46. KAPITEL
In ihrem Hotelzimmer angekommen, nutzte Taylor die Chance, ins Badezimmer zu entfliehen und eine lange Dusche zu nehmen. In den letzten paar Tagen war zu viel passiert. Zu viele Gefühle waren aufgewühlt worden. Baldwin konnte die BAU nicht verlassen, schon gar nicht ihretwegen. Das war nicht richtig.
Sie trocknete sich ab und bürstete ihre nassen Haare. Jetzt, wo es vorbei war, erlaubte sie sich, über die grauenhaften Taten der beiden Brüder nachzudenken. Darüber, was die Opfer unter ihren Händen durchlitten hatten. Wie sie langsam verhungert waren, ihre Organe eines nach dem anderen versagte, die Schmerzen, nur gedämpft von Phasen der Bewusstlosigkeit.
Sie putzte sich die Zähne, spuckte aus, öffnete ihren Mund weit, schaute sich die Backenzähne an, die Schneidezähne; sah, wie sie alle fein säuberlich zwischen ihren Nachbarn standen. Präzision. Zähne waren so einzigartig wie ein Fingerabdruck. Wie würde es ohne das ganze Fleisch aussehen? Wenn sie in einem Plexiglassarg gefangen gehalten worden wäre, langsam, unausweichlich verhungert und schließlich verrottet wäre? Sie versuchte, sich ihren Schädel so vorzustellen, wie ein Archäologe auf einer Ausgrabung es wohl tun würde. Würde er ihre Zähne anschauen, ihren Brauenbogen, die Nasenhöhle und denken, wow, diese Frau musste mal sehr schön gewesen sein, als sie noch gelebt hatte? Die Zähne hatten vermutlich hellweiß gestrahlt, als dieser Kopf noch geatmet hatte. Bestimmt hatten viele Männer sie attraktiv gefunden.
Sie wünschte, sie hätte Memphis geohrfeigt, als er sie geküsst hat. Der Mistkerl hatte recht. Sie hatte seinen Kuss erwidert. Und sie würde mit diesem Wissen leben müssen. Baldwin durfte es niemals erfahren.
Sie schob alle Gedanken an Memphis beiseite. Sie sollte sich auf das Gute konzentrieren, darauf, dass sie die Mörder gefasst, die Fälle gelöst hatten. Sie hatte alles richtig gemacht. Sie hatte sich bewiesen, und das konnte für ihre Karriere nur gut sein. Später gäbe es noch ausreichend Zeit, sich Sorgen darüber zu machen, wie es weitergehen sollte. Baldwin für immer in Nashville zu haben wäre toll, aber er würde dort nicht glücklich werden, auch wenn er das jetzt noch nicht wusste. Sie hatte ihre eigenen Dämonen zu bekämpfen, ihre eigenen Probleme zu lösen. Es war einfach ein verdammt schlechtes Timing.
Mit einem Seufzer löschte sie das Licht im Badezimmer und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Sie würde einen Weg finden, alles wieder zu richten. Das tat sie doch immer.
Baldwin lag bereits im Bett und las die Nachrichten über den Macellaio-Fall. La Nazione hatte eine Sonderausgabe gedruckt. Der Rezeptionist, der wusste, dass sie an dem Fall arbeiteten, hatte sie ihnen mit einem angedeuteten Lächeln gereicht, als sie ihren Schlüssel abgeholt hatten. Die Schlagzeile schrie Il Macellaio Interferito – Der Schlachter ist gefasst. Baldwin hatte dunkle Ringe unter den Augen, und Taylor verspürte eine beinahe unerträgliche Zärtlichkeit für ihn. Sie brauchten eine Pause. Einen Ort, an dem es keine Mörder, keine Gespenster gab.
Baldwin raschelte mit der Zeitung; das Deckblatt lag unordentlich auf seinen Beinen. Wenigstens tat er so, als ob er lesen würde. Er beobachtete sie. Sie spürte seinen Blick, fühlte die Wärme und Liebe in ihm. Sie krabbelte ins Bett und legte ihren Kopf auf seine Brust.
