4. KAPITEL
Baldwin wartete, bis Taylors Gehirn das Gesagte verarbeitet hatte. Zum Teufel, er musste es ja selber erst mal verarbeiten.
„Wovon redest du?“, fragte sie.
Er sprach leise. „An was erinnerst du dich noch über einen Mörder namens Il Macellaio?“
„An gar nichts. Nicht viel. Nur das, was du mir erzählt hast. Er ist ein Serienmörder aus Florenz und dort schon seit mehreren Jahren tätig. Bedeutet sein Name nicht ‚Der Schlachter‘?“
„Ja. Il Macellaio treibt ungefähr seit dem Jahr 2000 sein Unwesen. Er ist gnadenlos und sehr, sehr gut in dem, was er tut. Er arrangiert seine Opfer so, dass sie berühmte Bilder nachahmen, und hinterlässt immer eine Postkarte mit dem Originalbild, damit wir wissen, wen er imitiert. Natürlich geschieht das erst, nachdem er sie gefoltert hat. Er behält sie eine Weile als lebendes Spielzeug, bevor er sie umbringt. Die Todesursache bei seinem ersten Opfer war Verhungern, die letzten hingegen hat er hungern lassen und dann stranguliert, als wenn er es leid gewesen ist, zu warten. Er hat Sex mit den Leichen, ein letzter Abschiedsgruß, bevor er die Fundorte herrichtet. Bisher haben wir keine großartigen physischen Beweise, mit denen wir etwas anfangen können. Weißt du schon die Todesursache deines Opfers?“
„Uh, Nekrophilie?“
„Schlimmer, viel, viel schlimmer. Nekrosadismus. Il Macellaios Krankheitsbild hat sich dahin entwickelt, dass ihm Sex mit der Leiche nicht mehr reicht. Inzwischen muss er die Frauen, an denen er seine Fantasien auslebt, auch selber fangen und töten. Das ist ein sehr, sehr seltenes Verhalten. Jemanden verhungern zu lassen ist eine grausame Art der Tötung. Es ist passiv-aggressiv, was irgendwie faszinierend ist, wenn man bedenkt, dass er von dem Verlangen getrieben wird, zu töten. Ich bin mir jedoch nicht ganz sicher, wieso er das tut. Ich habe allerdings ein paar Ideen. Und sieh dir dieses Mädchen an. Sie hat garantiert eine Weile nichts zu essen bekommen.“
„Ein Traum. Ich sorge dafür, dass Sam über den Hintergrund informiert wird. Die Todesursache ist nicht offensichtlich, aber du hast recht, sie ist grotesk dünn. Ihre Knochen stechen überall hervor. Ist dir aufgefallen, dass das Messer einmal komplett durch ihren Brustkorb bis in die Säule gerammt worden ist?“
„Ja. Ihr müsst …“
„… einen Teil der Säule heraussägen, ich weiß“, unterbrach sie ihn und gab ihrem Kriminaltechniker ein Zeichen. Der junge Mann mit den ernsten Augen, von dem Baldwin wusste, dass er Tim Davis hieß, nickte ernst und macht sich mit seiner Bügelsäge ans Werk.
Taylor lief unruhig auf und ab. Baldwin führte sie ein paar Schritte zur Seite, damit sie in Ruhe sprechen konnten.
