KAPITEL 19

Alice war fassungslos darüber, dass Julius Pollack Laurens Vermieter gewesen war. Die ganzen Jahre über war der Mietvertrag über Metro Properties gelaufen, ein gesichtsloses Unternehmen. Jetzt, da ein Name dahinter stand, ergab es einen Sinn, warum so erbittert um Laurens und Tims Kündigung gekämpft worden war. Alice war so aufgebracht über diese Entdeckung, dass sie, als sie in die Warren Street einbog, beinahe in Laufschritt verfallen war.

Zahllose Fragen schwirrten ihr durch den Kopf. Hatte sie Julius Pollacks Namen heute früh im Café nicht Pam gegenüber erwähnt? Dieses wichtige Detail hatte sie doch bestimmt nicht ausgelassen? Julius Pollack. Ihr war nie in den Sinn gekommen, dass es in ihrer überschaubaren Wohngegend so etwas wie einen Grundbesitz-Tycoon geben könnte; dass die Mieter in Carroll Gardens Marionetten sein könnten, die ein einziger Mann nach seinem Gutdünken tanzen ließ. Alice lief noch schneller, der Schweiß rann ihr übers Gesicht, und als sie bei Maggie ankam, war sie so erschöpft, dass sie kaum die Treppe hinaufkam.

»Was ist los?«, fragte Sylvie erschrocken, als sie ihr die Tür aufmachte.

»Ich dachte, ich sei zu spät«, keuchte Alice. »Mit den Kindern alles in Ordnung?«

»Ja. Sie haben die ganze Zeit gespielt. Komm doch rein, ich hole dir etwas zu trinken.«

»Ja, ein Glas Wasser wäre toll.«

Alice folgte Sylvie in Maggies weiße Küche und setzte sich dort auf einen Hocker, während Sylvie ihr ein Glas Eiswasser einschenkte. Die plötzliche Kälte auf ihrer Zunge beruhigte sie. Sie trank in tiefen Schlucken.

»Ich habe gerade herausgefunden«, sagte sie dann, »dass mein neuer Vermieter und Laurens alter Vermieter ein und dieselbe Person sind.«

Sylvie zog die Augenbrauen hoch. »Ach ja?«

»Pam hat es mir erzählt. Offensichtlich ist der Mann sogar noch schlimmer, als ich gedacht habe.«

Alice leerte ihr Glas und stellte es auf die Marmortheke. Sylvie setzte sich auf den Hocker neben sie. Die Stimmen der Kinder drangen aus dem Zimmer unten, hell und zeternd, aber dann löste sich alles in Gelächter auf.

»Ich habe das Gefühl, dass das etwas zu bedeuten hat«, sagte Alice, »aber ich komme nicht darauf.«

Sylvie ergriff Alices Glas, um es nachzufüllen.

»Danke«, sagte Alice. Dieses Mal trank sie nur die Hälfte.

»Pam hat gesagt, sie überprüft ihn für mich. Sie ist eine tolle Person, oder? Danke, dass du uns zusammengebracht hast.«

»Bitte«, erwiderte Sylvie. »Gern geschehen.«

Die Kinder kamen die Treppe herauf und stritten sich lautstark um ein Spielzeug, das jeder von ihnen haben wollte: ein winziger Lego-Astronaut mit einem Helm, dessen Visier man hochklappen konnte. Nell hielt die begehrte Figur fest in der Hand, und beide Jungen versuchten sie ihr zu entreißen.

»Ethan«, sagte Sylvie, »du sollst dein Spielzeug doch mit deinen Gästen teilen.«

Alice trat zu den Kindern, um den Streit zu schlichten.

»Nell, lass es los. Es gehört Ethan. Lass es los!«

»Siehst du?«, triumphierte Ethan. »Es gehört mir!«

»Gib es mir, Nell«, sagte Alice und zog Peter von seiner Schwester weg. »Sofort.«

Nell reichte ihr das kleine Plastikspielzeug. Alice hielt es hoch und schüttelte den Kopf.

»Ihr seid Freunde«, sagte sie. »Und ihr streitet euch wegen so was?«

»Aber…«

»Nein«, unterbrach Alice Peter. »So viel Aufregung ist kein kleines Plastikspielzeug wert.« Sie reichte es Sylvie, die es in die Tasche ihrer gestreiften Schlaghose steckte.

