21. KAPITEL

Taylor stand vor einem heruntergekommenen einstöckigen Haus am Rande von Manchester. Eine Meile weiter Richtung Stadt stünde es im Einsatzbereich der Manchester Police; da es sich aber außerhalb der Stadtgrenzen befand, waren die Ermittlungen vom Sheriff von Coffee County durchgeführt worden. Es wurde langsam spät. Sie musste das hier zum Abschluss bringen, damit sie und McKenzie zurück nach Nashville fahren konnten. Sam hatte angerufen, um zu sagen, dass Sie die Autopsie des Opfers vom Radnor Lake als Letztes heute Nachmittag vornehmen würde. Taylor wollte dabei sein und hatte sie gebeten, es eine Stunde oder so nach hinten zu verschieben.

Simmons klopfte, und LaTaras Mutter kam an die Tür. Sie war groß und elegant, ihre Haut hatte die Farbe von dunklem Espresso, ihre Augen waren ausdruckslos. Sie starrte die Gruppe Polizisten an, die auf ihrer Veranda stand, seufzte und trat einen Schritt zurück, um sie hereinzulassen. Taylor bemerkte, dass ein Arm der Frau sehr viel kürzer war als der andere.

Das Innere des Hauses war wesentlich gepflegter als das Äußere. Auch wenn die Möbel abgenutzt waren, waren sie sauber und der offensichtliche Stolz der Hausherrin. Eine Nähmaschine stand in einer Ecke des großen Wohnzimmers. Daneben lagen mehrere Bahnen Stoff. Vorhänge, vermutete Taylor. Sie erblickte eine Karte auf einem Sideboard, die ihren Verdacht bestätigte. Marie Bender war Näherin.

Sie setzten sich in die Küche, und Mrs Bender schenkte jedem ein Glas hausgemachte Limonade ein. Taylor hörte zu, während der Sheriff erklärte, warum sie hier waren. Sie sah den Schmerz in den Augen der Frau aufblitzen.

„Haben Sie einen Verdächtigen im Mordfall meiner Tochter?“, fragte sie.

„Nein, Ma’am. Na ja, vielleicht. Ich will Ihnen keine falschen Hoffnungen machen. Wir versuchen lediglich, ein paar Details nachzugehen. Ist es in Ordnung, wenn wir über den Tag sprechen?“

„Ja. Ich will, dass die Person, die LaTara das angetan hat, zur Rechenschaft gezogen wird. Es gibt nicht viel, was ich für sie tun kann, außer darum zu kämpfen. Ich habe mit angesehen, wie sie mir entglitt, Drogen nahm, herumhurte. Ich würde für sie gerne einen Abschluss finden. Sie war so unglücklich. Nichts, was ich getan habe, konnte den … Vorfall wiedergutmachen.“

„Ihr Onkel?“, fragte McKenzie vorsichtig nach.

Mrs Benders Blick wurde zu Stahl. „Ja. Seine Seele möge in der Hölle schmoren. Er hat meinem kleinen Mädchen das Licht gestohlen. Sie hat es nie überwunden. Aber in der letzten Zeit hatte sie sich so angestrengt, sich zu ändern. Sie hatte mit einer Therapie angefangen und versuchte vom Heroin wegzukommen. Sie nahm es, um zu vergessen. Ich kann nicht sagen, dass ich es ihr vorhalte. Es war nicht richtig, und sie hat einen viel zu hohen Preis dafür gezahlt. Ihr Daddy war weg. Eddie war die erste männliche Bezugsperson in ihrem Leben. Als er sie verriet, war sie verloren.“

Taylor schaute den Sheriff an, der ihre Gedanken las. „Nein, Eddie Bender hat damit garantiert nichts zu tun. Er wurde im Gefängnis umgebracht. Dort hat man mit Kinderschändern wenig Mitleid, wissen Sie.“ Taylor nickte und wandte sich dann an Mrs Bender.