„Baldwin, ist es möglich, dass Il Macellaio aus Italien hierhergekommen ist? Und warum? Nashville liegt nicht gerade auf dem Weg der meisten Weltenbummler. New York, Los Angeles, das sähe ich noch ein. Aber Nashville?“
Er fuhr sich mit den Händen durchs Haar, weil es ihm beim Denken half. Es war ihm egal, dass seine Haare danach in alle Richtungen abstanden. „Ein Teil von dem, womit ich mich in Quantico beschäftigt habe, ist ein Bericht aus London. Die Metropolitan Police von New Scotland Yard hat drei Morde, die eine erschreckende Ähnlichkeit zu den Fällen aus Florenz aufweisen. Wenn ich recht habe und Il Macellaio nach London gereist ist, dann liegt es auch durchaus im Bereich des Möglichen, dass er hierherkommt.“
„Was treibt einen Serienmörder von Florenz nach London und dann nach Nashville?“
„Das ist eine sehr gute Frage. Letzte Woche hatten wir im Florenzfall einen Durchbruch. Endlich haben wir eine DNA-Spur. Wir warten noch darauf, ob die Datenbank von Interpol einen Treffer ergibt, und lassen sie danach durch CODIS laufen. Ich schätze, dass wir die Ergebnisse morgen im Laufe des Tages bekommen sollten. Vielleicht kriegen wir einen Namen, vielleicht müssen wir aber auch weiter im Nebel herumstochern. Falls wir einen Namen kriegen, werde ich vermutlich wieder nach Quantico müssen.“
CODIS. Die Wundermaschine. Die kombinierte DNA-Datenbank konnte Übereinstimmungen bei Morden und Mördern finden. Baldwin hatte ein kleines Dankgebet an Sir Alec Jeffreys ausgestoßen für die Entdeckung des genetischen Fingerabdrucks. Eines Tages würde es von jedem Kriminellen in jedem Land eine DNA-Probe geben, sodass Verbrechen in null Komma nichts aufgeklärt werden könnten.
Taylor war angemessen beeindruckt. „Das ist ja super, Schatz. Wie seid ihr nach all den Jahren an DNA gekommen?“
„Lange oder kurze Version?“
Sie deutete mit einer Hand auf ihre Umgebung. Tim, der fluchend an der Säule sägte – verfluchtes Miststück, beinahe hätte ich dich schon gehabt, stell dich nicht so an –, und Baldwin unterdrückte ein Lächeln. Ihre Blicke trafen sich, und in den stürmischen Tiefen ihrer Augen sah er Fröhlichkeit aufblitzen. Sie mochte diesen Tim.
„Ich habe Zeit“, sagte sie. „Erzähl mir von den Morden.“
„Das ist das Romantischste, was du je zu mir gesagt hast.“
„Ich wusste, dass es einen Grund gibt, warum du mich liebst“, flüsterte sie.
„Ich liebe dich wirklich. Unglaublich sogar!“, flüsterte er zurück. Er spürte eine Hand auf seinem Arm. Ein kleiner Mann, der vor Entrüstung schier zu platzen schien, starrte ihn an.
„Wer ist das, Detective?“
Taylor verdrehte kurz die Augen, aber so, dass nur Baldwin es sehen konnte, dann stellte sie die Männer einander vor.
„Lieutenant Elm, das ist Supervisory Special Agent John Baldwin, Leiter der Abteilung für Verhaltensforschung in Quantico.“
„Und wären Sie so gut, mir zu verraten, was das FBI an meinem Tatort verloren hat?“ Elms Gesicht lief rot an, glühend vor Wut. Baldwin streckte ihm seine Hand hin.
„Ich war gerade in der Gegend, und da hat Detective Jackson vorgeschlagen, dass ich mir das Ganze mal ansehe. Es handelt sich hier ja nicht gerade um einen alltäglichen Fall.“
„Ich kann mich nicht erinnern, Sie eingeladen zu haben, Mister Baldwin.“
„Doktor Baldwin, wenn ich ehrlich bin. Entschuldigen Sie bitte mein Eindringen, aber ich muss Ihnen sagen, dass es aussieht wie das Werk eines organisierten Mörders, und ich wäre nicht überrascht, wenn er noch einmal zuschlagen würde. Ich wäre mehr als bereit, mich mit Ihnen zusammenzusetzen und ein Profil zu erstellen.“
„Ein Profil erstellen.“ Elm spuckte die Wörter förmlich aus. „Voodoo, Hellseherei, alles vollkommener Unfug, wenn Sie mich fragen. Ich denke, wir kommen auch ohne Ihre Hilfe prima zurecht, Doktor. Das ist dann auch alles.“
Elm marschierte davon. Baldwin schaute Taylor an. Ihr Gesicht war knallrot und sie presste die Lippen zusammen. Er hatte diesen Ausdruck schon mal an ihr gesehen; sie war hin und her gerissen zwischen lautem Lachen und wildem Fluchen.
„Das ist dein neuer Lieutenant?“
Sie nickte.
