30. KAPITEL

Gavin stand um sieben auf. Er war müde und alles tat ihm weh. Den Großteil der Nacht hatte er im Keller verbracht und die Puppe beobachtet und sich dabei Sorgen gemacht, wer wohl an seine Tür geklopft haben könnte.

Gähnend ging er in die Küche. Art saß kläglich miauend vor seiner Futterschüssel. Ach, verdammt!

Gavin verfluchte seine Zerstreutheit – in der Aufregung, die ihn gepackt hatte, nachdem er Kendra reif zum Pflücken am Straßenrand gefunden hatte, hatte er ganz vergessen, Katzenfutter einzukaufen. Art fraß mehr, als ein Kater seiner Größe fressen sollte, und ständig ging Gavin das Futter aus. Er sollte sich vielleicht so einem Club anschließen und es in Großmengen kaufen. Er kam nur nie dazu – es war einfacher, Arts Futter zu kaufen, wenn er sowieso für sich einkaufen ging.

Es nützte nichts, die Katze musste fressen. Er stellte sicher, dass das Haus gut verschlossen war, und fuhr die fünf Meilen zum nächsten Publix. Schnell lief er durch die Gänge und packte mehrere Dosen Nassfutter und einen Zehnkilobeutel Trockenfutter ein. Das sollte eine Weile reichen.

An der Kasse fing er an, über gestern nachzudenken. Über sein Glück. Seine Stimmung hob sich. Er war so aufgeregt, dass er seine Brieftasche fallen ließ. Er musste sich beruhigen, sonst würde es noch jemandem auffallen. Er bezahlte das Katzenfutter, packte es in wiederverwertbare Tüten und ging zu seinem Prius. Er konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen, um zu sehen, ob er nur geträumt hatte oder wirklich eine neue Puppe auf ihn wartete.

Er war zwei Meilen von seinem Haus entfernt, als er einen Streifenwagen der Metro am Straßenrand stehen sah. Der Officer, der darin saß, hatte seine Radarpistole auf ihn gerichtet. Gavin machte sich keine Sorgen, er fuhr nie zu schnell. Aber zu seiner Überraschung fädelte der Officer direkt hinter Gavin in den Verkehr ein und stellte dann das Blaulicht an.

Panik machte sich in Gavin breit. Die konnten doch nicht … nein, so schnell konnten sie ihm nicht auf die Spur gekommen sein, oder? Hatte die Puppe es geschafft, sich aus der Kiste zu befreien oder sonst irgendwie um Hilfe zu rufen? Das Klopfen in der Nacht; war derjenige zurückgekehrt und irgendwie ins Haus gekommen? Oh Jesus, was sollte er denn jetzt machen?

Die blau-weißen Lichter blinkten immer noch hektisch hinter ihm. Er wusste, dass er keine Chance hatte zu entkommen, also fuhr er an den Straßenrand und hielt an. Bluffen. Er könnte bluffen. Überlege, was Morte tun würde, wenn man ihn so erwischte.

Er schluckte einmal schwer, ließ das Fenster hinunter und seine Gedanken noch einmal zu der Szene nur wenige Stunden zuvor zurückeilen, als die sinnliche Kendra an seiner Seite aufgetaucht war. Dieses Mal war es kein umwerfendes junges schwarzes Mädchen, sondern ein dicklicher, kräftiger sandblonder Police Officer. Ein Gewichtheber. Gavin erkannte die Anzeichen; er war selber ein großer Fitnessfan, auch wenn er wesentlich schlanker war als dieses Ungeheuer. Der Officer stieg aus und kam langsam zur Fahrertür. Die linke Hand hatte er an der Hüfte, mit der rechten berührte er im Vorbeigehen das Heck des Wagens. Er lächelte nicht, als er ans Fenster trat, sondern schaute Gavin aus ernsten Augen an.

„Führerschein und Fahrzeugpapiere, bitte“, sagte er.

Gavin suchte nach dem Verlangten. Er schaffte es, sein Portemonnaie aus der Tasche zu nesteln und den Führerschein herauszuziehen. Der Kfz-Schein. Wo war der Kfz-Schein? Oh, stimmt, in der Mittelkonsole, mit einer Briefklammer an die Versicherungsbestätigung geheftet. In Tennessee wurde der Nachweis einer Versicherung verlangt. Fehlte der, konnte es empfindliche Strafen bis hin zum Verlust des Führerscheins geben – etwas, das Gavin nie riskieren würde.

