34. KAPITEL
Taylor wachte auf, als das Flugzeug auf der Landebahn aufsetzte. Sie stellte ihre Uhr auf Eastern Time um, bürstete sich die Haare und trug etwas Lippenpflege auf. Baldwin würde direkt am Gate auf sie warten. Ein weiterer Vorteil, wenn man beim FBI arbeitete.
Sie stieg aus und wurde auf der Gangway von einem Angestellten der Fluggesellschaft in Empfang genommen, der ihr ihre Tasche und ihren Waffenkoffer übergab. Den Laptop des Mörders hatte sie in ihrer eigenen Laptoptasche verstaut, die sie jetzt an die Reisetasche anhängte, bevor sie ihren Weg über die Gangway fortsetzte. Am Ende sah sie schon Baldwin stehen. Das weiße Button-down-Hemd zu den Chinos stand ihm unglaublich gut. Seine grünen Augen blitzten vor Freude, trotzdem sah er ein wenig abgespannt aus. Zu viele lange Nächte, zu viele Morde. Irgendwann forderte das seinen Tribut. Aber als er sie sah, stahl sich ein Lächeln auf sein Gesicht, und er zog sie in eine Umarmung, die ihr den Atem nahm.
Gott, allein nur bei ihm zu sein vermittelte ihr ein Gefühl von Sicherheit.
Der Reagan National Airport hatte sich verändert, seitdem sie das letzte Mal hier gewesen war. Das war natürlich auch schon Jahre her, sodass sich vermutlich bis auf die bekannten Monumente vieles in der Stadt verändert hatte. Wenn man D. C. eines nicht nachsagen konnte, dann nicht ständig in Bewegung zu sein.
Auf dem Weg durch das Terminal sprachen sie über Nichtigkeiten. Draußen schlug ihr die Luftfeuchtigkeit wie ein nasser Waschlappen ins Gesicht. Lustig, sie wusste, dass es in Nashville genauso feucht war, aber hier fühlte es sich irgendwie immer nasser an.
Sie wichen Unmengen an Leuten aus, die in alle Richtungen liefen, nur nicht in die gleiche wie sie, und erreichten den Bürgersteig, an dem ein Fahrer mit einer großen schwarzen Limousine, die förmlich Regierung schrie, auf sie wartete. Baldwin hielt ihr die Tür auf. Die Klimaanlage war auf volle Leistung eingestellt und verursachte Taylor eine Gänsehaut. Baldwin glitt neben sie auf die Rückbank, und der Fahrer suchte sich seinen Weg durch Taxen und andere Autos zur Ausfahrt. Innerhalb von zehn Minuten waren sie schon auf der I-95 Richtung Quantico.
„So bereit, wie ich nur sein kann. Erzähl mir, wie es weitergeht.“
„Morgen früh fliegen wir nach Italien. Die Carabinieri halten nach Adler Ausschau. Er ist heute Nachmittag in Rom gelandet und war durch den Zoll, bevor die Fahndungsmeldung herausgegeben worden ist. Nein, das stimmt so nicht. Die Meldung war schon draußen, doch sie haben ihr nicht genügend Beachtung geschenkt. Er war clever. Er ist nach Atlanta gefahren und hat den erstmöglichen Flug genommen. Das Georgia Bureau of Investigation hat den Prius bereits sichergestellt. Oh, und wir haben dieses Passfoto.“ Er reichte ihr ein schwarz-weißes Hochglanzbild.
Es handelte sich um ein wesentlich aktuelleres Foto als das von Adlers Führerschein. Der Mann, der sie hiervon anschaute, schickte keine Wellen der Angst durch ihr Nervensystem. Er war … langweilig. Unscheinbar. Nicht sonderlich gut aussehend, nicht hässlich. Viele gemischtrassige Kinder vereinten in sich das Beste aus den Genen ihrer Eltern, doch an Gavin Adler war nichts Elegantes oder Exotisches. Er hatte krause schwarze Haare und ein rundes Gesicht mit so heller Haut, dass man ihn für einen Weißen halten könnte, wenn seine vollen Lippen nicht wären. Seine Augen waren groß und dunkel. Seine Nase war weder groß noch schmal, aber an den Nasenflügeln etwas dicklich. Er sah eher verschreckt aus als Furcht einflößend. Wie hatte dieser harmlose kleine Mann vier Frauen töten können? Wie hatte er Sex mit ihren Leichen haben können? Wie hatte er es geschafft, eine so ausgefeilte Vorrichtung in seinem Keller zu installieren, die allein dem Zweck diente, den Tod seiner Opfer zu beschleunigen?
