40. KAPITEL

Gavin und Tommaso tranken einen Espresso, aßen Spaghetti Carbonara und verbrachten den Abend damit, einander kennenzulernen und die verlorenen dreißig Jahre aufzuholen.

Gavin war überglücklich. Hier war seine andere Hälfte, das fehlende Stück. Er hatte sich noch nie zuvor so vollständig gefühlt. Nicht einmal die Puppen konnten ihm diese Art der Freude schenken.

Er war immer noch erstaunt über ihre körperliche Ähnlichkeit. Es gab nur zwei erkennbare Unterschiede: Tommasos Haare und der leicht unterschiedliche Akzent. Gavin hatte vor einigen Monaten angefangen, sich den Kopf zu rasieren. Er mochte das Gefühl der nackten Haut. Außerdem ließ er so weniger Spuren zurück. Seine Stimme hatte den weichen, melodischen Klang der Südstaaten, während Tommaso ein relativ unbetontes Englisch sprach.

Nach dem Essen hatte Tommaso einen Blick auf Gavins Kopf geworfen und war daraufhin im Badezimmer verschwunden. Er kehrte mit einem rasierten Schädel zurück. Zum Glück arbeitete er nicht draußen, sodass es kaum einen Unterschied zwischen seinem Gesicht und der frisch rasierten Haut gab. Jetzt würde niemand sie mehr auseinanderhalten können.

Bisher hatten sie entdeckt, dass sie beide fanatische Fans von Manchester United waren, wenn auch aus vollkommen unterschiedlichen Gründen. Gavin hatte sich angezogen gefühlt, weil die Mannschaft nach seinem Heimatort benannt war, Tommaso, weil sie die Lieblingsmannschaft seines Adoptivvaters gewesen war. Beide rührten die drei Löffel Zucker in ihrem Espresso mit dem Stil des Kaffeelöffels um, beide reinigten ihre Zähne schon beinahe manisch zwei Mal am Tag mit Zahnseide, beide hatten im Alter von drei Jahren einen Leistenbruch, der operiert werden musste, und beide wurden beim Anblick von Blut ohnmächtig.

Aber es war ihre leidenschaftliche Hingabe an die Kunst, die Gavin am meisten faszinierte.

„Ich denke immer noch, ich träume“, sagte er. „Hier sitze ich nun einem der talentiertesten Fotografen der Welt gegenüber, dem Mann, von dem ich seit Jahren ein Fan bin, und er ist mein eigen Fleisch und Blut. Ich kann es immer noch nicht glauben. Ich wusste wirklich nicht, dass du Morte bist.“

„Ich wollte nicht, dass du es weißt, Gavin. Ich musste herausfinden, ob du wie ich bist, und die einzige Möglichkeit, das zu tun, war, eine Welt zu erschaffen, in der du aufblühen konntest. Ich wollte das Beste für dich, wollte dich wissen lassen, dass du nicht alleine bist.“

Sie wuschen das Geschirr ab und machten es sich dann mit einem Grappa auf der butterweichen Ledercouch gemütlich. Gavin fühlte sich betrunken – die Zeitverschiebung, der Wein und jetzt der Grappa waren zu viel für ihn.

Tommaso ging an seine Stereoanlage und wählte eine CD aus. Die ersten Töne von Beethovens Klaviersonate Nummer 14 schwebten durch den Raum. Gavin war in seinem ganzen Leben noch nie so allumfassend glücklich gewesen.

„Wann hast du es gewusst, Tommaso? Wann ist es dir das erste Mal bewusst geworden?“