Ohne ein Wort zu sagen, reichte er alles dem Officer. Gavin war zu Tode erschrocken. Der Officer nahm die Papiere und ging zu seinem Wagen.

Es dauerte fünf Minuten, bis er zu Gavin zurückkehrte.

„Wissen Sie, warum ich Sie herausgewinkt habe?“, fragte er.

„N-Nein“, stotterte Gavin. Reiß dich zusammen, Gavin. „Nein, Sir.“ Seine Stimme zitterte. Der Officer bemerkte es.

„Alles okay mit Ihnen?“, fragte er.

„Ja. Ja, natürlich. Tut mir leid, ich bin noch nie angehalten worden.“

Der Polizist wurde zugänglicher. „Noch nie?“

„Nein, nie.“ Gavin brachte ein schmales Lächeln zustande.

„Nun, Sie sind nicht angeschnallt. Das ist eine Ordnungswidrigkeit, für die eine Geldbuße verhängt wird. Ich muss Ihnen leider einen Strafzettel ausstellen. Sie können den Betrag entweder überweisen oder am 17. Juli im Gericht erscheinen. Da das Ihr erster Verstoß ist, wird es keinen Eintrag in ihrem Register geben. Wenn ich Sie wäre, würde ich die Strafe einfach bezahlen.“

Gavin hatte kein Wort verstanden. Der Polizist würde ihn gehen lassen. Sein Gurt! Gavins Hand wanderte wie von selbst zu seiner Schulter. Tatsächlich, er hatte sich nicht angeschnallt. Was für ein Fehler. Normalerweise vergaß er nie, den Gurt anzulegen. Zerstreut. Das war es. Er war einfach zerstreut. Schnell steckte er den Gurt ins Schloss.

„Natürlich, ja, ich verstehe. Ich danke Ihnen vielmals. Sie sind sehr freundlich.“ Vielleicht trug er zu dick auf. „Ich meine, ich werde das Ticket natürlich bezahlen.“ Halt den Mund, Gavin.

Der Officer reichte ihm den Strafzettel und wünschte ihm einen schönen Tag. Gavin sah ihm hinterher, wie er zu seinem Streifenwagen ging und etwas in sein Funkgerät sprach. Er war sich nicht sicher, ob er fahren durfte oder nicht, also wartete er noch einen Augenblick und drehte dann vorsichtig den Schlüssel im Zündschloss, setzte den Blinker und fuhr langsam zurück auf die Straße. Der Polizist folgte ihm nicht.

Er überlegte, ob er an seinem Haus vorbeifahren sollte, aber der Cop hatte seine Adresse sowieso schon, also hatte es keinen Sinn, so zu tun als würde er nicht dort wohnen.

Er musste die Puppe sofort loswerden. Was für ein schrecklich deprimierender Gedanke. Er musste mit Morte sprechen. Morte würde ihm sagen, was er zu tun hätte. Aber Morte sprach nicht mehr mit ihm. Seit dem Vorfall gestern hatten sie keinen Kontakt mehr gehabt. Jetzt steckte Gavin in Schwierigkeiten und der Einzige, an den er sich wenden konnte, war Necro.

Zuhause angekommen schloss er die Kellertür auf und rannte die Treppen hinunter. Er fuhr den Computer hoch und eröffnete einen privaten Chat mit Necro. Keine Antwort. In dieser Stunde der Not schienen ihn alle seine Freunde zu verlassen.

Er musste es noch ein letztes Mal mit Morte probieren. Betteln, flehen, was immer nötig war.

Er tippte die Worte ein, kaute nervös auf seiner Unterlippe. Er hörte nichts außer dem Klappern der Tasten unter seinen Fingern.

Morte, ich stecke in Schwierigkeiten. Ich brauche deine Hilfe. Ich schwöre bei meinem Leben, ich wusste nicht, dass es eine Verbindung auf professioneller Ebene zwischen uns gibt. Ich versuche immer noch, das zu verdauen. Aber bitte, vergib mir, und sei es nur für diesen einen Moment. Sprich mit mir. Ich brauche dich. Bitte.

