19. KAPITEL
Baldwin war in der Lobby des Loews Vanderbilt. Er telefonierte gerade mit Quantico, während er darauf wartete, dass Memphis sein Zimmer bezogen hatte. In dem Moment klingelte sein anderes Telefon. Er sah, dass es Taylor war, und schickte den Anruf auf die Mailbox. Er musste erst dieses Telefonat beenden. Nach fünf Minuten konnte er endlich auflegen. Sein Display verriet ihm, dass eine Nachricht auf ihn wartete. Er hörte sie ab und spürte, wie eine mit Aufregung gepaarte Ungläubigkeit sich in ihm ausbreitete.
Il Macellaio hatte erneut zugeschlagen.
„Hurensohn“, sagte er. Highsmythe, der in Jeans und einem gut geschnittenen braunen Jackett in diesem Augenblick die Lobby betrat, schaute ihn fragend an.
„Tut mir leid, ich meinte nicht Sie“, sagte Baldwin.
„Schlechte Neuigkeiten?“
„Ja. Und nein. Es sieht aus, als wenn unser Junge uns ein weiteres Opfer hinterlassen hat. Wenn Sie einen Moment warten könnten, erkundige ich mich nach den Einzelheiten. Holen Sie sich gerne was zu trinken. Ich bin gleich bei Ihnen.“
Highsmythe nickte und ging ins Restaurant, wo er sich an einen Tisch setzte und sich mit dem Inhalt seiner Aktentasche beschäftigte. Baldwin wählte Taylors Nummer; sie antwortete nach dem ersten Klingeln.
„Ich bin am Radnor Lake. Wir haben eine weitere Leiche.“ Er hörte die Aufregung in ihrer Stimme und wusste, dass etwas Wichtiges passiert war. „Du musst sofort herkommen. Bring den Engländer mit, er könnte vielleicht helfen. Ich glaube, ich weiß, was er dieses Mal getan hat, aber ich will, dass du es dir anschaust und sagst, was du dazu denkst.“
„Gleicher Kerl?“
„Auf jeden Fall.“
„Okay. Wir machen uns sofort auf den Weg.“
Er legte auf und steckte das Blackberry in seine Tasche. Mit den Fingern fuhr er sich durch die Haare, um besser denken zu können. Warum war Il Macellaio in die Vereinigten Staaten gekommen? Warum hatte er plötzlich die Hautfarbe seiner Opfer gewechselt? Um sie zu verwirren? Vielleicht hatte er gedacht, dass in Nashville niemand klug genug war, um seine früheren Morde mit den neuen Taten in Verbindung zu bringen. Tja, da hatte er sich geirrt. Baldwin war ihm auf der Spur.
Memphis wollte gerade nach dem FBI-Agenten schauen gehen, als er ihn mit sorgenvoller Miene auf sich zukommen sah.
„Highsmythe, wir haben Rätsel zu lösen. Vielleicht hat Il Macellaio erneut zugeschlagen. Wieso reist dieser Mörder von Italien nach England und weiter in die USA? Und warum wechselt er auf eine andere Hautfarbe, nachdem er den großen Teich überquert hat?“
„Alles gute Fragen.“
Der Kellner kam und entschuldigte sich für die Wartezeit.
„Kaffee, Tee, Wasser … was kann ich den Gentlemen bringen?“
„Tut mir leid, aber wir müssen los.“ Baldwin warf einen Fünfdollarschein auf den Tisch.
Memphis stand auf und gähnte, bis er es in seinen Ohren knacken hörte. Jetzt war es besser. Er hasste es, zu fliegen. Er folgte Baldwins schnellen Schritten aus dem Restaurant. „Wir fahren zum Tatort?“
„Ja. Tut mir leid, aber Taylor war der Meinung, dass wir beide uns das anschauen müssten.“
„Kein Problem.“
Sie durchquerten die Lobby und ließen sich vom Parkwächter den Suburban bringen. Memphis wusste nicht, in welche Richtung sie fuhren. Er klappte die Sonnenblende hinunter und schaute in den Spiegel. Obwohl er ein paar Stunden geschlafen und sich eben frisch gemacht hatte, sah er immer noch zerknittert aus. Seine blauen Augen waren blutunterlaufen, sein blondes Haar zerzaust, seine Wangen und der Kiefer von einem Zweitagebart bedeckt. Er sah aus, als hätte man ihn durch einen Fluss gezogen und nass in die Ecke geworfen. Fernreisen bekamen ihm einfach nicht. Er klappte die Sonnenblende wieder hoch.
„Müde?“, fragte Baldwin.
„Ein wenig. Dieser Fall, wissen Sie. Der hält mich seit Wochen vom Schlafen ab. Ihr Mädchen ist schon eine, was?“, fragte Memphis.
Baldwin schaute überrascht auf und lächelte dann.
„Oh, Sie meinen Taylor? Ja, aber sie ist meine Verlobte, nicht mein Mädchen.“
„Muss schwer sein, so weit voneinander entfernt zu arbeiten. Bei einer Frau wie ihr – da würde ich ein Auge drauf haben wollen. Erzählen Sie mal, ist sie eine für Wein und Rosen oder ist sie eher eine Tigerin zwischen den Laken?“
„Ich wohne die ganze Zeit über in Nashville“, sagte Baldwin. „Und mein Privatleben geht sie nichts an.“
„Oh. Ich meine ja nur. Meine Frau war der Wein-und-Rosen-Typ.“ Er hatte den Hinweis verstanden. Mr FBI wollte nicht über sein Privatleben reden. Auch okay.