„Das erste Mal.“ Ein verträumter Ausdruck legte sich über Tommasos Gesicht. „Meine Mutter hat auf der Aviano Airbase im Krankenhaus gearbeitet. Nach der Schule bin ich immer dort abgesetzt worden und musste diese langen Flure entlanggehen, um zu ihr zu kommen. Die Leichenhalle war im gleichen Gebäude, und eines Tages habe ich mich hineingestohlen. Es war berauschend. Der Geruch, die Spannung. Direkt hinter der Tür lag eine Frau auf einer Bahre. Man hatte sie bestimmt aus irgendeinem Grund dort abgestellt, aber ich wusste nicht, warum. Ich fuhr mit meiner Hand unter das Tuch, das sie bedeckte. Sie war so kalt, so steif. Ich bemerkte, dass ich eine Erektion hatte, und masturbierte. Meine Unterwäsche versteckte ich danach in einem Abfalleimer, damit meine Mutter es nicht bemerken würde. Danach konnte ich nicht mehr anders, ich verbrachte jeden Nachmittag ein wenig Zeit dort. Sie hatten keine Wache da, und es war leicht für mich, hineinzugelangen und zu spielen. Es war eine wunderschöne Zeit.“

„Das ist so schön. Mein erstes Mal war eine Freundin. Ich hatte immer schon davon geträumt, mit ihr zusammen zu sein, aber sie war so lebhaft, so laut. Ich ziehe die Stille vor, die Bewegungslosigkeit. Eines Nachmittags haben wir uns gestritten, und ich habe sie geschlagen. Sie fiel hart auf den Boden und war endlich ruhig. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wusste nur, dass sie schwer verletzt war und ich verdammt viel Ärger bekommen würde. Ich habe sie dann in die Badewanne gelegt, Wasser eingelassen und sie so lange untergetaucht, bis ihr Herz aufhörte, zu schlagen. Aber sie so nackt zu sehen … ich konnte mich nicht zurückhalten. Ich habe sie wieder aus der Wanne geholt. Ich musste fühlen, wie es war, in ihr zu sein. Danach gab es für mich kein Zurück mehr und ich habe versucht, den Drang so gut es geht zu unterdrücken.“

„Das habe ich gar nicht erst versucht. Ich konnte nicht. Das Verlangen, der Trieb war einfach zu stark.“

„Deshalb hast du angefangen, sie schneller zu töten?“

„Ja. Ich konnte nicht mehr warten.“

„Ich mag es immer noch, mir Zeit zu lassen. Ich mag die Vorfreude.

Es ist wie eine Belohnung für gutes Verhalten. Warum glaubst du, sind wir so, Tommaso?“

„Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht. Wir arbeiten innerhalb der Ekstase der Liebe, du und ich. Es gibt keine gute Erklärung.“

„Weißt du auch, wer Necro ist?“

„Nein, das weiß ich nicht. Ich habe ihn gefunden, als ich nach dir gesucht habe. Eine Weile dachte ich sogar, er könnte du sein. Er ist aber nicht so weit entwickelt wie wir.“

„Das stimmt.“

Sie saßen ein paar Minuten schweigend da, dann sagte Gavin: „Tommaso, nachdem du es schließlich wusstest, wieso bist du da nicht direkt zu mir gekommen? Warum hast du mich nicht von Anfang an wissen lassen, dass du mein Bruder bist? Wie lange hast du es schon gewusst?“

Tommaso kippte den Grappa hinunter und schenkte sich nach. „Nur ein Jahr. Als meine Mutter starb, hat sie mich ins Vertrauen gezogen. Ich wusste, dass ich adoptiert war, aber das war zwischen uns nie ein Thema gewesen. Meine Eltern liebten mich, so wie sie ihr eigen Fleisch und Blut geliebt hätten. Aber sie hatten mir nie erzählt, dass ich ein Zwilling war. Mein Vater ist vor sechs Jahren gestorben, also gab es nur noch meine Mutter und mich. Wenn sie ginge, hätte ich niemanden mehr gehabt. Ich schätze, sie wusste, wie fürchterlich einsam ich sein würde, und so hat sie mir das wichtigste Geschenk meines Lebens gemacht. Mit ihrem Tod wurdest du geboren.“

