32. KAPITEL

Taylor und McKenzie koordinierten ihren Angriffsplan. Das Wichtigste war jetzt, Kendra Kelley zu finden. Taylors Bauchgefühl sagte ihr, dass Il Macellaio etwas mit Kendras Verschwinden zu tun hatte. Sie hatte mit genügend Serienmorden zu tun gehabt und wusste, wann eine Mordserie eskalierte. Sie hoffte nur, dass sie Kendra noch rechtzeitig finden würden.

Baldwin hatte eine Kopie des Profils geschickt, sodass sie alle Werkzeuge zur Hand hatte, die sie brauchte. Er würde in ein paar Stunden zurück in Nashville sein, das würde auch helfen. Er war in solchen Situationen einfach fantastisch; ruhig und besonnen, schätzte er die Lage immer richtig ein.

Sie hatte das Verlangen, sich kampfbereit zu machen und irgendetwas Großkalibriges mitzunehmen, gab sich dann aber mit einigen Ersatzmagazinen zufrieden. McKenzie trug seine Dienstpistole und hatte außerdem eine Remington-870-Flinte aus der Waffenkammer des Departments dabei. Nichts konnte die Angst im Herzen eines Verdächtigen so schön entfachen wie das Geräusch einer Pump-Action-Schrotflinte, die eine Patronenhülse ausspuckte – das tiefe, stählerne KA-TSCHUNG war so einzigartig und Furcht einflößend wie das Knurren eines tollwütigen Wolfs. Es war ein wirksames Hilfsmittel, von dem sie hoffte, dass sie es nicht brauchen würden.

Dank McKenzie hatten sie eine Bestätigung des Namens. Ein Name war sowohl auf der Gästeliste von Hugh Bangors Party als auch in dem Impressum des Picasso Catalogue raisonnés aufgetaucht. Ein Name, der mit der Kfz-Registrierung für einen weißen Prius übereinstimmte.

Gavin Adler war ihr Verdächtiger. Taylor hatte keinen Zweifel, dass er Il Macellaio war.

Und sie hatte letzte Nacht an seine verdammte Tür geklopft.

Sie hatte eine Gruppe Officers zusammengetrommelt, die ihnen bei der Suche helfen sollten. Als sie ihre Anweisungen gab, fühlte sie sich sofort wieder wie früher, vor ihrer Degradierung.

Sie war unzufrieden mit sich. Sie hätte hartnäckiger sein sollen. Irgendetwas an dem Haus am Highway 100 war ihr gestern Nacht nicht geheuer gewesen. Es war ruhig und lag relativ einsam, hatte keine direkten Nachbarn. Es war der perfekte Ort für jemanden, der sich Zeit ließ. Falls Kendra dort war und nicht mehr lebte, würde es Taylor sehr schwer fallen, sich jemals zu vergeben.

Natürlich verfluchte sie sich jetzt für ihren nächtlichen Streifzug. Vermutlich hatte sie den Bastard vorgewarnt, sodass er genügend Zeit gehabt hatte, zu verschwinden.

Es war an der Zeit. Alle wussten, was sie zu tun hatten. Die Fahndung nach dem Prius war rausgegangen. Taylor rief Julia Page an und schilderte ihr, wofür sie einen Durchsuchungsbefehl benötigten. Julia sagte, sie würde einen ausstellen, wenn sie die Durchsuchung begleiten dürfte. Taylor erinnerte sie daran, Stillschweigen zu bewahren. Sie versuchten, unterhalb des Radars zu fliegen und die Presse so lange aus dem Spiel zu lassen, bis sie sicher waren, ob Adler erneut getötet hatte oder nicht.

Die arme Rowena saß wie erstarrt an ihrem Tisch, ihre Finger glitten durch die Akten, doch ihre Augen nahmen nichts wahr. Wie sie es schaffte, trotzdem mit so geradem Rücken dazusitzen, war Taylor ein Rätsel. Die Frau hatte die Kraft von zehn Männern. Sie war Polizistin. Sie kannte den Fall. Sie kannte die Chancen. Und doch machte sie so gut es ging mit.