„Wir müssen schlafen. Zumindest ein paar Stunden. Leg die Zeitung weg.“
„Bedeutet das, mir ist verziehen?“, fragte er.
Sie schenkte ihm ein verlegenes Lächeln. „Es gibt nichts zu verzeihen. Ich wollte nicht so blöd sein. Und ich bin … ach, ich weiß auch nicht, irgendwie durcheinander.“
„Denkst du immer noch an Memphis?“
Sie schaute ihn überrascht an. Wie er manchmal ihre Gedanken lesen konnte, war wirklich nervig.
„Taylor, das ist für jeden innerhalb eines Radius von fünfzig Meilen offensichtlich. Ich habe noch nie einen Mann so schnell so verknallt gesehen. Er wird nicht aufhören, hinter dir her zu sein.“
„Ach, hör auf. Er ist nur … nur … Frauenheld. Ich wäre eine weitere Kerbe in seinem Gürtel, das ist alles.“
„Tja, mir wäre es wesentlich lieber, wenn du keine Kerbe in seinem Gürtel werden würdest.“
Sie verdrehte die Augen. „Du weißt, was ich meine. Er interessiert mich nicht. Ich kann damit umgehen.“
„Ich bezweifle, dass er seine Versuche einstellen wird. Ich habe mir seinen Background ein wenig genauer angesehen. Er hat keine leichte Zeit hinter sich. Ein Adliger zu sein, der für die Met arbeitet, ist nicht die beste Kombination. Anfangs musste er viel einstecken, weil er einfach nicht dazu gepasst hat. Dann hat er seine Frau verloren, weißt du. Sie war im achten Monat schwanger, als sie bei einem Autounfall starb. Ihr Name war Evan, und sie sah dir unglaublich ähnlich. Nach Evans Tod hat er sich in die Arbeit bei der Met gestürzt und ist die Karriereleiter förmlich hinaufgeflogen. Er ist ein verdammt guter Ermittler, aber er ist auch ein Getriebener. Du hast das alles wieder aufleben lassen, und er steht kurz davor, die Kontrolle zu verlieren.“
„Er hat mir alles darüber erzählt.“
„Was auch immer er dir erzählt hat, er ist ein zerbrechlicher Mann. Er war in Behandlung und greift nach allem, was ihn wieder auf die richtige Bahn zurückbringen könnte.“
„Also glaubst du, dass ich ihn einfach nur an seine tote Frau erinnere? Na, vielen Dank.“ Kurz flackerte Wut in ihr auf, die sie aber schnell wieder unterdrückte. „Ich will einfach nur endlich nach Nashville zurück. Da kenne ich meine Feinde wenigstens.“
„Läufst du vor ihm davon, Taylor?“ Seine Stimme hatte einen seltsamen Unterton, eine unterschwellige Verletzbarkeit. Taylor schaute ihn fragend an.
„Baldwin, was ist los? Bist du wirklich so eifersüchtig?“
Er warf die Zeitung beiseite. Er war wütend; sie spürte, wie er sich nur mühsam unter Kontrolle hielt. „Verdammt noch mal, natürlich bin ich das. Glaubst du, ich sitze einfach da und sehe zu, wie irgendein Kerl dich im Sturm erobert?“
Sie erkannte, dass er genau wusste, was ihr durch den Kopf gegangen war. All die kleinen „Was wäre wenn“-Gedanken, die sich am Rande ihres Bewusstseins getummelt hatten. Kein Wunder, dass er darüber nachdachte, nach Nashville zurückzuziehen, wo er ein Auge auf sie haben konnte. Es war an der Zeit, diese Gedanken wegzupacken, und zwar für immer. Sie umfasste sein Kinn und brachte ihn dazu, ihr direkt in die Augen zu sehen.
„Ja, Honey, Memphis ist attraktiv. Ja, er ist lustig und gebildet.“
„Und nicht zu vergessen, er ist der Sohn eines Adligen“, sagte Baldwin.