„Also wusste sie die ganze Zeit meinen Namen?“

„Nein, den wusste sie nicht. Sie wusste nur, dass wir von der Adoptionsagentur getrennt worden waren. Mehr Informationen besaß sie nicht, weder deinen Namen, noch wer deine Eltern waren, wohin du vermittelt worden warst. Anfangs war ich wütend, aber dann habe ich mich auf die Suche nach dir gemacht. Es gibt eine Datenbank, bei der man sich anmelden kann, um seine biologischen Eltern zu finden. Ich habe mich beworben, und da sie verstorben waren, erhielt ich die Informationen sehr schnell. Von da aus habe ich mich dann auf die Suche gemacht. Unsere leibliche Mutter war verrückt, weißt du. Schizophrenie. Eines Abends hat sie die Kontrolle verloren und hat erst unseren Vater und dann sich erstochen. Wir waren danach noch mindestens einen Tag lang in der Wohnung. Die Zeitschriften haben wochenlang darüber berichtet. Ist ja auch eine zu schöne Geschichte, das Grauen der beiden Babys allein mit ihren toten Eltern. Dann hat uns das Jugendamt an Louise Wise übergeben, die uns getrennt vermittelt hat. Den Rest der Geschichte kennst du ja.“

„Mein Gott. Hast du die Berichte? Ich würde sie gerne auch einmal lesen.“

„Natürlich. Dafür werden wir noch ausreichend Zeit haben.“ „Es muss nett sein, gute Eltern zu haben. Meine waren nicht sonderlich angenehm.“

„Ich habe dir applaudiert dafür, dass du sie getötet hast. An dem Tag bist du zum Mann geworden.“

Gavin rutsche unbehaglich hin und her. Er mochte es nicht, an diesen Teil seiner Vergangenheit erinnert zu werden. Tommaso hatte recht; er war an dem Tag wiedergeboren worden. Genau, wie er gestern wiedergeboren worden war, als Tommaso ihm erzählt hatte, wer er wirklich war. Er hatte noch eine lange Reise vor sich. Tommaso war so gebildet, so viel mehr ein Künstler, als er selber.

„Ich hatte keine Wahl. Es war entweder sie oder ich. Ich konnte es nicht länger ertragen.“

„Es tut mir leid, dass du es so schwer hattest. Sprechen wir lieber von etwas Schönerem, etwas, das dich glücklich macht. Erzähl mir von deiner Letzten – Ophelia im plätschernden Bach. Hast du die Fotos? Ich habe Millais gesehen, als ich in London war. Es ist ein traumhaftes Bild.“

Gavin ging zu der Tasche, die er als Handgepäck dabei gehabt hatte, und holte den USB-Stick heraus.

„Hast du etwas, wo ich den hineinstecken kann?“

„Was ist das? Wo ist dein Laptop?“

„Den habe ich zu Hause gelassen. Ich hatte mir Sorgen gemacht, sie würden mich an der Sicherheitskontrolle bitten, ihn anzuschalten und könnten dann die Bilder finden. Also habe ich sie auf diesen Stick überspielt.“

Tommaso starrte ihn mit einem Ausdruck reinsten Entsetzens an.

„Wenn du die Originale vernichtet hättest, wie ich es dir gesagt habe, hätte niemand etwas auf deinem Laptop finden können.“ Seine Stimme wurde immer lauter. „Du hast ihn in deinem Haus gelassen? Hast du wenigstens die Festplatte zerstört?“

„Äh, nein. Ich habe sie mit einem Passwort geschützt.“

Tommaso stand wütend auf. Sein Gesicht sah nicht länger vertraut aus. Einen kurzen Moment lang fragte Gavin sich, ob er auch so aussah, wenn er wütend war, und ein leichter Schauer durchfuhr ihn. Tommasos Fäuste waren geballt, seine Schultern angespannt. Instinktiv duckte Gavin sich ein wenig und versuchte, etwas Abstand zu schaffen.

„Bitte, bitte sag mir, dass du das Mädchen getötet hast, Gavin. Sag mir, dass du nicht noch mehr Beweise hinterlassen hast.“

Gavin erkannte, dass er einen riesigen Fehler gemacht hatte. „Es tut mir leid. Ich habe ihr eine Überdosis Heroin gespritzt. Auf gar keinen Fall kann sie das überlebt haben. Sie müsste in der Nacht gestorben sein. Und ich dachte, wenn ich wieder nach Hause komme … Und ich muss wieder nach Hause, Tommaso. Ich muss mich um Art kümmern. Ich habe ihm nur ausreichend Futter für eine Woche hingestellt. Ich kann ihn nicht verhungern lassen.“

Tommaso wurde ganz blass. „Heilige Mutter Christi. Du machst dir Sorgen um eine blöde Katze?“

Gavin war am Boden zerstört. Wie konnte er nur so etwas über Art sagen?