Beim Hinausgehen legte Taylor ihr einen Arm um die Schulter. „Ich werde sie finden, Rowena, das verspreche ich.“

„Danke, Miss Taylor. Wenn das jemand schafft, dann Sie.“

Taylor nickte nur und sammelte dann McKenzie ein. Sie nahmen den Caprice und fuhren zügig durch die Innenstadt. Es waren erst dreißig Minuten vergangen, seitdem Rowena in ihr Büro gekommen war.

Der Himmel war tiefblau, die Luftfeuchtigkeit so niedrig, dass es sich wie Herbst anfühlte. Ein perfekter Tag.

Während sie fuhr, las McKenzie das vollständige Profil des Mörders laut vor.

„Hiernach ist Il Macellaio ein gemischtrassiger Mann zwischen dreißig und fünfunddreißig, er war ein Adoptiv- oder Pflegekind. Er ist ein Einzelgänger, hat aber Freunde, die ihn für solide und zuverlässig halten. Er arbeitet im künstlerischen Bereich, höchstwahrscheinlich als Maler oder Fotograf. Sein Job hat eine internationale Ausrichtung, was es ihm erlaubt, zu reisen, ohne Verdacht zu erregen. In Nashville und Florenz besitzt er ein eigenes Haus, in London wohnt er zur Miete.“

„Das passt zum Teil auf Adler. Wir wissen, dass er durch die Monografie mit Bangor verbunden ist. Vielleicht steckt aber auch noch mehr dahinter. Er könnte ein örtlicher Künstler oder Mäzen sein.“

Taylors Handy klingelte. Die Zentrale. Oh nein. Sie antwortete zögernd, hoffend, dass es keine schlechten Nachrichten waren.

„Detective, ich habe einen Officer Barry Armstrong vom Bezirk West in der Leitung. Er muss dringend mit Ihnen sprechen.“

„Stellen Sie ihn durch.“

Armstrong begrüßte sie und sagte dann: „Hören Sie, ich will nicht um den heißen Brei herumreden. Ich habe gehört, dass Sie nach einem weißen Prius Ausschau halten. Ich habe heute Morgen in Bellevue einen Typen herausgeholt. Er passt zu der Beschreibung, die Sie herausgegeben haben. Ich habe seine Daten, möchten Sie die haben?“

„Ja, auf jeden Fall.“

„Der Name ist Gavin Adler. Wohnhaft am Highway 100. Hibbeliger Typ, sehr nervös, schreckhaft. Er hatte sich nicht angeschnallt. Ich habe ihn dafür ermahnt und er schien, ich weiß nicht, so unglaublich erleichtert, dass es mich misstrauisch gemacht hat.“

„Barry, das ist der Name unseres Verdächtigen. Wir sind gerade auf dem Weg zu ihm. Wo sind Sie? Könnten Sie uns dort treffen?“

„Ich bin schon auf dem Weg. Muss nur eben noch meinem Schichtleiter Bescheid sagen. Ich könnte in fünf Minuten da sein.“

„Okay. Wir treffen uns am Fuß der Einfahrt.“

„Sie wissen, wo das ist?“

„Ja, ich war letzte Nacht dort. Verdammt.“ Sie legte auf. „McKenzie, versuch bitte, Julia Page zu erreichen und frag, ob der Durchsuchungsbeschluss fertig ist. Sag ihr, dass wir sonst so reingehen und Gefahr in Verzug geltend machen, falls sie nicht rechtzeitig da sein kann. Ich möchte das hier alles offen und ehrlich abwickeln. Danke Gott für Richterin Bottelli.“

„Sie ist eine harte Nuss.“ McKenzie fummelte an den Knöpfen des Funkgeräts herum.“

„Aber sie ist fair. Versuchen wir es. Los, ruf an.“

Taylor packte das Lenkrad fester und trat das Gaspedal durch.