„Und der Sohn eines Adligen. Aber mein Schatz, du sollst wissen, dass der Gedanke mir nie gekommen ist. Nicht so, wie du denkst.“
„Also gibst du zu, dass du darüber nachgedacht hast?“
„Baldwin. Hör auf. Ich denke über überhaupt nichts nach. Nichts auf der Welt ist mir wichtiger als du. Memphis ist nur ein dummer kleiner Junge. Du bist ein Mann und der Einzige, den ich liebe. Wage es ja nicht, jemals etwas anderes zu denken, verstanden?“
„Ich habe gesehen, wie er dich geküsst hat“, sagte er.
Ach, darum ging es also. Sie hatte sich schon gefragt, an dem Abend auf der Piazza, als sie um die Ecke gebogen war und Baldwin vor ihr gestanden hatte. Es hatte sich gekünstelt angefühlt, und sie hatte angenommen, dass Baldwin die ganze Szene beobachtet hatte.
Sie zog seinen Kopf ein wenig näher zu sich heran. „Das war unverschämt von ihm, und das habe ich ihm auch gesagt. Ich habe sehr, sehr deutlich gemacht, dass ich nicht an ihm interessiert bin. Ich hatte gehofft, dass er nun, wo der Fall zum größten Teil geklärt ist, nach London zurückfährt und wir uns nie wiedersehen. Jetzt sieht es so aus, als wenn er uns noch ein wenig erhalten bleibt, zumindest dir. Ich werde noch einmal mit ihm reden und ihn warnen, mich in Ruhe zu lassen. Wenn das nichts bringt, gebe ich dir offiziell die Erlaubnis, ihn zusammenzuschlagen.“
Sie lächelte und kuschelte sich an ihn. Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter. Er legte einen Arm um sie, und sie war erstaunt, wie fest er sie hielt. Als wenn er dächte, sie könnte ihm entgleiten. Er hatte doch nicht ernsthaft gedacht, dass sie sich von ihm trennen und mit diesem britischen Playboy gehen wollte, oder?
Natürlich hat er das gedacht, Taylor. Er hat gesehen, wie Memphis dich angeschaut hat. Um Himmels willen, er hat gesehen, dass er dich geküsst hat. Und er wird auch deine Reaktion gesehen haben, so kurz sie auch gewesen sein mag. Er ist kein Idiot. Er ist nur ein Mensch, ein Mann wie jeder andere. Zumindest in gewissen Dingen.
„Baby.“ Sie küsste ihn sanft auf den Hals. „Es tut mir leid.“
Er nahm die Einladung an. Er drehte sich zu ihr um und packte ihre Haare grob mit seiner rechten Hand.
„Du gehörst mir, Taylor. Vergiss das nicht.“ Seine Lippen pressten auf ihre; die Intensität seines Kusses raubte ihr den Atem. Er hielt weiter ihre Haare fest und ließ seine andere Hand zwischen ihre Beine gleiten. Er küsste sie, als wäre es der letzte Kuss, den sie je miteinander teilen würden. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, sie wusste nur, dass sie beinahe so weit war, sie stand kurz davor, als keinen Meter neben ihrem Ohr das Telefon klingelte.
„Lass es klingeln“, stöhnte sie atemlos und drängte ihn mit ihren Hüften, nicht aufzuhören.
„Das ist deins.“ Nur wenige Millimeter davon entfernt, in sie einzudringen, hielt er schwer atmend inne.
Stöhnend schlängelte sie sich so weit unter seinen Hüften heraus, dass sie das Telefon mit der Hand greifen konnte.
Statisches Rauschen. Stille. Ein Nichts umfing sie.
Dann die blecherne, kindliche Stimme, die sie von den Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter, von den vorherigen Anrufen kannte. „Wir sehen uns bald, Taylor.“
Die Leitung war tot, und Taylor fing an zu zittern. Es war nicht vorbei. Es würde niemals vorbei sein.