»Aber es gehört doch mir!«, protestierte Ethan.

»Jetzt gehört es mir!« Mit jedem Wort unterstrich Sylvie ihren hübschen französischen Akzent.

»Danke, Sylvie.« Alice ging mit Nell und Peter zur Haustür.

»Tut mir Leid, dass sie sich jetzt doch noch gestritten haben.«

»Ach was.« Sylvie schürzte die Lippen. »In zwei Sekunden hat er alles vergessen.«

Auf der Straße redeten Nell und Peter die ganze Zeit von der kleinen Lego-Figur. Zu Hause machte Alice ihnen Abendbrot, und nach ihrem Bad kuschelten sie sich im Ehebett an Alice, die ihnen Pu der Bär von A. A. Milne vorlas. Sie schliefen in Alices Armen ein. Mike arbeitete heute lange, deshalb ließ sie sie im Ehebett, deckte sie zu und löschte das Licht.

Als sie den Abwasch gemacht hatte, holte sich Alice den Laptop an den Küchentisch und schaltete ihn ein. Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, den Namen Julius Pollack bei Google einzugeben. Und was dabei herauskam, überraschte sie.

Zahlreiche Klageschriften, Artikel über Prozesse. Die Webpage einer Mieteranwaltsgruppe listete fast hundert Objekte auf, die ihm gehörten oder an denen er einen Anteil hatte. In allen Auflistungen oder Artikeln hieß es immer: »Julius Pollack und sein Partner bei Metro Properties«.

Alice blickte auf die Uhr. Es war fast elf, zu spät, um Pam anzurufen und zu fragen, wer Pollacks Partner war. Sie lehnte sich zurück und lauschte auf die Stille, die sie umgab. Abends, wenn die Kinder schliefen, war sie eigentlich selten allein, und normalerweise lief der Fernseher. Als sich in der Haustür ein Schlüssel drehte, dachte sie: Endlich ist Mike zu Hause.

Sie stand auf und ging durch das Wohnzimmer zur Wohnungstür. Sie wollte gerade den Türknauf drehen, als sie hörte, wie jemand die Treppe hinauftrampelte. Leise öffnete sie die Tür einen Spalt weit und erblickte Julius Pollack von hinten. Er trug einen blassrosa Regenmantel und – trogen sie ihre Augen? – silberne High Heels. Sie zog sich in den dunklen Flur zurück und blickte ihm nach, bis er in seiner Tür verschwunden war.

Was hatte Julius Pollack dazu bewogen, ihr Haus zu kaufen? Es war ein schönes Haus in einem der besten, alten Häuserblocks im Viertel. Er war reich und wollte respektabel erscheinen, aber er wollte auch Privatsphäre. Er hätte sich ein Penthouse irgendwo in Manhattan leisten können. Höchstwahrscheinlich wollte er ihre Wohnung nicht, um sie zu vermieten, sondern er wollte sich in diesem großen, alten Haus in Brooklyn verstecken. Warum? Weil er ein Transvestit war? So schockierend war das heutzutage nun auch wieder nicht. Es musste noch mehr dahinter stecken.

Sie schlich in die Eingangshalle und ging leise zur Haustür, als sie auf einmal stehen blieb. Von oben hörte sie ein hohes, dünnes Schreien. Sie trat an den Fuß der Treppe und lauschte angestrengt. Das Schreien war weit weg, aber sie hörte, wie es zunahm. Sie war sich ganz sicher: Da oben musste ein Baby sein.

Langsam ging sie die Treppe hinauf, wobei sie sich schwer auf das Geländer stützte, damit die Stufen nicht knarrten. Dann blieb sie stehen und lauschte erneut. Jetzt war alles still. Leise schlich sie weiter.

»Alice!«

Mike stand im Foyer. »Was machst du da?«

»Psst!«

Rasch eilte sie die Treppe wieder hinunter. Sie hörte Schritte in der Wohnung oben, aber kein Geschrei mehr. Das Baby hatte sich wieder beruhigt.

»Was ist los?« Er klang erschöpft. Es war fast Mitternacht, und er war eben erst aus der Werkstatt gekommen.

»Komm rein«, flüsterte sie.

Er folgte ihr in die Wohnung. Sie schloss die Tür und sperrte ab.