Bei Tageslicht sah das Haus weniger unheimlich aus. Ein gepflegter, minimalistischer Vorgarten, ein Rasen, der seit ungefähr einer Woche nicht gemäht worden war, ein kleiner, plätschernder Springbrunnen. Hier könnte jeder wohnen. Aber lebte vielleicht ein Monster hinter diesen Wänden?

Taylor hatte ihre Schutzweste übergezogen und überprüfte nun ihre Magazine und den Elektroschocker. Alles schien in Ordnung zu sein. McKenzie stand neben ihr, die Flinte schussbereit in den Händen, die Nasenflügel zusammengekniffen. Officer Barry Armstrong stand zwei Meter entfernt. Es waren noch drei weitere Personen anwesende: Julia Page war mit einem Durchsuchungsbeschluss aufgetaucht, auf dem die Tinte noch nicht ganz trocken war. Auf Grundlage der Beweise aus Bangors Haus, dem Namen auf der Gästeliste, den fehlenden Seiten aus den Picasso-Monografien und Armstrongs Aussage, dass der Mann, den er heute Morgen herausgewinkt hatte, perfekt mit der Beschreibung im Profil übereinstimmte, hatte Richterin Bottelli nicht gezögert. Hinzu kam, dass ein Kind involviert war. Sie hatten Häuser schon mit weniger überzeugenden Argumenten gestürmt.

Tim Davis stand mit der Videokamera bereit, um alles zu dokumentieren. Keri McGee war auf dem Weg hierher, um ihm bei der Sicherung aller möglichen Beweise zu helfen.

Paula Simari stand mit Max am Rand, bereit für den Fall, dass der Verdächtige versuchen sollte, zu fliehen. Max könnte ihn schneller und effektiver zur Strecke bringen als jeder der anwesenden Officer.

Taylor vermisste es, Lincoln und Marcus an ihrer Seite zu haben, aber diese Truppe würde reichen müssen.

Sie würden alle einen mächtigen Einlauf bekommen, wenn sie sich geirrt hatten, aber Taylor war sich ziemlich sicher. Sie spürte, dass das hier der richtige Ort war. Sie konnte es einfach fühlen. Das Böse, verborgen hinter einem hübschen Garten und einem süßen kleinen Springbrunnen.

Sie waren bereit. Armstrong würde die Hinterseite des Hauses übernehmen, Taylor und McKenzie blieben vorne.

„Willst du klopfen?“, fragte McKenzie leise.

„Nein. Ich bin gerade nicht in der Stimmung, erschossen zu werden. Kein Klopfen. Hart und schnell.“ Sie warteten dreißig Sekunden, damit Barry seinen Platz einnehmen konnte, dann hob Taylor ihren rechten Fuß und stieß ihren Stiefel mit Wucht gegen die Tür. Sie spürte den Nachhall in ihrer Hüfte, aber das Schloss gab unter dem Druck nach. Die Tür schwang auf und knallte gegen die Flurwand. Sie waren drin. McKenzie wandte sich sofort nach rechts, Taylor übernahm die linke Seite. Der Junge wusste, wie man eine Erstürmung anging, das musste sie ihm lassen.

Das Haus war leer, das spürte Taylor sofort. Und es sah aus, als hätte es derjenige, der hier gelebt hatte, in aller Eile verlassen. Im Schlafzimmer im ersten Stock lagen Klamotten herum, Schubladen standen offen, die Schranktür war nicht zugeschoben. Im Bad fehlte die Zahnbürste.

Sie sicherten die Räume im Erdgeschoss. Das Wohnzimmer hatte Bücherregale, die vom Boden bis zur Decke reichten und vollgestopft waren mit klassischen CDs. Um die Ecke im Flur fiel Taylor das nagelneue Vorhängeschloss an einer Tür auf, die vermutlich in den Keller führte. Eine wunderschöne graue Katze saß stumm an der Tür und beobachtete sie aus traurigen gelben Augen.

McKenzie kam aus der Küche. „Ich habe die Garage gesichert. Das Auto ist weg“, sagte er.