„Ma’am, der Bericht sagt, als sie LaTara gefunden haben, zogen Sie ihren leblosen Körper aus der Wanne und hielten ihn, bis der Notarzt eintraf.“

Trauer verschleierte die Augen der Frau. „Ja, das stimmt. Sie war nicht mehr da, das hätte jeder Dummkopf sehen können. Ich wollte nur noch ein paar Minuten mit meinem Baby haben. Ich hätte sie nicht berühren sollen, das hat der Sheriff mir schon gesagt. Aber ich konnte nicht anders.“

„Wo genau haben Sie sie hingebracht?“

„Wohin? Was meinen Sie damit?“

„Als Sie sie in Ihren Armen hielten, wo befanden Sie sich da? Im Schlafzimmer oder immer noch im Badezimmer?“

„Ich war immer noch im Badezimmer.“ Sie fing an zu weinen. „Wir saßen nur einen halben Meter von der Wanne entfernt auf den Fliesen. Ich erinnere mich noch daran, wie kalt sie war, wie kalt der Fußboden war.“

„Sie haben sie ganz sicher nicht ins Schlafzimmer gebracht?“

Sie sammelte sich und tupfte sich die Tränen aus den Augen. „Ganz sicher.“

„Haben Sie in LaTaras Zimmer Wasser verschüttet oder irgendetwas, das den Teppich nass gemacht hat?“

„Nein. Niemand konnte sich erklären, wie das Wasser dorthin gekommen war.“

Taylor spürte, wie die Aufregung in ihr wuchs. „Ma’am, haben Sie seitdem Ihre Teppiche reinigen lassen?“

„Detective, für so etwas habe ich kein Geld. Ich schaffe es gerade so, meine Arbeiten im Haus zu erledigen und mein Geschäft am Laufen zu halten.“ Sie zeigte auf ihren deformierten Arm. „LaTara hat mir dabei immer geholfen. Es ist nicht so leicht, sich mit nur einem Arm um alles zu kümmern, aber ich gebe mein Bestes.“

Taylor lächelte. „Das verstehe ich vollkommen, Ma’am. Würden Sie uns für einen Moment entschuldigen?“

Mrs Bender nickte und ließ sie zu dritt am Küchentisch zurück.

Taylor sprach leise. Sie wollte die Frau nicht noch mehr aufregen. „Sheriff, hätten Sie etwas dagegen, wenn unsere Spurensicherung hierherkäme und eine Probe von dem Teppich nähme? Es ist vermutlich weit hergeholt, aber vielleicht haben wir die Chance, etwas DNA zu gewinnen. Ich würde es zumindest gerne versuchen.“

„Wir haben eine ziemlich gut ausgestattete forensische Einheit. Warum überlassen Sie uns nicht die Spurensammlung? Wir wären damit fertig, bevor Ihre Leute überhaupt hier runtergefahren wären. So könnten Sie schneller wieder nach Hause fahren.“

„Gerne, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“

„Mir macht es nichts aus, wenn es Miss Marie nichts ausmacht.

Ich werde mal mit ihr reden.“

Kurz darauf kehrte er gemeinsam mit Mrs Bender in die Küche zurück. Das Misstrauen war ihr ins Gesicht geschrieben.

„Werden Sie den Teppich ersetzen?“, fragte sie.

Die gleiche Frage hatte Bangor bezüglich seiner Säule gestellt.

Taylor nickte. „Wir werden unser Bestes geben, um alles so schnell wie möglich wieder in Ordnung zu bringen. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.“

„Wenn es hilft, denjenigen zu finden, der LaTara das angetan hat, dann tun Sie, was Sie tun müssen.“

Simmons klappte sein Handy auf. „Ich rufe meine Jungs von der Kriminaltechnik an. Mal gucken, wer gerade Zeit hat. Geben Sie uns zehn Minuten, dann kriegen wir die Sache zum Laufen.“

Mrs Bender setzte sich wieder an den Tisch. Taylor trank einen Schluck Limonade, die ganz ausgezeichnet war. Ihre Lob zauberte ein kleines Lächeln auf Mrs Benders Gesicht.

„LaTara hat immer so von meiner Limonade geschwärmt. Verdammt, ich vermisse sie so.“ Sie brauchte einen Augenblick, um sich wieder zu fassen. „Warum jetzt, Detective? Warum untersuchen Sie nach all der Zeit noch einmal den Mord an meiner Tochter?“

Taylor entschied sich, der Frau die Wahrheit zu sagen. Sie sah so aus, als könnte sie es verkraften. „Ma’am, ich hoffe sehr, dass ich falsch liege, aber der Fall von LaTara könnte mit einer Reihe von Morden in Verbindung stehen, die diese Woche in Nashville begangen wurden. Erinnern Sie sich noch an die Musik, die in LaTaras Zimmer spielte, an dem Tag, an dem sie gestorben ist?“

„Natürlich. Ich besitze solche Musik nicht. Das entspricht einfach nicht meinem Geschmack. Und LaTara … na ja, sie hat Rap und so was gehört. Ich weiß, dass es keine von unseren CDs war.“

„Hatte LaTara Freundinnen, irgendjemanden, dem sie sich vielleicht anvertraut hat?“