Taylor war an das Böse gewöhnt, sie sah es jeden Tag. Aber sie hatte Schwierigkeiten, etwas davon in Gavin Adlers Gesicht zu entdecken.
„Das ist er? Der Mann, der so viel Leid verursacht hat?“
„Zumindest die eine Hälfte. Die Italiener, die Briten und Interpol sind gerade dabei, mit ihrer Gesichtserkennungssoftware nach einem weiteren Mann wie diesem in ihren Reisepassdatenbanken zu suchen. Menschen, die von einem Land ins andere gereist sind. Aber wir wissen nicht, welches Land Il Macellaios Reisepass ausgestellt hat oder unter welchem Namen er reist, was das Ganze etwas schwieriger macht. Wir kennen auch keine Reisedaten. Wir haben sehr wenig, woran wir uns halten können. Tommaso ist dort drüben nicht gerade ein ungewöhnlicher Name. Das ist, als wenn wir alle Daten über Leute namens Tom heraussuchen müssten.“
Taylor tippte auf ihre Laptoptasche.
„Das hier wird das hoffentlich ändern. Ich nehme an, dass ihr in der Lage sein werdet, die IP-Adresse ausfindig zu machen, die er benutzt hat, um das Suchgebiet ganz schnell einzugrenzen. Ich bezweifle, dass Tommaso sein richtiger Name ist.“
„Vielleicht, vielleicht nicht. Wir haben versucht, ihn aufzuspüren, und wir haben einen möglichen Verdächtigen. Es gibt einen berühmten Kunstfotografen namens Tommaso. Vielleicht ist das weit hergeholt, vielleicht ist er aber auch unser Mann.“
„Ein Kunstfotograf?“
„Ja. Und noch dazu einer, der für Kunstkataloge von Museen Fotos von Gemälden macht.“
„Ich würde sagen, das passt. Wie seid ihr auf ihn gestoßen?“ „Eine meiner Profilerinnen, Charlaine Shultz, ist ein großer Kunstfan. Als sie den Namen Tommaso hörte, erwähnte sie den Fotografen. Wir haben ihn gegoogelt und unzählige Treffer gehabt. Wir wissen sogar, wo er wohnt.“ Er hielt einen Moment inne. „Willst du raten?“
Taylor schaute ihn fragend an. „In Florenz?“
„Genau. Unter den gegebenen Umständen müssen wir ihn einfach einer näheren Überprüfung unterziehen. Er ist sehr bekannt. Sehr gefragt. Er nennt sich einfach nur Tommaso, falls dir das was sagt.“
„Das ist doch ein hervorragender Ausgangspunkt. Dein Team war ja echt fleißig.“
„Weißt du, was der Name Tommaso bedeutet?“
Taylor schüttelte den Kopf. „Nein, was?“
„Tommaso kommt vom aramäischen ‚Teoma‘ und bedeutet Zwilling.“
Sie lachte überrascht auf. „Das ist unglaublich.“
„Doch, glaub es ruhig. Taylor, ich will die beiden nicht verlieren.
Ich will sie festnageln, und dann will ich sie studieren. Eineiige Zwillinge als Serienmörder. Eineiige Zwillinge, die Nekrosadisten sind. Kannst du dir so etwas vorstellen?“
Baldwins Stimme hatte einen verträumten Klang angenommen, wie immer, wenn er dem wahren Bösen begegnete. Es war seine Berufung, sein Lebenszweck, herauszufinden, was diese Frauen und Männer antrieb.
