43. KAPITEL
Taylor und Baldwin betraten das Gebäude der Carabinieri um acht Uhr morgens zu ihrer Verabredung mit Luigi Folarni. Memphis begleitete sie mürrisch und stumm. Sie hatten im Hotel gemeinsam gefrühstückt – Salami und Schinken und krosses Brot, verschiedene Käsesorten und Croissants mit frischer Marmelade, dazu Cappuccino. Memphis war mit Sonnenbrille zum Frühstück erschienen. Taylor hatte den schalen Geruch von Alkohol in seinem Atem wahrgenommen. Sie konnte es ihm nicht vorwerfen, sie hatte sich früher selber in den Schlaf getrunken. Als sie das Hotel verlassen hatten, hatte sie ihm kommentarlos ein Kaugummi gereicht. Er hatte es mit einem schwachen Lächeln angenommen.
Folarni begrüßte sie wie alte Freunde und ließ Cappuccinos bringen.
„Ich habe gute Neuigkeiten“, sagte er strahlend. „Wir haben seit gestern Abend Fortschritte gemacht. Jetzt haben wir eine Adresse, die wir überprüfen sollten. Die residenza des Fotografen passt zu der Rechnungsadresse der IP-Adresse aus dem Chat. Die Fotos sind heute Morgen in den Nachrichten gesendet worden. Wir hatten viele, viele Anrufe zu diesem Fall. Die Florentiner wollen helfen, Il Macellaio zu fangen. Es gab einen tassista, ah, wie sagt man noch?“ Er schaute Baldwin fragend an.
„Taxifahrer“, sagte er und beugte sich in seinem Stuhl vor.
„Si. Ein Taxifahrer, der sich erinnert, gestern einen Mann gefahren zu haben, auf den die Beschreibung von Il Macellaio passt. Und die Computeradresse, die Ihre Leute aus Quantico meinen Experten geschickt haben, liegt ganz in der Nähe von dem Ort, wo der tassista den Mann abgesetzt hat. Wir werden mal hinfahren und gucken, ob wir sie da finden.“
„Die Fotos sind im Fernsehen gezeigt worden?“, fragte Memphis.
„Ja, und in den Zeitungen. Wir nehmen unsere Aufgabe, die beiden Männer zu fangen, sehr ernst. Vor allem jetzt, wo wir wissen, dass es noch einen zweiten Mörder gibt. Wir müssen die Einwohner von Florenz beschützen.“
„Dann sind die beiden vermutlich schon auf der Flucht. Zumindest würde ich sofort abhauen, wenn ich mein Bild im Fernsehen sehe.“
Luigi zeigte ein typisch italienisches Schulterzucken. „Vielleicht. Aber es hilft uns nichts, uns davor zu verstecken. Kommen Sie. Wir fahren zu der Adresse und schauen, was uns dort erwartet.“
In der Via Montebello wimmelte es nur so von Polizisten. Folarni ging definitiv nicht im Verborgenen vor. Er hatte die schillerndsten Fahrzeuge der Carabinieri aufgefahren, um sicherzustellen, dass die italienischen Nachrichtensender sahen, dass sie und nicht die florentinische Polizei dafür verantwortlich waren, Il Macellaio und seinen Bruder zu ergreifen.
Ladenbesitzer standen mit ernster Miene auf der Straße, rauchend, die Arme vor der Brust verschränkt, und schauten sich die Show an. Blaulichter drehten sich und Sirenen hallten durch die engen, mit Kopfstein gepflasterten Gassen hinter ihnen, um sicherzustellen, dass auch ja niemand entkommen konnte.
Mit gezogenen Waffen eilten die Carabinieri in Zivilkleidung an die Haustür. Das Holz zersplitterte unter einigen wohlgesetzten Tritten. Es war ziemlich offensichtlich, dass niemand im Haus war.
Aber sie waren nah dran gewesen.
Sie sprachen mit so vielen Nachbarn, wie sie auftreiben konnten. Eine Frau von der anderen Straßenseite erzählte Folarni, dass sie gesehen habe, wie der Mann, der in dem Haus wohnte, mitten in der Nacht davongefahren sei. Aber sie war überzeugt, dass es sich um einen Geist gehandelt haben muss, denn da waren zwei von ihm gewesen.
