14. KAPITEL
Nach wenigen Minuten hatten sie Bangors Haus erreicht. Taylor parkte den Truck auf der Straße, Baldwin stellte seinen Suburban direkt dahinter. Hand in Hand gingen sie zur Veranda. Die Tür schwang in dem Moment auf, als sie die erste Treppenstufe betraten.
Hugh Bangor hieß sie mit einem Lächeln willkommen. In der einen Hand hielt er ein bauchiges Glas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit.
„Detectives. Was kann ich für Sie tun? Mr Davis geht gerade meine Bücherregale durch. Kommen Sie rein, kommen Sie rein. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Wein, Tee, Kaffee? Vielleicht einen Schluck vom guten Tennessee-Whiskey?“ Er schüttelte das Glas ein wenig, sodass die Eiswürfel sanft aneinanderstießen. Gentleman Jack. Der Geruch erinnerte Taylor an ihren Großvater. Wenn Bangor jetzt noch eine Pfeife hätte …
Taylor schüttelte Bangors Hand und stellte ihm Baldwin vor. „Mr Bangor, das ist Supervisory Special Agent Dr. John Baldwin vom FBI. Er ist der Leiter der Abteilung für Verhaltensanalyse.“
Bangors Augen leuchteten auf, als er Baldwin anschaute. Die zwei Männer schüttelten sich die Hände. „Meine Güte. Sie sollten Schauspieler sein. Sie sehen umwerfend aus.“
Baldwin schüttelte verwirrt den Kopf und merkte erst dann, dass Bangor ihn sexuell attraktiv fand. Er errötete, und Taylor verliebte sich noch ein kleines bisschen mehr in ihn. So sehr sie es auch genoss, sein Unbehagen zu sehen, warf sie ihm doch eine Rettungsleine zu.
„Heute Abend keinen Whiskey für uns, Mr Bangor. Wir würden auch gerne einen Blick auf einige ihrer Bücher werfen und Tim ein wenig zur Hand gehen. Sie haben eine so riesige Sammlung, dass es sicher schneller geht, wenn sich mehrere Augen umschauen.“
„Aber natürlich. Ich habe für den Officer gerade eine Kanne Chaitee gemacht. Wenn Whiskey heute nicht nach Ihrem Geschmack ist, kann ich Ihnen vielleicht davon etwas anbieten?“
Sie nahmen das Angebot an. Bangors Manieren waren so angenehm. Während sie sich unterhielten, bemerkte Taylor, dass sie jemanden wie ihn gerne als guten Freund hätte. Zu schade, dass sie sich unter diesen Umständen hatten kennenlernen müssen.
Der Chai war cremig und würzig und hatte die perfekte Temperatur. Taylor setzte sich auf die Couch im Wohnzimmer und machte Bangor ein entsprechendes Kompliment.
„Das ist der von Starbucks. Ich kaufe die Beutel bei mir im Supermarkt und setze ihn dann mit frischer Biomilch auf. Ich würde ja pleitegehen, wenn ich ihn jedes Mal in der Filiale kaufen müsste, sobald ich Appetit darauf habe. Also, erzählen Sie, gibt es was Neues in unserem Fall?“
„Bis jetzt nicht viel, Sir. Die Untersuchungen laufen ja erst seit einem Tag. Aber wir haben etwas, dem wir nachgehen wollen.“
„Guter Gott, bitte nennen Sie mich nicht Sir. Da fühle ich mich so alt.“
„Okay. Hören Sie, wir müssen mit Ihnen über etwas sprechen, worauf wir gestoßen sind. Kennen Sie einen Mann namens Arnold Fay?“
Bangor wurde blass. „Warum fragen Sie?“, stieß er gepresst hervor.
„Also kennen Sie ihn“, sagte Taylor.
Bangor nickte und fasste sich mit der Hand an die Kehle. „Arnold und ich haben sehr lange schon nicht mehr miteinander gesprochen.“
Irgendetwas in seiner Stimme, seinen Gesten, machte Taylor misstrauisch.
„Sind Sie sicher?“
Bangor leerte sein Whiskeyglas mit einem Zug und ging dann zur Bar, um sich aus der Kristallkaraffe nachzuschenken. Als er in das Wohnzimmer zurückkehrte und sich auf die Couch setzte, hatte er einen entschlossenen Ausdruck im Gesicht.
„Ja, ich bin mir sicher, dass wir seit mindestens fünf Jahren nicht mehr miteinander gesprochen haben.“
„Wir haben seine Fingerabdrücke auf der Picasso-Monografie gefunden, die wir von Ihrem Couchtisch mitgenommen haben.“
Bangor fiel sichtlich in sich zusammen.
„Ich habe Ihnen nicht die ganze Wahrheit gesagt.“
Taylor verschränkte die Arme vor der Brust und wartete.
„Der Einbruch, den ich erwähnt habe. Ich weiß, wer es war.“
„Arnold Fay nehme ich an?“, fragte sie.
„Ja. Er stahl so viel Geld, wie er nur konnte, und hat mir die Picasso-Monografie als … Andenken dagelassen.“
Bangor seufzte tief. „Arnold war mein Partner. Der, von dem ich Detective McKenzie erzählt habe, er wäre an AIDS gestorben. Ich wünschte, das wäre der Fall. Nun ja, in meinem Herzen ist er tatsächlich gestorben. Es ist nur einfacher, den Menschen zu sagen, dass er tot ist, anstatt die Wahrheit zu gestehen. Er hat … ich bringe es nicht über mich, es auszusprechen.“
„Er hat Ihren Nachbarsjungen belästigt“, beendete Taylor den Satz für ihn.