Armstrong gesellte sich zu ihnen. Er warf einen Blick auf das Schloss und sagte: „Ich habe einen Bolzenschneider im Kofferraum.“

Als er durch die zerstörte Haustür nach draußen ging, warf er Taylor einen bewundernden Blick zu. Sie hob nur eine Augenbraue. Schweiß rann ihr über den Rücken. Sie musste in den Keller, und zwar schnell.

Die Katze starrte sie an. Taylor beugte sich hinunter und kraulte sie hinter den Ohren. Sofort fing sie an zu schnurren und sich im Kreis zu drehen. Ein Kater, wie sie da sah, und ganz einsam. Sie fragte sich, wie lange er wohl schon allein war. Vielleicht hatte sie ihn gar nicht aufgescheucht.

„McKenzie, sieh mal nach, ob die Katze Futter hat.“

„Warum?“, fragte er.

Sie schaute ihn nur an. Er nickte und ging in die Küche. Sekunden später war er wieder zurück.

„Da stehen drei große, volle Schüsseln mit Trockenfutter und eine riesige Schüssel voll Wasser. Genug, um ihn eine Woche zu ernähren, würde ich sagen.“

Verdammt, verdammt, verdammt. Sie hatten ihn verpasst. Taylor seufzte. „Was glaubst du, unternimmt Mr Adler nur eine kleine Reise oder hat er sein Haustier für immer zurückgelassen?“

„Ich weiß es nicht. Aber komm mal her, Taylor, sieh dir das an.“

McKenzie ging den Flur hinunter und zeigte ins Wohnzimmer. Taylor stellte sich neben ihn. An der gegenüberliegenden Wand hing ein Poster aus dem Museum of Modern Art. Les Desmoiselles d’Avignon.

„Okay, das ist einfach nur gruselig. Und unsere Verbindung zu Bangor. Ich wette, das hier ist der Adler von der Gästeliste zu Bangors Party.“

Armstrong kehrte zurück. „Mal sehen, was er im Keller versteckt hat.“

Sie gingen zur Kellertür. „Vorsichtig“, mahnte Taylor. „Ziehen Sie sich Handschuhe an. Wir wollen keine möglichen Spuren dieses Mistkerls verlieren.“

„Ich weiß.“ Er zog die Latexhandschuhe über, setzte den Bolzenschneider an und trennte den Bügel des Schlosses in zwei Hälften. Das Schloss fiel klappernd zu Boden. McKenzie hob es auf und reichte es Tim, der es in einen Beweismittelbeutel steckte.

Taylor ging voran. Die Stufen führten direkt in die Dunkelheit. Es gab keinen Treppenabsatz, nur eine tiefschwarze Finsternis am Fuß der Treppe. Zu ihrer Linken sah sie einen Lichtschalter, den sie betätigte. Es waren Birnen mit geringer Wattzahl, sodass der Raum in sanftes Licht gehüllt wurde. Das erinnerte sie an ihren letzten Ausflug in einen Keller, der harmlos ausgesehen hatte, in dem sie dann aber auf ein Amateurpornostudio gestoßen waren. So eine Erfahrung brauchte sie nicht noch einmal.

Sie nahm die letzte Stufe und steckte den Kopf um die Ecke, bereit für eine Überraschung, doch da war nichts.

Erst als sie vorsichtig in den Lichtschein trat, sah sie die durchsichtige Plastikbox. Ein Plexiglassarg. In dem eine Frau lag.

Kendra Kelley. Sie rührte sich nicht.

Der Sarg hatte an jedem Ende zwei Schlösser, die den Deckel sicherten. In der Mitte verlief eine Trennscheibe, die den Sarg in zwei Hälften teilte, jede gerade groß genug für eine zierliche Frau. Kendra lag im rechten Teil. Taylor sah, dass die Bodenplatte lauter kleine Löcher hatte. Sofort dachte sie an das Muster auf den Leichen von Allegra Johnson und Leslie Horn. Die Punkte. Ohne Zweifel waren sie am richtigen Ort.