Schwer enttäuscht lehnte Folarni sich gegen die Motorhaube seines Alfa Romeos und zündete sich eine Zigarette an. Marlboro Red. Taylor wünschte sich, sie könne es ihm gleichtun.
Sie und Baldwin berieten sich kurz mit Memphis, aber so, dass Folarni sie nicht hören konnte.
„Meint ihr, wir sind hier richtig?“, fragte Taylor.
„Es passt zu der IP-Adresse vom Computer. Also ja, ich glaube schon. Die Nachbarn haben außerdem bestätigt, dass ein Mann, der so aussah, hier wohnt. Memphis hatte recht. Sie haben irgendwie Wind davon bekommen.“
„Oder Tommaso ist dahintergekommen, dass Gavin zu viele Beweise zurückgelassen hat und hat vorbeugend gehandelt.“
Baldwin nickte Taylor zu. „Ja, oder das. Gavin lernte immer noch, war noch dabei, sich zu entwickeln. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Serienmörder Fehler machen. Aber wie auch immer, wir müssen jetzt wieder ganz von vorne anfangen. Alle Grenzposten sind informiert worden, genauso die Flughäfen und Bahnhöfe. Sie werden das Land nicht verlassen können.“
„Hat Il Macellaio hier seine Morde begangen?“, wollte Memphis wissen.
„Gehen wir rein und schauen nach.“
Folarni ließ sie nur zu gerne gemeinsam mit seinem Team von der Spurensicherung nach oben gehen. Eine schnelle erste Überprüfung ergab verwertbare Fingerabdrücke, Haare, alles, was sie brauchten, um ihre bisherigen Beweisen abzugleichen. Aber es gab keinerlei Hinweise darauf, dass das hier auch die Leichenkammer war. Alles sah so aus, als wenn ein ganz normaler Typ hier wohnte. Ein Kunstliebhaber. Davon zeugten seine Wände – Fotos, Gemälde, Lithografien bedeckten jeden nur denkbaren Platz. Es gab keine versteckte Kammer, keinen Keller, und die Nachbarn waren offensichtlich ziemlich wachsam. Aber möglich war alles. Er hätte ausreichend Zeit gehabt, vor ihrer Ankunft alles herzurichten.
Es war beinahe zehn Uhr, und die Brüder hatten einige Stunden Vorsprung.
Das Team versammelte sich in der Küche. „Also, was machen wir als Nächstes?“, wollte Taylor wissen.
Baldwin fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. „Wir müssen Einblick ins Grundbuchregister nehmen. Wenn er die Mädchen nicht hier tötet, tut er es an einem stilleren Ort. Er braucht einen Platz, an dem er nicht gestört wird, wo er die Mädchen über einen gewissen Zeitraum festhalten kann. Diesen Unterschlupf müssen wir finden.“
„Sehe ich genauso“, stimmte Memphis zu.
Sie trugen Folarni ihre Bitte vor. Ohne zu zögern griff er zum Telefon. In einem so schnellen Italienisch, dass Taylor ihm nicht folgen konnte, stellte er mehrere Anfragen. Baldwin übersetzte für sie.
„Er bittet um die Grundbuchauszüge. Sie schauen nach allem unter dem Namen Tommaso.“
„Sag ihnen, sie sollen die Suche auf den Namen Thomas Fielding ausweiten“, schlug Taylor vor.
Baldwin zwinkerte ihr zu und sprach dann mit Folarni. „Okay. Machen sie.“
Fünfzehn Minuten später hatten sie immer noch nichts. Die einzige Adresse, die für Thomas Fielding gelistet war, war die, an der sie sich gerade befanden.
„Vielleicht sollten sie noch einen weiteren Namen suchen“, sagte Memphis.
„Welchen?“, fragte Baldwin.
„Gary Fielding.“
„Natürlich, Tommasos Vater!“
Diese Eingebung war der Schlüssel. Innerhalb von fünf Minuten waren sie auf dem Weg zu einer Adresse in den Hügeln von Florenz.