38. KAPITEL

Gavin fühlte sich verloren. Das Labyrinth der Straßen war einfach überwältigend, die Scharen an Menschen, die in alle Richtungen eilten, die Touristen in Turnschuhen, die hektisch versuchten, den Stadtführern zu folgen, die kleine Prospekte oder Fahnen über ihre Köpfe hielten, damit ihre vorübergehenden Mündel sie im Getümmel nicht verloren. Er hörte Bruchstücke vieler verschiedener Sprachen: Italienisch, Englisch, Deutsch, Französisch, Spanisch, Russisch. Tommaso hatte ihn nicht auf das Durcheinander, das Chaos vorbereitet. So hatte er sich Florenz nicht vorgestellt. Gavin verspürte eine leichte Panik. Er hasste Menschenmengen.

Auf Tommasos Anweisung hin hatte er sich vom Taxifahrer am Duomo absetzen lassen. Bis zu diesem Punkt waren die Anweisungen leicht zu befolgen gewesen. Fliege nach Rom, nimm den Pendolino-Zug nach Florenz, steige an der Station Santa Maria Novella aus. Darauf hatte Tommaso besonderen Wert gelegt: „Nicht Rifredi, Gavin. Das Ticket ist für dich hinterlegt. S.M.N. liegt nur zehn Minuten vom Duomo entfernt, aber es ist einfacher, wenn du dir ein Taxi nimmst.“

Er war den Anweisungen ganz genau gefolgt, und bis jetzt war auch alles glattgegangen. Nun stand er vor dem Duomo – seine überwältigend große und schöne neogotische Fassade mit den weißen, rosafarbenen und grünen Marmorplatten ragte majestätisch vor ihm auf. Gavin konnte nicht anders, er musste anhalten und den Kopf in den Nacken legen, um sich alles anzuschauen. Noch nie hatte er etwas so Beeindruckendes gesehen.

Von hier aus sollte er Richtung Süden gehen, über die Piazza della Repubblica, dann die erste Gasse rechts. Tommaso lebte in einer winzigen Seitenstraße direkt an der Piazza. Via Montebello. Am Telefon hatte das so einfach geklungen, aber jetzt fragte Gavin sich, warum er nicht mit dem Taxi direkt zu Tommasos Wohnung hatte fahren können. Das wäre weniger verwirrend gewesen.

Das war der Grund, warum er nie reiste. Er erlebte seine Abenteuer lieber zu Hause im Lehnstuhl. Gavin hatte irgendwo nicht achtgegeben, hatte den falschen Weg eingeschlagen und war nun von Statuen umgeben. Fasziniert blieb er vor Michelangelos David stehen. Er war so riesig. Er wusste, dass es nicht das Original, sondern nur eine Reproduktion war, aber trotzdem. Alle Statuen, die Bronzeskulpturen, der Springbrunnen, waren herzzerreißend schön. Es war alles so italienisch.

Er fand eine schattige Ecke auf der Piazza und suchte in seiner Tasche nach dem Stadtplan, den er auf dem Weg aus dem Bahnhof mitgenommen hatte. Ein paar Minuten brauchte er, um sich zu orientieren, dann wusste er, wo er war. Piazza della Signoria. Er musste zurück gen Westen gehen und sich dann nach Süden wenden.

Er machte sich auf den Weg. Als er die Via Porto Rosso überquerte, packte ihn ein Mann am Arm.

Tommaso, bastardo! Che cosa è accaduto ai vostri capelli? Mi dovete i soldi? Dove sono i miei soldi?“ Er lächelte breit, klopfte Gavin auf den Rücken und sprach weiter in maschinengewehrschnellem Italienisch. Gavin hörte anhand der Stimme, dass es sich um gutmütige Sticheleien handeln musste, doch er verstand kein Wort von dem, was der Mann sagte. Er konnte sich nur auf eines konzentrieren: Der Fremde hatte ihn Tommaso genannt.

Der Mann quasselte weiter, anscheinend war es ihm völlig egal, dass Gavin nicht antwortete. Er begleitete ihn auf seinem Weg, die Hand auf seinem Arm, und verließ ihn schließlich mit einem letzten herzhaften Klaps auf den Rücken. „Ciao, ciao. A domani, ciao!“

Gavin stand allein in der Gasse. Er hatte keine Ahnung, wo er war, was mit ihm geschah. Er stand kurz davor, sich in eine Panik hineinzusteigern, als er die Adresse bemerkte, vor der er stand.

Tommasos Haus.

Der Mann hatte gedacht, er wäre Tommaso. Er kannte Tommaso offensichtlich gut genug, um zu wissen, wo er wohnte. Gavin war außer sich vor Erleichterung. Er wusste nicht, ob er klopfen oder klingeln sollte.

Am Ende wurde ihm die Entscheidung abgenommen. Tommaso musste nach ihm Ausschau gehalten haben, denn innerhalb weniger Augenblicke nach seiner abenteuerlichen Ankunft auf den Stufen seines Bruders öffnete Tommaso die Holztür.

Das Gefühl war überwältigend. Es war, als schaute er in einen Spiegel. Tommaso war ebenfalls verblüfft. Gavin sah, wie sein Kiefer ein wenig fiel. Dann wurde er in eine Umarmung gezogen, die ihm den Atem raubte, und in einen wohlriechenden Flur geschoben.

Die Tür schloss sich hinter ihm und warf einen Schatten in den Eingangsbereich. Er roch Rosmarin und Holz und den scharfen Duft von Clorox.

Die Gerüche waren vertraut und gleichzeitig fremd. Er schüttelte den Kopf, versuchte, sich zurechtzufinden. In dem Augenblick nahm er die ganz feine, unterschwellige Duftnote wahr. Sein Herz setzte einen freudigen Schlag aus.

Tommaso packte seine Hand und schaute ihm in die Augen.

„Auf diesen Moment habe ich so lange gewartet. Komm herein, kleiner Bruder.“