Tommaso ging in die Küche, nahm das Telefon zur Hand und wählte eine Nummer. Innerhalb weniger Sekunden sprach er in rasend schnellem Italienisch.

Kurz darauf kehrte er ins Wohnzimmer zurück. Wut hatte sich in seine Gesichtszüge gegraben.

„Ich habe gerade mit einem Freund gesprochen, der für die Carabinieri arbeitet. Ein Freund, mit dem ich viele intime Momente geteilt habe. Er hat mir erzählt, dass das FBI in Florenz gelandet ist. Sie haben deinen Computer. Sie vermuten, dass der Tommaso der Kunstwelt Il Macellaio ist. Wir müssen hier weg. Sie wissen vermutlich schon, wo wir sind. Du hast sie direkt zu mir geführt. Du Idiot!“

Von seinem Bruder angeschrien zu werden ließ alle kürzlich erst wieder zusammengewachsenen Scherben seiner Seele erneut zerbrechen. Von Tommaso Idiot genannt zu werden tat mehr weh als alle Schläge, die er von seinen Adoptiveltern erhalten hatte. Sie hatten sich mit dem Gürtel abgewechselt, hatten ihm die Haut vom Rücken, von den Beinen geschlagen. Seine Finger gebrochen. Doch nichts davon hatte sich auch nur ansatzweise so schlimm angefühlt.

Er versuchte, sich zu wehren. „Ich bin kein Idiot. Niemand kann das Passwort knacken, es ist viel zu einzigartig. Auf gar keinen Fall hat mein Laptop sie zu dir geführt.“

„Gavin, bist du total bescheuert? Auf dem Laptop befindet sich meine IP-Adresse, die wiederum direkt zu meiner Wohnung nachverfolgt werden kann. Wir müssen los. Wir müssen sofort hier weg.“

Gavin erhob sich. In seinem Kopf drehte sich alles von dem Alkohol und der Wut, die sich anfühlte, als würde sie aus ihm selbst heraus entströmen. Seine Persönlichkeit schien in zwei Teile zerbrochen zu sein; mit einem Mal sah er die Stimmen, die er sonst nur in seinem Hinterkopf gehört hatte. Sein Ärger verlieh ihm Mut. Er war kein Idiot.

„Du bist nicht fair. Ich habe alle unsere Chats gelöscht.“

„Das ist egal. Mein Gott, du arbeitest doch mit Computern. Du weißt, dass nichts wirklich jemals gelöscht ist, außer man formatiert die Festplatte neu, und selbst dann lassen sich noch Spuren finden. Das FBI ist hier, in Italien, auf meinem Grund und Boden. Sie suchen nach uns. Verstehst du das nicht? Wir könnten alles verlieren.“

„Es tut mir leid“, flüsterte Gavin.

Tommaso nahm die Entschuldigung nicht an. Er lief eilig durchs Wohnzimmer in sein Schlafzimmer, wo er Kleidung und Taschen und alles, was er greifen konnte, einpackte. Dann ging er in die Küche und packte ein paar Lebensmittel ein.

Gavin schaute ihm ungläubig zu. „Ich wollte dir keinen Ärger machen. Ich war nur so aufgeregt, dich endlich zu treffen. Ich habe nicht richtig nachgedacht.“

Tommaso kam zur Couch und packte Gavin hart bei den Schultern. Er schaute direkt in seine Seele und zog ihn dann an seine Brust. „Ich weiß. Ich weiß, Gavin. Ich weiß, wo wir hingehen können. Aber du musst mir versprechen, dass du von jetzt an genau das tun wirst, was ich dir sage. Ich bin die einzige Hoffnung, die du noch hast.“