„Nein, kann ich nicht. Was um alles in der Welt würde diese Störung hervorrufen?“
„Das ist das Faszinierende. Mit eineiigen Zwillingen ist es, als hätte man dieselbe Person in zwei verschiedenen Körpern. Es ergibt Sinn, dass, wenn einer die krankhafte Neigung hat, sich mit Toten zu vereinen, der andere diese ebenfalls hat. Natürlich treibt das einen riesigen Pflock durch das Herz der ‚Natur oder Erziehung‘-Theorie.“
Taylor schaute ihn an. „Gehst du davon aus, dass sie in irgendeiner Umgebung aufgewachsen sind, die sie erst zu dem gemacht hat, was sie jetzt sind?“
„Ich kann von gar nichts ausgehen, bis wir nicht herausgefunden haben, wer sie wirklich sind. Die Überprüfung von Gavin Adler hat ergeben, dass er adoptiert worden ist. Wir versuchen herauszufinden, von wem. Hoffentlich erfahren wir dabei auch den Namen des anderen Bruders. Es wird faszinierend zu sehen sein, wie ihre frühe Kindheit und Jugend war. Ich sage dir, Taylor, egal, in was für einer Umgebung ein Kind aufwächst, es gibt die vernünftige Erwartung, dass es den Unterschied zwischen richtig und falsch versteht, dass es das Rüstzeug erhält, um einen positiven Moralkompass zu entwickeln. Serienmörder werden nicht gemacht. Sie entscheiden sich, Mörder zu werden, sie entscheiden sich, Leben zu nehmen. Eine verborgene Sehnsucht nach Nekrophilie ist vermutlich nicht angelernt. Natürlich ist das eine weitere vollkommen verkehrt verstandene krankhafte Neigung. Wusstest du, dass Nekrophilie eigentlich nur das Verlangen nach Sex mit einem widerstandslosen Partner ist? Die meisten Nekrophilen bleiben im Stadium der Fantasie hängen. Nur wenige leben ihre Triebe aus, und wenn sie es tun, suchen sie sich Partner, die gewillt sind, bei entsprechenden Rollenspielen mitzumachen. Sie suchen nach einvernehmlichem Sex, nach totaler Unterwerfung. Einige der gestörteren Täter setzten ihre Opfer unter Drogen – zum Beispiel Rohypnol. Das ist das klassische Verhalten eines Nekrophilen.“
„Du meinst, Männer, die Frauen Rohypnol geben und sie dann vergewaltigen sind eigentlich nekrophil?“
„Genau das wollte ich sagen. Sie wollen die Macht und die Kontrolle, und sie wollen kein Nein zu hören kriegen. Du solltest die Websites sehen, die diesem Thema gewidmet sind. Sie haben etwas, dass sie ‚Sleepy Sex‘ nennen, für Partner, die gewillt sind, sich während des Rollenspiels fotografieren zu lassen und die Fotos danach mit der Community zu teilen.“
„Das ist … verstörend. Der Gedanken an eine Untergrundbewegung aus Männern und Frauen, die darauf abfahren … na ja, jeder hat so seine Vorlieben. Nach dem, was ich dem Chat entnommen habe, sieht es so aus, als wenn Adler bis gestern nicht gewusst hat, dass Tommaso sein Bruder ist. Glaubst du, dass Tommaso und Gavin sich über eine dieser Seiten kennengelernt haben?“
„Ich weiß es nicht. Hier kommt allerdings das Problem: Unsere Jungs haben sich auf etwas viel Schlimmeres eingelassen. Sie töten aktiv, um Sex mit den Leichen zu haben. Sie sind eine weiterentwickelte Version des klassischen Nekrophilen. Ich wäre nicht überrascht, in ihrem Lebenslauf zu entdecken, dass sie in oder in der Nähe von einem Beerdigungsinstitut gearbeitet haben oder auf einem Friedhof. So wie es im Moment aussieht, geht das, was sie tun, weit über alles hinaus, was ich in meiner bisherigen Laufbahn kennengelernt habe. Und die Kunst, die Gemälde? Die Postkarten an den Fundorten? Denk mal darüber nach.“
Das tat sie. „Oh. Unbewegliche Frauen, in Pose gelegt und bereit.“
„Genau.“
Er lehnte sich zurück und nahm ihre Hand. „Ich sage dir was. Adler ist panisch. Wenn ein Verdächtiger seinen üblichen Weg verlässt, wenn er etwas tut, das nicht zu seiner üblichen Routine gehört, macht er Fehler. Unser Mann hat große Fehler gemacht. Fehler, aufgrund derer wir ihn jetzt schnappen werden – und wir werden auch seinen Bruder fassen. Es gibt viele Menschen in Italien, die ruhiger schlafen werden, sobald wir Il Macellaio von der Straße geholt haben.“
„Sollten wir sie jetzt nicht besser I Macellai nennen?“, fragte Taylor.