Er lehnte sich zurück und dreht sich auf dem Stuhl herum, um die Puppe anzusehen. Sie starrte ihn an. Er sah die Wut in ihren Augen. Wärme breitete sich in seiner Brust aus. Er nahm seine Kamera und fing an, Fotos zu machen. Er ging darin so sehr auf, dass er beinahe das diskrete Klingeln überhört hätte, das eine neue Nachricht ankündigte. Die Puppe schloss ihre Augen, und der Bann war gebrochen. Er kehrte zu seinem Stuhl zurück, erfreut und erleichtert, das blinkende Icon zu sehen.

Morte war in den Chatroom zurückgekehrt.

Sag mir die Wahrheit, Gavin. Das gestern war ein Zufall?

Gavins Herz pochte in seiner Kehle. Sein Gehirn verweigerte die Arbeit – seine Finger tippten wie von selbst die Buchstaben.

Du sprichst von der E-Mail, die ich an Tommaso geschickt habe? Ja. Das war ein Zufall. Morte, sag mir die Wahrheit. Bist du Tommaso?

Eine Pause, dann erschienen zwei Buchstaben auf dem Bildschirm.

Ja.

Gavin spürte, wie seine Welt vor ungeahnten Möglichkeiten förmlich zerbersten wolle. Tommaso war Morte. Tommaso. War. Il Morte. Tommaso, der Mann, dessen Arbeit er am meisten bewunderte, der Künstler, der unglaublichste Fotograf der Kunstwelt, war tatsächlich auch der Architekt seiner Online-Welt, seiner geistigen Gesundheit. Er war der Mann, der Gavin befreit hatte. Der Mann, der ihn ermutigt, ihn wie einen Bruder geliebt hatte. Der Gavin die einzige wahre Familie seines Lebens geschenkt hatte – die alte Hexe, die ihn adoptiert hatte, zählte nicht.

Er wusste nicht, was er tun sollte.

Gavin, bist du noch da?

Gavin kämpfte gegen die Tränen an, als er antwortete.

Ich wusste es nicht. Das schwöre ich. Ich wusste es nicht. Bitte sei nicht mehr böse auf mich.

Ich glaube dir, Gavin. Es gibt keinen Weg, wie du mich hättest aufspüren können. Ich habe das Gefühl, es handelt sich um eine göttliche Fügung. Wir sind dazu bestimmt, auf diese Weise zusammen zu sein. Durch unsere Worte und unsere Taten. Du bist ein gelehriger Schüler gewesen.

Langsam bekam Gavin wieder Luft. Alles würde gut werden. Morte würde es schon richten. Das hatte er immer getan.

Nun erzähl mir, was los ist.

Oh, Morte, ich habe ein Ticket bekommen.

Ein Ticket? Du meinst, einen Strafzettel für zu schnelles Fahren?

Nein.

Gavin musste ihm alles erzählen. Die Geschichte brach nur so aus ihm heraus, Tippfehler verunstalteten seine Worte, als er sie ohne darauf zu achten auf den Bildschirm fließen ließ. Als er fertig war, lehnte er sich heftig keuchend zurück.

Oh, du dummer, dummer Junge. Du weißt es doch besser. Du musst die Puppe loswerden. Du bist jetzt auf deren Radar, ob sie nun etwas wissen oder nicht.

Ich kann sie nicht loswerden. Es ist noch nicht an der Zeit.

Dummkopf! Verstehst du denn nicht? Denk einen Moment lang nach, Gavin. Du kannst es nicht riskieren, alles zu verlieren. Erwürg die Schlampe und gut ist. FANG JA NICHT AN, MIT IHR ZU SPIELEN. Entsorge ihre Leiche an einem ruhigen Ort, richte sie nicht her, hinterlasse keinen Hinweis, nichts, was zu dir zurückverfolgt werden kann.

Es entstand eine kleine Pause, dann tauchte eine weitere Nachricht auf.

Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir uns persönlich kennenlernen. Hast du einen Reisepass?

Ja, habe ich.