„Zurück zum Fall. Sprechen wir über die neuesten Entwicklungen“, sagte Baldwin.
„Warum leben Sie in Nashville und arbeiten in Virginia?“ Memphis wusste, dass er stichelte, aber er konnte nicht anders. Er kannte viele solcher Männer. Reserviert bis zur Hochnäsigkeit, aber Memphis schaffte es, sie mit wenigen gezielten Fragen zu öffnen wie eine Auster.
Baldwin warf ihm einen Blick zu. „Warum interessiert Sie das?“
Hm. Das war eine gute Frage. Warum fischte er nach Informationen? Weil du mehr über diese Frau hören willst, du Dummkopf. Reiß dich zusammen, konzentrier dich auf den Fall.
„Ich will Sie einfach nur besser kennenlernen“, erwiderte Memphis. „Erzählen Sie mir von den neuesten Entwicklungen in den Fällen.“
„Ich arbeite gerade an den letzten Details des Profils, aber wenn dieser neue Mord mit den anderen in Zusammenhang steht, müssen wir ein paar Sachen neu überdenken. Die Hautfarbe des Opfers ist eine andere, was schon mal eine Anomalie ist. Und dann hätte ich nicht erwartet, dass er so schnell wieder zuschlägt.“
„Anomalie. Ausgezeichnet. Irgend so etwas wird uns helfen, ihn zu fassen oder?“
„Möglicherweise.“
Memphis dachte ein paar Minuten darüber nach. „Sie haben gesagt, die neuen Opfer sind afro-karibischer Abstammung. Warum sollte er mittendrin seine Vorlieben ändern?“
„Das ist die große Frage. Ein Stressor, ein Ereignis, das ihn um den Verstand gebracht hat. Vielleicht hat seine Freundin mit ihm Schluss gemacht, und nun überträgt er seine dementsprechenden Gefühle, was er in der Vergangenheit nicht getan hat. Ich weiß es nicht. Er hat auch seine Methoden verändert. Die Morde in den Staaten weisen viel mehr Ähnlichkeiten mit denen in Florenz auf. Auffällig. Geplant. London fühlt sich opportunistischer an. Gepaart mit der Tatsache, dass er vielleicht schon seit vier Jahren schwarze Mädchen in den USA umbringt und wir bisher zwei Morde gefunden haben, die seinem Modus Operandi entsprechen, gibt es noch viel zu verstehen. Vergessen Sie nicht, mein Profil wird Ihnen nicht sagen, wer er ist. Es ist nur ein Wegweiser zu der Art Mensch, nach der Sie Ausschau halten müssen.“
Ah, das war der Weg, Dr. Baldwin näher zu kommen. Fachsimpelei. Er fühlte sich in der Nähe des Mannes nicht wohl. Nicht wohl genug, um ihm zu verraten, dass ihm eine Position beim FBI angeboten worden war. Pen würde ihn umbringen, sollte sie es herausfinden. Und Memphis hatte den Eindruck, dass die Neuigkeiten auch diesseits des Atlantiks nicht sonderlich gut aufgenommen würden. Erst mal würde er sich also nur mit dem vorliegenden Fall beschäftigen.
„Vielleicht ist er ein wenig von beidem“, sagte er.
Baldwin runzelte die Stirn. „Ein bisschen von beidem? Sie meinen organisiert und desorganisiert?“
„Nein. Er hat schwarze und weiße Frauen umgebracht. Er mag sie beide. Vielleicht ist er selber teils weiß, teils schwarz.“
Das weckte Baldwins Aufmerksamkeit. Er schaute Memphis kurz an und nickte ihm anerkennend zu. „Nette Schlussfolgerung. Das ist eine der Änderungen, die ich in mein neues Profil aufgenommen habe. Ich nehme an, dass er gemischtrassig ist. Das würde erklären, wie er mit beiden Frauentypen in Kontakt gekommen ist. Wir haben keine Hinweise, dass sie gegen ihren Willen gefangen genommen wurden. Ich denke, er wickelt sie mit seinem Charme ein.“
„Oder er engagiert sie. Einige der Straßenmädchen, die wir kennen, würden für Geld beinahe alles tun. Sie lassen sogar zu, dass ihnen wehgetan wird.“
„Ja, das kann auch sein.“
„Schön, dass ich helfen konnte“, sagte Memphis.
„Wir müssen uns diesen Tatort ansehen und schauen, ob es sich dabei um ein weiteres Opfer von Il Macellaio handeln könnte. Ich habe vor, das vollständige Profil morgen in Quantico zu präsentieren. Hören Sie, wir haben noch zehn Minuten, bis wir am See ankommen. Warum bringen Sie mich nicht auf den neusten Stand, was Ihre Seite der Fälle angeht, und ich schildere Ihnen meine Eindrücke? Wir können alles noch mal durchsprechen, gucken, ob sie meinen, es könnte derselbe Mann sein. Wenn Ihr Zeitplan es erlaubt, fahren wir gleich morgen früh nach Quantico anstatt heute Nachmittag – ich würde gerne noch ein Weilchen hierbleiben und mehr von Taylors neuestem Fall sehen. Sind Sie damit einverstanden?“
Hm. Weitere Chancen auf ein Tête-à-Tête mit der blonden Göttin?
„Klingt fabelhaft.“
Er setzte zu einer Zusammenfassung von den Fällen an, die er in den letzten Monaten bearbeitet hatte.
Und zwang Evans Doppelgängerin so gut es ging aus seinen Gedanken.