„Tja, das kann lustig werden. Zumindest hat er nicht versucht, mich unter Einsatz von körperlicher Gewalt vom Tatort zu entfernen.“
„So was gibt’s?“, fragte sie.
„Du würdest dich wundern“, erwiderte er leichthin. „Wo waren wir stehen geblieben?“
„Florenz. Wo ich im Moment auch lieber wäre.“
Er lächelte sie an. „Versuch nicht, mich abzulenken, das funktioniert nicht. Okay. Drei Leichen früher, 2004 in Florenz, hat der sehr aufmerksame Kriminaltechniker der örtlichen Carabinieri ein Haar mit einem intakten Hautfetzen daran in einer Wasserlache in der Küche des Hauses entdeckt, in dem das Opfer gefunden worden war. Es passte nicht zu ihrer DNA. Sie haben es ins System eingegeben und für den Fall der Fälle in der Abgleichroutine belassen. Letzte Woche erhielten wir einen Anruf von der Metropolitan Police. Sie hatten eine Reihe von Morden, bei denen sie fest überzeugt waren, dass es sich um das Werk eines Serienmörders handelt, und baten uns um Hilfe. Als ich die Tatortfotos sah, erkannte ich die Signatur unseres Italieners. Aber das Tollste ist, die Spurensicherung der Met hat auch ein intaktes Haar gefunden, dieses Mal ganz hinten im Rachen des zweiten Opfers.“
„Eklig.“
„Ja. Es gab genügend Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Fällen, sodass ich darauf bestanden habe, die DNA der beiden Haare sofort zu testen. Zwei Haare in fünf Jahren. Wir drücken die Daumen, dass es eine Übereinstimmung gibt. Wenn er noch irgendwelche anderen Verbrechen begangen hat und in der Datenbank gespeichert ist, haben wir vielleicht eine Spur. Wer weiß? Falls die DNA übereinstimmt, kann ich wenigstens sagen, dass er nicht an einen Ort gebunden ist, sondern herumreist. Auf diese Information warte ich im Moment.“
„Aber wie lange dauert es, eine Frau verhungern zu lassen? Mir scheint der Zeitrahmen etwas zu kurz, als dass dieser Fall hier Teil einer Serie sein könnte.“
„Wenn man an die Dreierregel glaubt … drei Minuten ohne Luft, drei Tage ohne Wasser, drei Wochen ohne Essen. Das sind keine perfekten Angaben, aber als grobe Faustregel stimmen sie. Ohne Essen kann eine kleine Frau leicht innerhalb von zwei Wochen sterben. Vielleicht sogar weniger. Der letzte Mordfall in London ist über einen Monat her. Er hätte in die Staaten fliegen können, sich ein Opfer suchen, es verhungern lassen und hier zur Schau stellen. Das ist machbar. Habt ihr irgendwo eine Postkarte gefunden?“
„Nicht, dass ich wüsste.“
Taylor schwieg einen Moment lang. Er spürte, dass sie nachdachte.
„Weißt du, irgendwas an diesem Tatort ist seltsam. Ich muss ihn durch ViCAP laufen lassen. Es war nicht mein Fall, er war noch nicht mal in Nashville, sondern südlich von uns in Manchester. Aber ich erinnere mich, etwas im Law Enforcement Bulletin gelesen zu haben über einen ungelösten Mord, bei dem klassische Musik spielte, als die Ermittler am Tatort ankamen. Das war vor drei Jahren oder so. Die CD heute Abend spielte Dvořák in der Endlosschleife. Hast du darüber was in einem deiner Fälle?“
„Nein, leider nicht.“
„Vielleicht hat der Hausbesitzer sie aus Versehen laufen lassen.