»Mike, das musst du dir anhören«, sagte sie, und dann erzählte sie ihm alles über Julius Pollack, Metro Properties und das schreiende Baby oben.

»Na ja«, sagte Mike schließlich, »das ist wirklich seltsam.«

»Wir sollten die Polizei informieren, findest du nicht auch?« Mike stand auf, ging leise durch das Wohnzimmer und öffnete die Wohnungstür. Sie quietschte ein wenig.

»Pst!« Alice folgte ihm. »Was machst du jetzt?«

Mike blieb mucksmäuschenstill stehen, während Alice ihn hinter der halb offenen Tür beobachtete. Nachdem er eine Minute angestrengt gelauscht hatte, blickte er sie an, schüttelte den Kopf und formte mit den Lippen: »Nichts.«

Es war so still, dass Alice ihren eigenen Atem hören konnte. Ihr Körper fühlte sich auf einmal unerträglich schwer an. Sie ging ins Wohnzimmer, ergriff das Telefon und ihr Adressbuch und sank auf die Couch. Auch Mike kam wieder in die Wohnung zurück, und es knarrte und quietschte, als er die Tür schloss und absperrte.

»Ich habe kein Baby gehört«, sagte er. »Bist du sicher, dass du es gehört hast?«

»Ganz bestimmt«, erwiderte Alice. »Zumindest glaube ich es.«

»Alice…«

»Mike.«

»Willst du wirklich die Ermittler anrufen?«

Sie nickte. Ja, sie würde Frannie auf jeden Fall anrufen, auch wenn sie jetzt auf einmal unsicher wurde.

»Es ist Mitternacht«, wandte Mike ein.

»Sie haben ja auch Nachtschicht.« Alice suchte die Nummer aus ihrem Adressbuch heraus. »Entweder sind sie da oder nicht.«

Mike setzte sich neben Alice auf die Couch und beobachtete sie, als sie Detective Viola oder Detective Giometti langte. Sie wurde durchgestellt, und schließlich kam wachhabender Beamter ans Telefon und erklärte ihr, Frannie habe Frühschicht und fange um acht Uhr an, und Giometti käme normalerweise ein wenig später als sie.

»Kann ich Ihnen denn helfen?«, fragte er.

Alice zögerte. »Nein, danke«, erwiderte sie schließlich. »Es hat bis morgen früh Zeit. Könnten Sie Detective Viola bitte ausrichten, dass ich angerufen habe?« Sie wiederholte nochmal ihren Namen und ihre Telefonnummer und legte auf. »Vielleicht hätte ich es ihm doch sagen sollen, was meinst du?« Nachdenklich blickte sie Mike an.

»Nein, das war schon richtig so. Es hat Zeit bis morgen früh.« Mike beugte sich vor und ergriff ihre Hand.

»Komm, lass uns zu Bett gehen. Sie rufen morgen früh schon wieder zurück.«

Sie gingen ins Bett, und Mike schlief sofort ein, aber Alice fand keinen Schlaf. Und wenn nun Ivy genau hier in diesem Haus ist und ich brauche nur nach oben zu gehen, um sie zu finden?, fragte sie sich immer wieder. Sie schlüpfte aus dem Bett und legte sich oben auf die Couch. Immer wieder lauschte sie angestrengt in Richtung Decke. Noch ein einziger Schrei, dachte sie, dann würde sie sofort wieder bei der Polizei anrufen.

Die Stunden vergingen, und draußen zeigte sich der erste helle Streifen am Horizont. Schließlich schlief sie doch noch ein und träumte von Ivy, die gierig an Laurens Brust trank. Als sie mit einem Ruck hochfuhr, war sie im ersten Moment erleichtert darüber, dass sie tatsächlich geschlafen hatte, aber dann wurde ihr mit zunehmender Verzweiflung bewusst, dass Lauren tot war. Und sie dachte an Ivy und das schreiende Baby gestern Abend.

Sie musste einfach wissen, ob Ivy den Mord überlebt hatte. Sie musste es wissen, damit sie sich an etwas klammern konnte. Aber war das Babygeschrei gestern Abend überhaupt real gewesen oder hatte sie es sich nur eingebildet?