„Die Schlachter. Mehrzahl. Ja, schätze, das sollten wir.“
„Er hat seinen Kater zurückgelassen.“
„Adler?“
„Ja. McKenzie nimmt ihn erst einmal bei sich auf. Ich hab es nicht
übers Herz gebracht, Nein zu sagen, und der Tierschutz hätte das arme Tier vermutlich eingeschläfert. Aber rate mal, wie der Kater heißt.“
„Wie?“
„Art.“
Baldwin schüttelte den Kopf. „Das ist einfach zu viel. Adler ist auch eine Art Künstler. Er ist als Grafiker der Picasso-Monografien angegeben. Wir suchen nach allem, was seinen Namen im Impressum aufführt. Hast du irgendeine Ahnung, wo er gearbeitet hat?“
„Nein. McKenzie kümmert sich um diese Sachen. Aber jetzt, wo ich all das weiß, kann ich McKenzie bitten, tiefer zu graben. Es sah nicht so aus, als hätte er aus seinem Haus heraus gearbeitet. Aber wenn wir erst einmal seinen Computer gründlich auseinandergenommen haben, werden wir vielleicht mehr wissen.“
„Das ist ein bisschen wie beim Son of Sam.“
„Hm?“
„Erinnerst du dich? Er ist wegen Falschparkens erwischt worden. Zu Adler haben wir gefunden, weil einer deiner Streifenpolizisten aufmerksam genug war, zu sehen, dass er sich komisch verhielt.“
„Er hatte sich nicht angeschnallt. So ein dummer kleiner Fehler. Aber wir hätten ihn sowieso gefunden. Ich denke, er ist abgehauen, weil er angehalten worden ist. Ansonsten wäre er bestimmt bei Kendra Kelley geblieben und wir hätten ihn womöglich in flagranti erwischt.“
„Wie geht es Kendra?“
„Sie wird überleben. Er hat sie unter Drogen gesetzt, sodass man sie im Krankenhaus mit einem Gegenmittel vollpumpen musste, um die Überdosis zu neutralisieren. Ich weiß allerdings nicht, welche emotionalen Narben bleiben werden. Beim letzten Opfer hat er die Lider mit Klebstoff hochgeklebt, sodass es die Augen nicht mehr schließen konnte. Stell dir mal vor, du bist in diesem Plexiglassarg gefangen, kannst deinen Mörder sehen, spürst, wie das Leben langsam, aber sicher aus dir heraussickert. Man kann sich ungefähr ausmalen, was er als Nächstes vorhatte. Wir haben sie vor einem grausamen Schicksal bewahrt.“
„Wir sind da“, sagte Baldwin.
Taylor schaute aus dem Fenster. Sie hatten vor einem Restaurant namens Globe and Laurel angehalten. Es war beinahe zehn Uhr abends. Taylor war kurz vorm Verhungern. Allein der Gedanken an etwas zu Essen ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Als ihr Magen knurrte, schaute Baldwin sie mit zur Seite gelegtem Kopf an. „Es sind schon alle da. Ich dachte, wir essen noch eine Kleinigkeit, bevor wir uns an die Arbeit machen.“
„Das, mein Liebster, klingt einfach wundervoll.“