Wir haben einen Handabdruck vom Gehäuse des CD-Players nehmen können, mal sehen, was dabei herauskommt. Ich bin mir relativ sicher, dass die Leiche von irgendwo anders hierhergebracht worden ist. Das fehlende Blut auf Leiche und Fußboden … sie ist nicht hier getötet worden.“
„Vermutlich nicht. Aber wenn sie verhungert ist, gibt es auch nicht viel Blut.“
„Es könnte sein, dass zwei Leute an der Tat beteiligt waren. Einer, der die Leiche an die Säule hielt und ein anderer, der die Angelsehne herumgewickelt hat. Das ist alleine nicht leicht zu bewerkstelligen, obwohl ein starker Mann es schaffen könnte, wenn er an den Füßen des Opfers anfängt. Die Zehen des Mädchens waren ungefähr sechzig Zentimeter über dem Boden. Er hatte sie vielleicht über die Schulter gelegt, während er ihre Knöchel festgebunden hat.“
„Oder er hat die Leine locker um die Säule gelegt und dann ihre Beine dahinter gesteckt. Dann musste er nur noch festziehen und voilà, der Anfang ist gemacht. Auf diese Weise könnte er sich langsam den Körper hinaufgearbeitet haben.“
„Ja, du hast recht“, sagte sie. „So würde ich es machen, wenn ich alleine wäre.“
Elm war jetzt in der Küche und kommandierte gebieterisch Keri McGee, die Videografin, herum. Beim Klang seiner Stimme zuckte Taylor zusammen. Baldwin wusste, wie schwer das für sie war – die letzten paar Wochen hatten ihnen beiden einiges abverlangt. Vielleicht wäre ein fetter, interessanter Fall genau die richtige Ablenkung, auch wenn sie dabei von Napoleon überwacht würden.
Er versuchte, Taylors Aufmerksamkeit wieder auf das Opfer zu lenken. „Wir haben hier einen Fall exzessiver Gewaltanwendung gegenüber der Leiche, den sogenannten Overkill. Das Messer in ihren Brustkorb zu rammen, sodass es tief ins Holz eindringt, war definitiv übertrieben. Sie war schon lange tot, bevor sie an die Säule gehängt worden ist. An ihrem Kiefer löst sich die Leichenstarre schon langsam wieder auf, und auf der Rückseite ihrer Beine sind Leichenflecken zu sehen.“
Sofort war Taylor wieder voll bei ihm. „Also hat sie irgendwann nach ihrem Tod auf dem Rücken gelegen“, sagte sie.
„Ist dir aufgefallen, dass die Angelsehne in ihre Haut schneidet?“
„Natürlich. Es gab außerdem einige petechiale Blutungen in ihren Augen, aber nicht so viel, dass ich automatisch davon ausgehen würde, dass sie erwürgt worden ist. Hoffentlich wird Sam morgen früh die Autopsie übernehmen. Sie wird der Sache schon auf den Grund gehen.“
Baldwin nahm den Hinweis anstandslos auf. Es gab noch viel zu tun, Sachen, für die er nicht gebraucht wurde. „Ich denke, ich werde mal ein paar Anrufe tätigen. Gibt es hier irgendwo einen Ort …“
Sie reichte ihm die Schlüssel zu ihrem Dienstwagen. „Das ist der, der gleich neben Tims Van steht. Ich komme so schnell ich kann nach. Danke, dass du hergekommen bist.“
Er sehnte sich danach, sie zu küssen, nickte aber stattdessen nur und ging. Die Säule war endlich durchtrennt, als er daran vorbeiging. Das Mädchen lag flach auf dem Holz, von der Angelschnur und dem Messer fest an Ort und Stelle gehalten. Es sah aus wie eine halbe Kreuzigung. Ein Anblick, den er so schnell nicht vergessen würde.
Taylor rieb sich die Augen, um die Müdigkeit zu vertreiben. Es war zwei Uhr morgens; die Spurensicherung näherte sich dem Ende. Elm lag mit seiner Vorhersage, dass es nur eine Stunde dauern würde, gute sechs Stunden daneben.
Tim hatte das gut zwei Meter lange Stück Säule mit der darauf befestigten Leiche abtransportiert. Es war ein wildes Unterfangen gewesen, das Mädchen so in einen Leichensack zu bugsieren, ohne dass Spuren verloren gingen. Der Sack hatte aber trotz allem nicht ganz geschlossen werden können. Und auch wenn das Mädchen kaum etwas wog, war die Säule umso schwerer. Mehrere Personen schleppten sie stöhnend zum Auto, immer darauf bedacht, sie ja nicht fallen zu lassen.
Der Rest des Abends war dann ziemlich glatt verlaufen.