„Jesus, macht mir mal mehr Licht. Armstrong, bringen Sie den Bolzenschneider.“

„Lebt sie noch?“ McKenzies Stimme war nur ein angespanntes Flüstern.

„Ich weiß es nicht.“

Sie hörte, wie Armstrong die Treppe hinauflief, und sah sich in dem Raum um. Er war unterteilt. Es gab einen Computer auf einem Schreibtisch, der Bildschirm war schwarz. Ein großer Bollerofen in einer Ecke, ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen, einer leeren Flasche Wein und abgebrannten Kerzen. Eine abgenutzte Matratze mit Kissen vor dem Ofen – oh, daran wollte sie gar nicht erst denken. Jetzt noch nicht.

Armstrong kehrte zurück und brach die Schlösser auf. Sie öffneten den Deckel. Das Mädchen sah grau aus; ihre Augen waren immer noch geschlossen. Taylor fühlte an der Halsschlagader nach dem Puls. Sie erwartete nicht, etwas zu fühlen, doch sie spürte ein winziges Flattern, wie das Herz eines Vogels.

„Sie lebt! Ruft sofort einen Krankenwagen!“ Taylor beugte sich vor und lehnte sich über das Mädchen, um ihren Atem zu checken. Das leichte Heben und Senken ihres Brustkorbs war in dem dämmrigen Licht kaum auszumachen. Sie überlegte noch mal.

„Armstrong, ich weiß nicht, ob wir die Zeit haben, auf den Notarzt zu warten. Die brauchen bestimmt zwanzig Minuten hierher. Können Sie sie fahren?“

„Klar. Ins Baptist?“

„Ja. Mit Blaulicht und Sirenen. Sie ist in Lebensgefahr, Sie müssen sich beeilen.“

Als Armstrong und Taylor die leblose Kendra aus dem Sarg hoben, flatterten ihre Lider, dann öffnete sie die Augen. Ihr Blick war voller Panik, wie ein Pferd, das vor einer Schlange zurückscheut. Die Pupillen waren stark geweitet.

Taylor sprach leise mit ihr, versuchte, sie zu beruhigen. „Alles in Ordnung, Kendra. Wir haben dich. Wir sind von der Metro Police. Er ist weg. Du bist jetzt in Sicherheit. Alles wird wieder gut.“

Eine einzige dürftige Träne glitt über die Wange des Mädchens. Dann flüsterte Kendra ein einziges Wort in Taylors Ohr. „Puppen“, sagte sie. Ihre Augen schlossen sich. Sie war zu schwach, um zu weinen.

Taylor schaute sich um und erblickte eine Spritze unter dem Sarg. Shit.

„Beeilen Sie sich, Armstrong. Sie wirkt betäubt. Er hat ihr irgendwas gegeben, um die Sache zu beschleunigen. Sie muss umgehend in ein Krankenhaus.“

Sie eilten die Treppe hinauf, betteten Kendra auf den Rücksitz des Streifenwagens und sahen Armstrong hinterher, der mit Blaulicht und Sirene die Straße hinunterraste. Dann rief Taylor bei Rowena an.

„Ich habe sie gefunden, Rowena. Sie ist im Moment auf dem Weg zum Baptist Hospital.“

Der Rest von Tims Spurensicherungsteam kam und verteilte sich im Haus, um jedes noch so kleine Beweisstückchen aufzusammeln, dessen sie habhaft werden konnten. Paula und Max waren zu einem anderen Fall gerufen worden. Tim Davis nahm Fingerabdrücke von dem Sarg, während Keri McGee für die Nachwelt alles auf Video festhielt. McKenzie war nach oben gegangen, um den Gerichtsbeschluss auf alles, was sich im Haus befand, ausweiten zu lassen. Julia Page stand neben dem Plexiglassarg, bleich wie ein Geist, und dokumentierte alles, was um sie herum geschah, in ihrem kleinen Moleskin-Notizbuch.

