28. KAPITEL

Es war schon nach zwei Uhr nachts, als Baldwin ein Klopfen an seiner Tür hörte. Er schaute auf und sah Memphis im Eingang zu seinem Büro stehen. Um Mitternacht waren sie in Quantico angekommen, und Baldwin hatte für Memphis ein Zimmer in einem der Wohnheime organisiert.

„Sie sollten schlafen“, sagte er. „Wir haben einen langen Tag vor uns.“

„Das Gleiche könnte ich von Ihnen sagen. Ich habe geschlafen, aber meine innere Uhr denkt, es ist Morgen, also hier bin ich. Ich nehme nicht an, dass es hier irgendwo echten Tee gibt? Oder einen Tropfen von etwas Stärkerem?“

Baldwin fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. „Doch, gibt es. Ich hole kurz was und bringe Sie dann auf den neuesten Stand.“

Baldwin ging den Flur zwischen den Arbeitsnischen entlang, in denen sein Team untergebracht war. Technisch gesehen war er der Leiter der Einheit, obwohl er zwischen dem Büro in Nashville und der Behavioral Analysis Unit, abgekürzt BAU, in Quantico hin- und herpendelte. Es gab drei Einheiten für Verhaltensforschung innerhalb der Behavioral Science Unit. BAU Eins: Terrorismus und Gefährdungsanalyse. BAU Zwei: Verbrechen gegen Erwachsene. Und BAU Drei: Verbrechen gegen Kinder. Er leitete seit nunmehr vier Jahren die BAU Zwei. Er hatte seine Finger auch in BAU Eins, auch wenn sein Engagement hier nur drittrangig und sehr, sehr geheim war. Seit den Anschlägen vom 11. September stand Terrorismus auf der Prioritätenliste des FBI ganz oben. Für Baldwin passte das ganz gut – in seiner anderen Rolle erstellte er für die „Operation Engelmacher“ des CIA Profile von Attentätern. Dieser Teil seines Lebens hatte in letzter Zeit zum Glück nur wenig Aufmerksamkeit von ihm verlangt.

Er hatte sein BAU-Team vorgewarnt, dass sie helfen müssten, das Profil für die Metropolitan Police zu vervollständigen. Er hatte für diese Aufgabe zwei hervorragende Profiler ausgewählt: Charlaine Shultz, ein ehemaliger Detective der Mordkommission von Little Rock, die sich durch ein schallendes Lachen und einen unglaublichen Scharfsinn für Mordermittlungen auszeichnete. Und Dr. Wills Appleby, ein ehemaliger Psychiater, mit dem Baldwin seine Assistenzzeit verbracht hatte. Sie hatten sich am ersten Unterrichtstag am John Hopkins kennengelernt, sich vier Jahre gemeinsam durch das Medizinstudium gekämpft und dann die aufreibende Assistenzzeit in der Psychiatrie durchgestanden.

Als sie fertig waren, war Baldwin an die George Washington University gegangen, um seinen Abschluss in Jura zu machen, weil er vorhatte, Medizinethiker zu werden. Stattdessen hatte er jedoch Garrett Woods kennengelernt. Garrett erkannte sofort das Potenzial in ihm, von dem Baldwin nicht einmal wusste, dass er es hatte. Er warb ihn fürs FBI an, was Baldwin nie bereut hatte. Er war jetzt Supervisory Special Agent, und Garrett der Leiter der Behavioral Science Unit.

Baldwin wiederum hatte Wills rekrutiert. Abgesehen von ein paar Leuten aus Hampden-Sydney, wo er zur Schule gegangen war, war Wills sein ältester Freund.

Nicht alle seine Profiler hatten Doktortitel oder eine medizinische Ausbildung. Er hatte früh entdeckt, dass Instinkt nicht gelehrt werden konnte – manche Menschen hatten ihn, andere nicht. Appleby war einer der wenigen Psychiater, die auch Profiler waren; die meisten von Baldwins Mitarbeitern waren ehemalige Polizeiangestellte. Es war einfacher, ihnen die psychologischen Komponenten des Profilings beizubringen, als ihren Instinkt zu trainieren. Praktische Erfahrungen in Ermittlungen, das Lesen eines Tatorts, die instinktive Fähigkeit, ein Gewaltverbrechen in seinem vollen Umfang aufzunehmen, all das konnte man nicht beibringen. Seine Rekruten durchliefen allesamt ein ausführliches, intensives Ausbildungsprogramm. Nur sehr wenige blieben dabei auf der Strecke – er war inzwischen gut darin, herauszufinden, wer gut zu dieser Art von Arbeit passte.

Bis auf einmal. Als er eine Frau namens Charlotte Douglas anheuerte, hatte er einen kolossalen Fehler gemacht.