Elm hatte das Haus vor ungefähr einer Stunde verlassen, was Taylor nur recht war. Sie hatte ihn mit einem der Reporter des The Tennessean sprechen sehen und gehofft, dass er wenigstens einen Hauch von Diskretion walten ließ. Kurz darauf war Dan Franklin, der Sprecher der Mordkommission, aufgetaucht und hatte die Betreuung der Presse übernommen. Einige der Reporter harrten immer noch aus. Es schien eine ruhige Nacht in Nashville zu sein, was ein Garant dafür war, dass dieser Mord die morgigen Schlagzeilen beherrschen würde.
Taylor war den Medien den ganzen Abend über ausgewichen und hatte sich geweigert, einen Kommentar abzugeben. Das überließ sie gerne Franklin. Sie hatte den Journalisten immer noch nicht vergeben, welche Rolle sie bei ihrer Degradierung gespielt hatten. All die Anschuldigungen und Anspielungen, die ein Mann aus Rache gegen sie in Umlauf gebracht hatte, waren von der Presse ohne weitere Nachforschungen einfach gedruckt worden. Man hatte sogar Videos gezeigt, auf denen sie Sex mit ihrem alten Partner hatte. Filme, die ohne ihr Wissen und ohne ihre Zustimmung aufgenommen worden waren. Jedes Mal, wenn sie an die Erniedrigung dachte, die sie erlitten hatte, wenn sie gezwungen gewesen war, sich selbst im Fernsehen zu sehen …
Hör auf damit, Taylor. Was geschehen ist, ist geschehen. Das ist die Presse. Du hast für Schlagzeilen gesorgt. Lass es gut sein. Es war nichts Persönliches. Du würdest jeden von ihnen von oben bis unten durchleuchten, wenn du dächtest, dass sie etwas Illegales getan hätten. Warum sollte es ihnen mit dir anders gehen? Jeder muss zusehen, wie er seine Familie satt bekommt. Zurück zum Wesentlichen.
Sie kehrte zu ihrem mentalen Abschluss des Tatorts zurück. Man hatte in den Wäldern hinter dem Haus Fußabdrücke und Zigarettenstummel gefunden, aber sie waren so weit vom aktuellen Fundort entfernt, dass Taylor skeptisch war, ob sie wirklich vom Mörder stammten. Jedes noch so kleine Fitzelchen war eingetütet und aufgenommen worden. Die Kriminaltechniker holten die Gussformen heraus, besprühten den Boden mit Staub- und Schmutzhärter, fertigten Gipsabdrücke von mindestens vier verschiedenen Schuhabdrücken an. Wenn man einen Verdächtigen fand, konnte man so seine Schuhe mit den Abdrücken abgleichen.
Da war immer noch die Frage des Transports. Der Mörder hatte die Leiche irgendwie ins Haus geschafft, aber bisher hatte die Befragung der Nachbarn keinen brauchbaren Hinweis ergeben. Niemand hatte ein Auto in der Gegend gesehen, das hier nicht hingehörte. Natürlich, wenn man bedachte, wie viele Menschen nur zum Spaß zum Love Circle fuhren, konnte man davon ausgehen, dass die Anwohner an den Anblick fremder Autos gewöhnt waren.
Unzählige Jugendliche kamen nachts hier hoch. Sie waren normalerweise harmlos, auf der Suche nach einem ruhigen Ort, an dem sie ein wenig Hasch rauchen und trinken und über die großen Fragen der Welt nachdenken konnten. Wenig überraschend waren sie beim Anblick des ersten Polizeifahrzeugs, das heute den Hügel hinaufgekommen war, in die Nacht verschwunden. Aber sie würden wiederkommen. Taylor würde warten und an einem anderen Abend mit ihnen sprechen. Vielleicht war einem Fremden irgendetwas aufgefallen.
Die Chancen, dass einer von ihnen ihr Verdächtiger war … nun, davon ging sie nicht aus. Sie würde auf die Ergebnisse der Untersuchungen warten und sich von den Beweisen leiten lassen.