Sie stand auf und trat an die Wohnungstür. Sie öffnete sie einen Spalt weit und lauschte nach oben. Aber da war nichts, nur die schwere Stille des frühen Morgens.

Es wurde acht Uhr, aber das Telefon klingelte nicht. Nell und Peter machten unten Lärm, als sie sich anzogen, und dann kam Mike hinauf. Er warf Alice, die vor dem Laptop saß, eine leere Teetasse neben sich, einen Blick zu.

»Heute Abend nimmst du eine Schlaftablette, Alice, ja?«

Seit sie ihn kannte, war seine Haut morgens besonders warm und glatt, und sie fasste ihn dann gerne an. Sie trat auf ihn zu und küsste ihn. Seine Lippen waren weich.

»Ja, okay.«

Alice machte den Kindern Waffeln, frische Erdbeeren und Milch zum Frühstück. In der Zwischenzeit bereitete Mike ihnen rasch ihren Lunch zu. Dann zog er sich die Arbeitsklamotten an, in denen er gestern Abend nach Hause gekommen war, und zwanzig Minuten später waren alle aus der Tür. Alice begann das Frühstücksgeschirr abzuräumen und wollte es gerade in die Spülmaschine stellen, als das Telefon klingelte.

»Ich rufe doch nicht zu früh an, oder?« Es war Pam, nicht Frannie, aber Alice freute sich trotzdem über den Anruf.

»Unserer Besichtigungstermin heute früh verschiebt sich. Können Sie auch nachmittags um zwei?«

»Klar, kein Problem«, erwiderte Alice. »Pam? Wer ist denn der Partner von Julius Pollack bei Metro Properties?«

»Er hat Angestellte…«

»Nein, ich meine seinen Partner.«

»Was für einen Partner? Soweit ich weiß, arbeitet er allein.« Alice erzählte Pam, was sie im Internet gelesen hatte.

»Ich sehe mal zu, was ich herausfinde. Wenn ich vor zwei Uhr auf etwas stoße, rufe ich Sie an, ansonsten reden wir hinterher darüber, ja?«

»Danke, Pam. Bis zwei dann.«

Alice legte auf. Dann fiel ihr ein, dass sie noch gar nicht versucht hatte, Frannie auf ihrem Handy zu erreichen. Sie nahm nach dem zweiten Klingeln ab.

»Was ist los, Alice? Man hat mir Ihre Nachricht von gestern Abend ausgerichtet. Ich hatte einen Einsatz, aber ich hätte Sie jetzt sowieso angerufen.«

Im Hintergrund rumpelte laut irgendeine Maschine, dann brach das Geräusch auf einmal ab. Stimmen waren zu hören.

»Ich habe gestern Abend ein Baby weinen hören.« Alice konnte Frannies Ungläubigkeit förmlich spüren.

»Ein Baby.«

»Hier, im Haus. Oben, in der Wohnung meines neuen Vermieters, Julius Pollack. Sagt Ihnen der Name was?«

»Durchaus«, erwiderte Frannie. »Erzählen Sie weiter.«

Alice beschrieb ihr alle Einzelheiten: ihre Begegnung mit Julius im Foyer, als er einzog, ihre Suche nach einem Haus, Pam Shorts Entdeckung, dass Laurens Vermieter – Metro – und ihr neuer Hauseigentümer ein und dieselbe Person waren, ihren Besuch bei Tim, der sich auf seinen Auszug vorbereitete, das schreiende Baby gestern Abend.

»Wussten Sie, dass er auch Laurens Vermieter war?«, fragte Alice.

»Ja«, erwiderte Frannie, »aber wir wussten nicht, dass er jetzt in Ihrem Haus wohnt.«

»Was ist mit Christine Craddock? Hieß ihr Vermieter auch Metro Properties? Sollte sie auch aus ihrer Wohnung vertrieben werden?«

Frannie schwieg, und Alice hörte, wie die Stimmen hinter ihr lauter wurden.

»Alice, ich muss jetzt los«, sagte Frannie, »aber es war gut, dass Sie angerufen haben.«

»Glauben Sie, Ivy ist da oben?«

»Das bezweifle ich, aber wir werden es überprüfen.«

»Wie soll ich mich verhalten? Was soll ich tun, wenn ich das Baby wieder schreien höre?«

»Rufen Sie uns sofort an.«