Unbewusst war er vor dem Büro stehen geblieben, das einst ihres gewesen war. Charlotte hatte sie alle hinters Licht geführt. Sie hatte jeden psychologischen Test des FBI bestanden, war in der Position des Deputy Chief stellvertretende Leiterin der BAU Zwei gewesen. Und die ganze Zeit über hatte sie die Mittel, die den Mitarbeitern des FBI zur Verfügung standen – vor allem CODIS und ViCAP –, genutzt, um Mörder aufzuspüren, an denen sie für ihre eigenen Belange interessiert war.

Gerüchte kursierten, dass Charlottes Computer Material enthielt, das genutzt werden konnte, um bestimmte Agents zu erpressen. Die Untersuchungen liefen noch. Auf Nimmerwiedersehen, dachte Baldwin, doch es tat ihm sofort leid, wie so oft, wenn er an Charlotte dachte. Sie war auf vielen, vielen Ebenen gefährlich für ihn.

Er würde gerne wissen, was ihre kleinen Ordner über ihn sagten. Exliebhaber, so viel stand fest. Er war sich sicher, dass sie vermutlich jede Minute seiner Zeit mit ihr dokumentiert hatte, auch wenn es nur eine sehr kurze Beziehung gewesen war. Aber welche anderen Geheimnisse hütete Charlotte? Sie war eine brillante Frau, ihre Datenverschlüsselung war beinahe unmöglich zu knacken gewesen. Sie hatten bisher nur auf ungefähr ein Drittel dessen, was Charlotte auf ihrem Computer gespeichert hatte, zugreifen können. Es war, als wäre sie ein Codex aus früheren Zeiten, als Codes noch nicht zu entschlüsseln waren, weil sie in einer toten Sprache geschrieben wurden, die niemand mehr entziffern konnte. Charlottes Verstand war ein unentdecktes Land.

Er schüttelte sich, um die Gedanken zu verscheuchen, und sah, dass eine seiner Kolleginnen, Dr. Pietra Dunmore, ihn anschaute. Er fing den Blick aus ihren seidig-braunen, tief zurückliegenden Augen auf und erkannte, dass sie genau wusste, woran er gedacht hatte. Doch sie war zu höflich, um ihn darauf anzusprechen und nickte nur. Sie hatte auch eng mit Charlotte zusammengearbeitet.

„Du solltest längst im Bett sein.“

„Ha“, sagte Pietra. Sie schenkte ihm ein verzagtes Lächeln. „Boss, ich habe die DNA-Proben von Taylor Jackson in CODIS überprüft. Der Mord in Chattanooga war ein Treffer. Ich weiß nicht, warum er nicht aufgetaucht ist, als wir die DNA von London und Florenz haben durchlaufen lassen. Ich habe dem Datenbankteam einen entsprechenden Hinweis geschickt, der Sache nachzugehen.“

Baldwin seufzte. „Könnte einer der Fälle sein, bei denen Charlotte ihre Finger im Spiel hatte. Dann wurde die Anfrage zu ihrer privaten Datenbank umgeleitet.“

„Das ist gut möglich. Wir finden es heraus. Aber Il Macellaio ist definitiv für mindestens einen der vier Morde in Nashville verantwortlich. Derzeit läuft noch eine andere DNA-Prüfung von dem gestrigen Fall, aber die Ergebnisse bekomme ich nicht vor morgen.“

Baldwin wusste nicht, ob er stöhnen oder jubelnd die Faust in die Luft strecken sollte. Es war das Ergebnis, das sie erwartet hatten, aber es warf ihr bisheriges Profil über den Haufen. Memphis’ Annahme, Il Macellaio sei gemischtrassig, war sehr vorausschauend gewesen. Es war die einzig logische Erklärung, wieso er sowohl weiße als auch schwarze Frauen umbrachte.

„Verhungern, erwürgen und Nekrophilie. Das ist echt ein kranker Typ.“ Pietra sah verärgert aus – Baldwin konnte das verstehen. Sie passte perfekt ins Opferprofil der amerikanischen Morde, denn sie war zierlich und schwarz.

Baldwin fuhr sich mit den Händen durch die Haare und sagte: „Okay, lass mich das ins offizielle Profil mit eintragen. Ich arbeite schon die ganze Zeit parallel mit dieser Theorie, nur für den Fall. Wird nicht länger dauern als eine halbe Stunde.“

„Ich helfe dir gerne.“

„Ist schon okay. Morgen wird ein langer Tag. Sieh zu, dass du noch ein wenig Schlaf abbekommst.“

„Wie du meinst, Boss.“ Sie ging den Flur entlang zum Ausgang. Schon wieder tief in Gedanken versunken, setzte Baldwin seinen Weg zu Garrets Büro fort.