Sie hatte bereits mit der Nachbarin, Carol Parker, gesprochen, und war ihr gegenüber ziemlich unerbittlich gewesen, damit ja kein Detail übersehen wurde. Die Frau hatte auf ihrer Couch gesessen, die kräftigen Oberschenkel in braunem Strick fest zusammengepresst, die Füße flach auf dem Boden, ihr rundes Gesicht kalkweiß. Sie hielt die siamesische Katze von nebenan auf dem Schoß und streichelte sie obsessiv, während sie in allen Einzelheiten erzählte, wie das Housesitting in den letzten Tagen abgelaufen war. Nein, ihr war heute kein Auto aufgefallen, da sie bei der Arbeit gewesen war. Nein, sie hatte nicht bemerkt, dass etwas nicht stimmte, bis sie die Katze gefüttert hatte und sich bereit machte, zu gehen. Nein, sie konnte sich nicht erinnern, ob sie Musik gehört hatte, aber normalerweise ließ der Besitzer für die Katze immer irgendeine Geräuschquelle an, Fernsehen oder Radio, sodass sie es nicht ungewöhnlich gefunden hätte. Sie dachte, sie hätte die Alarmanlage am Abend zuvor scharf geschaltet, aber vielleicht hatte sie es auch vergessen. Nein, sie erinnerte sich nicht daran, außer der Haustür und der Futterschüssel der Katze irgendetwas angefasst zu haben; sie hatte die Leiche gesehen und war weggelaufen.
Taylor ging jeden einzelnen Schritt mit ihr durch und gab dann nach zwanzig Minuten auf. Die Frau hatte nichts zu sagen, das ihnen heute Abend von Nutzen sein würde. Vielleicht am Morgen, wenn der Schock des Abends nachließ, wäre sie in der Lage, sich an etwas Ungewöhnliches zu erinnern. Sie hatte Taylor den Namen und die Handynummer des Hausbesitzers gegeben. Er hieß Hugh Bangor, und Taylor hinterließ ihm eine Nachricht auf seiner Mailbox, dass er sie bitte so schnell wie möglich zurückrufen sollte. Parker sagte, er wäre in Los Angeles, sie wüsste aber nicht, wo. Falls das der Fall war, könnte er sicher nicht vor morgen nach Hause kommen.
Ihn würde ein ganz schöner Empfang erwarten – Taylor hatte vor, ihn ausführlich zu befragen. Auch wenn die Nachbarin eisern behauptete, dass Bangor ein wunderbarer, aufrechter Mann sei, kam es doch nicht jeden Tag vor, dass eine Leiche so kunstvoll in einem Wohnzimmer zur Schau gestellt wurde, während man selber bequemerweise nicht in der Stadt weilte. Er war auf jeden Fall ein Verdächtiger.
Taylor wanderte ein letztes Mal durchs Haus und nahm alles in sich auf. Ein feiner schwarzer Film überzog alle zugänglichen Oberflächen. Das Haus war auf Fingerabdrücke untersucht worden, man hatte viel gefunden, inklusive des prächtigen Handabdrucks auf dem CD-Player. Wie schön wäre es, wenn sie Glück hätte, die Abdrücke ins System eingäbe und morgen schon einen Treffer hätte. Die Fingerabdrücke des Opfers waren ebenfalls genommen worden und würden in die iAFIS-Datenbank eingegeben werden. Die integrierte automatische Fingerabdruckerkennung war gut und schnell und würde ihnen innerhalb weniger Minuten eine Antwort geben, wenn ein Treffer gefunden wurde.
Taylor ging zum gläsernen Couchtisch. Nichts Ungewöhnliches – Glasuntersetzer, ein überformatiges Kunstbuch über Spanien und ein Catalogue raisonné über Picassos Lebenswerk. Sie benutzte die Spitze ihres Stiftes, um das Buch zu sich herumzudrehen. Baldwin hatte erwähnt, dass an den Tatorten von Il Macellaio Postkarten der Gemälde hinterlassen worden waren, die der Mörder imitiert hatte. Nun, diese Monografie über Picassos Arbeit war keine Postkarte, aber vielleicht ein guter Ersatz. Für alle Fälle tütete sie das Buch ein.
Trotz der Verwirrung bei ihrer Ankunft war Taylor sicher, dass der Tatort gut untersucht wurde und ihnen nichts entgangen war. Sie blieb vor der verstümmelten Säule stehen, die jetzt aussah wie ein frisch abgesägter Mangrovenstamm. Sie drehte sich einmal im Kreis, ging dann zur Tür, schloss sie hinter sich und versiegelte den Tatort.