„Christopher. Ja. Wir hatten unsere Beziehung bereits beendet, als das mit Chris anfing. Ich hatte nur noch nicht das Herz aufgebracht, ihn rauszuschmeißen. Die Hälfte der Zeit war ich ja sowieso nicht da. Aber als all das passiert ist – er behauptete, sie hätten eine Affäre gehabt. Als wenn ein dreizehn Jahre alter Junge in der Lage wäre, eine Entscheidung von so enormer Tragweite zu treffen. Tief im Inneren wusste ich, dass es nicht einvernehmlich gewesen war. Ehrlich, das ist eine Phase, die ich lieber vergessen würde. Er hat das Buch als Entschuldigung dafür dagelassen, dass er das Geld mitgenommen hat. Ich habe es bisher noch nicht über mich gebracht, es wegzuwerfen.“
„Ich habe was gefunden“, sagte Baldwin in diesem Moment. Er brachte ein weiteres Buch über Picasso zu Taylor.
Bangor lächelte. „Picasso ist mein Lieblingskünstler.“
Taylor stellte ihre Tasse ab, zog einen Latexhandschuh aus ihrer Hosentasche, zog ihn über ihre rechte Hand und drehte den Catalogue raisonné so, dass sie ihn anschauen konnte. Tim war ebenfalls zu ihnen gestoßen – alle drei Männer schauten Taylor erwartungsvoll an, als sie nun das Buch von hinten öffnete.
Eine weitere fehlende Seite. Nur ein paar Millimeter scharfkantigen Papiers steckten ganz tief in der Bindung. Der Schnitt war kaum zu erkennen. Er musste mit einem Teppichmesser oder Cutter ausgeführt worden sein. Die Kante war sauber und klar. Wenn man nicht ausdrücklich danach suchte, würde man nie auf die Idee kommen, dass eine Seite fehlte.
„Das ist eine noch bessere Visitenkarte als die Postkarten, das kann ich dir sagen“, bemerkte Baldwin.
„Glauben Sie, der Mörder hat die Seiten aus den beiden Büchern herausgetrennt? Wieso?“
„Gute Frage, Mr Bangor. Haben Sie noch mehr Bücher dieser Art?“
„Ja.“ Er ging ans Bücherregal und holte zwei weitere große Bände heraus. „Ich habe in meiner Sammlung vier Picasso-Monografien. Dieses hier sind die ersten beiden, die ich mir vor Jahren gekauft habe. Das, was Sie in der Hand halten, Detective, habe ich vor zwei Jahren in New York erstanden. Es war der Catalogue raisonné, also das Werksverzeichnis der letzten Picasso-Ausstellung im Museum of Modern Art. Das Buch, das mein Freund mir hinterlassen hat, ist als letztes dazugekommen und auch noch relativ neu.“
Taylor blätterte die Bücher durch. Alle Seiten waren intakt.
„Zwei Ihrer Bücher sind also manipuliert worden. Wir müssen herausfinden, was so Wichtiges auf diesen beiden Seiten gestanden hat.“
Sie ging ans Bücherregal und nahm eine weitere Monografie heraus, dieses Mal eine von Whistler. Sie brachte sie an den Tisch und klappte die Rückseite auf. Dieses Buch war intakt, und sie sah, was vermutlich in den Picassobüchern fehlte. Ein Impressum – mit den Namen der Grafiker und der Druckerei. Alles Informationen, die sie dazu benutzen konnte, die Untersuchung voranzutreiben. Die Stimmung im Raum schlug um – innerhalb von einer Sekunde war aus purer Neugierde eine heiße Spur geworden.
War das das Werk ihres Mörders? Und was versuchte er, damit zu sagen?
„Das ist eine ganz andere Signatur als die, die ich bisher gesehen habe“, sagte Baldwin.
„Es ist ein Fehler.“ Ein seltenes Lächeln erhellte Tims sonst so ernste Züge.
Baldwin nickte zustimmend. „Wenn es der Mörder war, hat er sich verkalkuliert. Auf diesen Seiten steht etwas, das er verbergen will. Etwas ungemein Wichtiges, das wir nicht sehen sollten.“
Tim nahm die zweite Monografie zu den Beweisen auf. Taylor setzte sich wieder aufs Sofa und zog den Handschuh aus. Sie nippte an ihrem Tee und fragte dann Bangor: „Sie haben nicht zufällig noch irgendwo eine Ausgabe davon, oder?“
„Nein, tut mir leid. Ich habe nur diese eine aus New York mitgebracht.“
„Wir werden sie mitnehmen und auf Spuren untersuchen müssen. Vielleicht finden wir Fingerabdrücke.“
„Was glauben Sie, könnte so Interessantes auf der letzten Seite gestanden haben, Detective?“
Taylor lächelte Baldwin an; sie teilten einen Augenblick der Hoffnung. Dann wandte sie sich wieder zu Bangor um.
„In Impressen stehen Namen. Vielleicht auch der von unserem Mann.“