„Als sie jünger war schon. Aber je älter sie wurde, desto tiefer versank sie im Drogensumpf. Ich fürchte, ich weiß nicht, mit wem sie sich herumgetrieben hat. Sie hat aufgehört, zur Kirche zu gehen, hat aufgehört, auf mich zu hören. Ich sage das nicht gerne, aber ich habe sie rausgeschmissen. Das war nicht sehr christlich von mir, und ich bereue es heute zutiefst. Aber ich habe nie etwas mit Drogen zu schaffen gehabt und konnte ein solches Verhalten unter meinem Dach nicht dulden. Als sie versuchte, clean zu werden, habe ich sie mit offenen Armen wieder empfangen. Sie hat so sehr gekämpft.“

„Also gab es keinen Freund?“

„Keinen, von dem ich wüsste. Niemanden, den ich hier herumschnüffeln sah. Sie war ein hübsches Mädchen, meine LaTara. Den Jungen ist sie immer gleich aufgefallen. Aber nachdem sie sich mit den Drogen eingelassen hatte, sah sie nicht mehr so gut aus. Als sie starb, war sie gerade auf dem Weg zurück zu alter Schönheit.“

Der Sheriff kam in die Küche, gefolgt von einer jungen Frau mit einem brünetten Pixieschnitt und beinahe absurd hohen Wangenknochen. Sie wirkte wie jemand, der nicht lange drum herum redete. Auch wenn sie sehr jung aussah, strahlte sie Klugheit aus. Er stellte sie als Deputy Anne Clift vor. Die Frau nickte und schüttelte Taylor und McKenzie die Hand.

„Fangen wir an“, sagte sie. „Zeigen Sie mir das Schlafzimmer.“

Die fünf gingen im Gänsemarsch den Flur hinunter. Taylor bedeutete McKenzie, zurückzubleiben. Der Sheriff und Deputy Clift betraten das Zimmer, Marie Bender folgte ihnen zögernd. Taylor konnte sich nicht ansatzweise vorstellen, wie schwer es für sie sein musste.

Auch wenn drei Jahre vergangen waren, sah das Zimmer noch genau so aus, wie LaTara es hinterlassen hatte. Es war sehr mädchenhaft eingerichtet mit viel Rosa, Blumen und Spitze. An den Wänden hingen Poster, ein Einzelbett mit einer geblümten Überdecke stand an der Wand. Taylor war überrascht von den Ähnlichkeiten, aber auch von den himmelweiten Unterschieden zwischen LaTaras Zimmer – warm, einladend und sicher – und dem Raum, in dem Allegra Johnson gewohnt hatte – feucht und kalt, ohne irgendwelchen Schmuck oder unnötige Dinge. Diese beiden Mädchen waren sich ähnlich, aber auch grundverschieden, was nicht nur an der jeweiligen Gegend lag, in der sie aufgewachsen waren. Es war ziemlich erstaunlich, dass sie beide gleich geendet hatten – Drogen und Prostitution, viel zu jung gestorben, vermutlich durch die Hand des gleichen Mörders. Hatte Allegra Johnson irgendetwas an sich, das den Mörder an LaTara Bender erinnerte?

Der Sheriff verschwendete keine Zeit. Er hatte die Zeichnung vom Originaltatort herausgeholt und vermaß die Fläche direkt vor der Badezimmertür. Dann besprach er sich ein paar Minuten mit Deputy Clift, die daraufhin ein großes Rechteck mit einem orangefarbenen Marker markierte, sich auf die Knie sinken ließ und von der ganzen Fläche vorsichtig Abstriche machte, wobei sie sich von einem gedachten Quadranten zum nächsten bewegte. Sie versiegelte jeden einzelnen Abstrich, beschriftete die Tüte und ging zur nächsten Sektion über. Nachdem sie über fünfzig Proben genommen hatte, schnitt sie das markierte Stück aus dem Teppich heraus. Es maß ungefähr einen Meter mal einen Meter dreißig und passte zusammengerollt gut in eine Papiertüte. Auch diese wurde versiegelt und beschriftet, dann waren sie fertig.

Sie verabschiedeten sich von Mrs Bender. Taylor gab ihr eine Visitenkarte und bat sie, sich bei ihr zu melden, sollte ihr noch irgendetwas einfallen. Dann ließen sie sie allein an der Tür zu LaTaras Zimmer stehen – verloren in der Trauer und den Albträumen, mit denen sie seit dem Tod ihres einzigen Kindes lebte.