Entsorge das Mädchen, pack eine Tasche. Ich schicke dir Anweisungen und ein Flugticket. Folge den Anweisungen genau, Gavin. Wir können es nicht riskieren, dass man dich schnappt.

Morte?

Ja.

Du nennst mich Gavin. Woher kennst du meinen echten Namen?

Gavin hasste es, sich von seinen Puppen zu verabschieden.

Der Schein des Bildschirms badete ihn in dumpfes Grau. Er blätterte die Bilder durch, die er gemacht hatte. Eines nach dem anderen. Langsam, ganz langsam. Das Licht blitzte über sein Gesicht, als er zum nächsten Foto vorblätterte. Sein Finger auf der Maus wurde ganz feucht, ein Schweißtropfen fiel auf das Kabel. Er glitt an dem weißen Wurm entlang und fiel zu Boden, wo er auf dem Beton einen dunklen Fleck hinterließ.

Klick.

Das war sie. Seine Favoritin. Oh, das Feuer der Wut in diesen großen, braunen Augen. Die Röte, die aus der Tiefe aufstieg und ihre Wangen in Brand setzte. Er konnte förmlich hören, wie die Perlen an ihren Zöpfen protestierend klickten. Sogar die kleinen Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken sahen zornig aus.

Trotzig, das war das beste Wort für sie. Sie weigerte sich, sich ihm zu beugen. Weigerte sich, einzugestehen, dass ihr Leben bald enden würde. Er sah es, es drängte sich durch die geweiteten Pupillen, eine beinahe krankhafte Hoffnung, dass er sie nicht umbringen würde.

Klick. Er blätterte weiter, kehrte aber schnell wieder zu einem früheren Bild zurück. Das einzige Geräusch war sein angestrengter Atem. Er beobachtete sich einen Moment selber. Er hechelte wie ein Hund. Widerlich. Schnell brachte er seinen Atem unter Kontrolle und wandte sich dann wieder dem Bildschirm zu.

Da war wieder der Funke, genau da, im vierten Bild. Oh, die Kraft in diesen Augen. Der schmale Kiefer, die ausgehöhlten Wangenknochen, das herausstechende Schlüsselbein. Nur die Andeutung ihrer Brüste, eine ganz leichte Schwellung. Die Erinnerung an diese dunkelroten Nippel.

Klick.

Das nächste Foto war nicht so berauschend. Der Funke war in Resignation umgeschlagen. Er hatte den Augenblick perfekt eingefangen. Ihm war allerdings die rechtschaffene Empörung lieber gewesen, die er durch die Linse gesehen hatte, obwohl er zugeben musste, dass auch der Augenblick der Wahrheit etwas für sich hatte.

Klick. Klick.

Klick, klick. Klick, klick.

Er sollte wirklich auf Tommasos Anweisungen hören und seine Festplatte vernichten, alles löschen. Er konnte den Computer sowieso nicht mit auf die Reise nehmen, falls er irgendwie jemand anderem in die Hände fallen würde. Sein Finger schwebte über der Maus. Er konnte es nicht. Er konnte nicht seine ganze Welt zerstören. Er nahm einen leeren USB-Stick und kopierte alle Bilder darauf. Dann öffnete er ein Administrationsprogramm und entwarf ein Passwortschutzsystem, das alle Daten verschlüsseln würde. Niemand würde das Passwort je herausfinden. Während er das alles tat, sprach er laut vor sich hin, sprach mit der Puppe. Ach, sie war so süß. Nachdem er fertig war, machte er alle Geräte aus.

Trotz Tommasos Anweisungen hielt Gavin es für verrückt, etwas zu zerstören, was vielleicht gar nicht zerstört werden musste. Er würde ja zurückkommen.

Er löste sich von seinem Computer und schaltete die kleine Schreibtischlampe an. Die Vierzig-Watt-Glühbirne erhellte die Puppe und zog sie aus den Schatten hinaus.

Sie hatte sich nie wirklich ergeben.

Er hatte sie geliebt. Liebte sie immer noch.

Aber es war an der Zeit, sie loszuwerden. Er holte die Spritze heraus, die er für solche Notfälle besorgt hatte.

Er hatte jetzt Macht. Und eine Bestimmung.

Er würde sich mit seinem Bruder vereinen.