Der Mörder hatte bei seinen Reisen über den Atlantik seinen Modus Operandi definitiv verändert. Die Morde von Florenz und die beiden letzten Morde in Nashville waren am ausgefeiltesten. Die Londoner Morde kamen ihm mehr wie Verbrechen aus Gelegenheit vor. Il Macellaio lebte damals in Florenz, wo er sich auskannte. Was bedeutete, dass er auch in Tennessee ein Zuhause haben musste. Einen privaten Ort. Ein eigenes Zimmer.

Die Londoner Morde waren nur zur Übung gewesen. Irgendetwas hatte ihn dorthin geführt – die Arbeit, eine Frau, Urlaub. Il Macellaios Triebe waren so übermächtig geworden, dass sein Drang zu töten ihn überwältigt hatte. Obwohl er weit weg von seinem Heimatort war, außerhalb seiner Komfortzone, konnte er damit nicht warten, bis er wieder nach Florenz zurückkehrte. Drei Monate, so lange hatte die Mordserie angedauert. Okay, er hatte also drei Monate lang in London gelebt oder war zumindest regelmäßig zu Besuch dort gewesen. Was aber hatte ihn nach Tennessee verschlagen?

Baldwin trödelte. Er ging ans Ende des Flurs zum Büro seines Bosses. Garrett war im Moment in Washington D. C., aber Baldwin wusste, dass er eine Flasche in seinem Schreibtisch versteckt hatte. Der Kopf der Behavioral Science Unit war auch ein Scotch-Mann. Normalerweise bewahrte er ihn in der unteren linken Schublade auf; ja, da war er. Dewar’s White Label. Baldwin schüttelte die Flasche. Mehr als genug für einen Absacker.

Er kehrte zu seinem Büro zurück. Dieser Fall nagte an ihm. Vielleicht verlor er langsam seinen Instinkt. Seinen Fokus. Er hatte lange gegen die Erkenntnis angekämpft, dass er mit Taylor in seinem Leben sich mehr und gleichzeitig weniger um seinen Job scherte als jemals zuvor. Jede Minute, die er von ihr getrennt verbrachte, war zu lang. Vielleicht trübten seine Gefühle sein Urteilsvermögen. Vielleicht müsste er seine Rolle im BAU neu überdenken, seine Motivation, seine Ziele. Überprüfen, ob er wirklich in diesem Job bleiben oder Vollzeit zurück nach Nashville ziehen wollte. Oder versuchen, Taylor zu überzeugen, seinem Team in Quantico beizutreten, wo er ein Auge auf sie haben konnte. Der Pretender würde nicht aufgeben, bis er sie beide zerstört hatte. Könnte er damit leben, wenn ihr etwas zustieße? Auf keinen Fall. Das wäre sein endgültiger Untergang.

Er schob diese Gedanken mit aller Macht beiseite. Er würde sich ihnen wieder zuwenden, sobald dieser Fall vorbei war. Il Macellaio verfolgte ihn. Irgendetwas übersah er. Irgendetwas Wichtiges, das ihnen alle Antworten liefern würde.

Aber was?

Memphis schlich durch Baldwins Büro. Dabei fiel ihm das gerahmte Bild auf dem Schreibtisch ins Auge. Es war ein unglaublich entzückendes Bild von Taylor, das ihre strahlende Haut, ihre honigblondes Haar, die grauen Augen und weichen Lippen gut zur Geltung brachte. Sie lächelte verträumt und war sich der Kamera überhaupt nicht bewusst gewesen, das sah er sofort.

Gott, sie sah Evan so ähnlich.

Ja, die Augen hatten die falsche Farbe, aber der Mund, der fordernde Blick. In den Schatten von Taylors Gesicht konnte er Evan sehen.

Er vermisste sie bereits. Er war sich nicht sicher, was ihn an Taylor Jackson so anzog. Ihr Gesicht. Ihre Intelligenz. Die Tatsache, dass sie lebte und Evan tot war? „Scheiße“, sagte er leise.

Endlich kehrte Baldwin mit einer Flasche Dewar’s und zwei geschliffenen Kristallgläsern zurück. Eins musste man dem Mann lassen, er hatte Geschmack.

Baldwin stellte die Gläser auf den Tisch und goss in jedes drei Finger hoch Whiskey.

„Alkohol im Dienst?“, fragte Memphis.

„Könnte uns beiden helfen, zu schlafen“, erwiderte Baldwin.

„Ja, vielleicht.“ Memphis stieß mit Baldwin an. „Ja, vielleicht tut es das.“