an, erklärte, sie habe einen kleinen Unfall gehabt, und man sagte ihr, sie solle sofort zur Untersuchung kommen. Dann rief sie Mike an und bat ihn, sie abzuholen. Mit geschlossenen Augen stand sie da und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass den Babys nichts passiert war.