Dann trat sie auf die Veranda. Simari war gerade mit einem tief und fest auf der Rückbank schlafenden Max weggefahren. Einfach Renn hatte sich auch schon verabschiedet, genau wie der Rest der Spurensicherung. Allein der besetzte Wagen eines Streifenbeamten, der dafür Sorge tragen würde, dass der Tatort nachts nicht von irgendwelchen Kids oder Vandalen heimgesucht würde, und ein Übertragungswagen von Channel Four standen noch vor dem Haus. Von Letzterem war Taylor genervt. Konnten sie ihren Beitrag nicht in ihrem kleinen Schlösschen auf dem Knob Hill zusammenschneiden? Als wenn sie ihre Gedanken gehört hätten, heulte der Motor auf und der Van fuhr in die Dunkelheit.
Und dann war natürlich noch Baldwin da. Er schlief seelenruhig auf dem Beifahrersitz ihres Zivilfahrzeugs. Armer Mann, er war so müde, dass er sogar in ihrem Auto schlafen konnte. Sie musste ihn dringend nach Hause bringen.
Es war eine angenehme Nacht. Ein angenehmer Morgen. Wie auch immer man diese schummrigen Stunden vor der Morgendämmerung nennen wollte, den tiefsten Teil der Nacht. Die Wälder waren lebendig, Grillen und Zikaden kämpften darum, gehört zu werden, die Schwärze der Nacht hatte beinahe etwas Sinnliches. Eine angenehme Ruhe hatte sich über Love Circle gelegt. Das Chaos war durch die Gelassenheit der Natur ersetzt worden.
Taylor nahm einen tiefen Atemzug und spürte etwas von dieser Ruhe in ihre Schultern sinken. Es waren die Beweise, die sie nicht gefunden hatten, die sie nervös machten. Ein Messerstich durchs Herz sollte eine blutige Angelegenheit sein. Taylor hatte kurz mit Sam telefoniert, die versprochen hatte, die Autopsie persönlich gleich als Erstes am Morgen vorzunehmen. Taylor wollte zuschauen, und sie wollte auch, dass McKenzie sie begleitete. Als sie es ihm erzählt hatte, war er blass geworden, hatte dann aber genickt und versprochen, da zu sein. Das wäre ihre erste gemeinsame Autopsie, und Taylor wusste nicht, was sie von ihm zu erwarten hatte.
Wie auch immer, es war an der Zeit, nach Hause zu gehen. Sie unterdrückte ein Gähnen, winkte der Streife zu und stieg in ihr Auto. Baldwin wachte auf und lächelte sie schläfrig an.
„Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat“, flüsterte sie und beugte sich vor, um ihm einen Kuss zu geben. Er erwiderte den Kuss mit ungeahntem Hunger, und es bedurfte größter Anstrengung, nicht die Arme um ihn zu schlingen und auf den Rücksitz zu krabbeln. Mit einem leisen Lachen löste sie sich von ihm. Es war einfach zu lange her.
„Lass uns nach Hause fahren.“
„Ich finde, das klingt wundervoll.“ Als er ihre Hand nahm, war sie überrascht über den Kreis, der sich heute Nacht schloss. Von der ersten Liebe zur wahren Liebe auf dem Love Hill. Kein schlechter Lebensweg.
Sie fuhr einhändig den Hügel hinunter, lauschte dem Knistern des Sprechfunks: „10-83, Schüsse abgegeben, ich wiederhole, 10-83, 490 Second Avenue, Club Twilight. Officers, bitte melden Sie sich.“
Schüsse auf der Second Avenue gehörten schon beinahe zum täglichen Standard. Darum konnte sich jemand anderes kümmern. Die B-Schicht der Mordkommission war für diese nächtlichen Einsätze zuständig. Sie musste es nur nach Hause schaffen. Sie war müde, ohne Zweifel, aber in ihrem Kopf tobten die Gedanken. Die immer gleichen Worte kreisten durch ihren Kopf wie die Endlosschleife des Dvořák-Stücks.
Noch eine. Noch eine. Noch eine.