Taylor durchsuchte Gavin Adlers Computer. Der graue Kater hatte es sich auf ihrem Schoß gemütlich gemacht und schnurrte sich ins Delirium.

„Hast du so etwas jemals gesehen, Taylor?“, fragte Tim. Sie war überrascht; er hatte noch nie ihren Vornamen benutzt.

„Nein“, sagte sie. „Ich habe schon viel gesehen, aber das hier setzt allem die Krone auf.“

Sie schaute sich in dem Raum um, der nun von Tims Strahlern hell erleuchtet war. Sie stellte sich die Dunkelheit vor, die Schatten, die das Feuer in dem Ofen an die Wände warf, die erstickten Schreie der Mädchen, die sterbend in dem Plexiglassarg lagen.

Der Computer war hochgefahren. Die Eingabe eines Passworts wurde verlangt. Mist. Wo war Lincoln, wenn man ihn brauchte?

Sie machte ein paar wahllose Versuche. Gavin Adler. GAdler. Nichts. Von dem Strafzettel, den Armstrong dem Mann ausgestellt hatte, wusste sie sein Geburtsdatum. Sie versuchte es damit. Auch nichts. Dann erinnerte sie sich an das Wort, das Kendra geflüstert hatte. Puppen. Das war so ein harmloses Wort. Aber durchaus einen Versuch wert.

Sie tippte das Wort ein. Nichts. Alles in kleinen Buchstaben. Nichts. Sie tippte PUPPEN – und der Computer erwachte für den Bruchteil einer Sekunde zum Leben. Sie beugte sich näher heran. Ah. Der Desktop erfüllte den Monitor. Glück gehabt.

„Sesam öffne dich“, flüsterte sie.

Sie sah ein blinkendes Icon und klickte darauf. Mit Instant Messaging war sie nur vage vertraut; sie hatte weder die Zeit noch die Lust, sich eingehender damit zu beschäftigen, aber ein wenig wusste sie schon. Es öffnete sich ein aktiver Chat, und Adler hatte vergessen, ihn zu löschen.

Als sie immer schneller und schneller las, die Seiten beinahe scannte, spürte sie, wie das Grauen sich in ihrem Körper ausbreitete. Ja, sie hatten ihn verpasst. Aber das war noch nicht alles.

„Oh Gott.“ Sie holte ihr Handy heraus und rief die Zentrale an. „Wir müssen die Fahndung nach dem weißen Prius auf den Staat Georgia ausweiten.“

Sie legte auf und drückte sofort die Kurzwahltaste für Baldwin. Er antwortete nach dem ersten Klingeln.

Sie hörte das Zittern in ihrer eigenen Stimme. „Ich bin in Gavin Adlers Keller. Wir haben uns geirrt. Oh mein Gott, wir haben so danebengelegen. Gavin Adler ist nicht Il Macellaio.“

„Wovon redest du da?“

„Baldwin, es gibt zwei von ihnen.“

„Was meinst du mit ‚es gibt zwei von ihnen‘?“

„Bist du immer noch in Quantico?“, fragte Taylor.

„Ja, das bin ich. Ich wollte den Flug in ungefähr einer Stunde nehmen.“

„Vielleicht solltest du noch da bleiben. Ich komme zu dir. Aus D. C. erwischen wir leichter einen Flug nach Florenz als aus Nashville.“

„Wow. Jetzt mal ganz ruhig. Erzähl mir alles der Reihe nach.“

Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. „Alle unsere Spuren führten hierher und belasten Gavin Adler. Ich bin im Moment in seinem Haus im westlichen Davidson County. Wir haben gerade ein Opfer geborgen, eine junge Frau namens Kendra Kelley, die in einem Sarg aus Plexiglas gefangen gehalten wurde. Dies hier ist das Haus, Baldwin, das Haus des Mannes, der Allegra Johnson und Leslie Horne getötet hat. Aber es ist nicht das Haus von Il Macellaio.

Wir haben total falsch gelegen. Il Macellaio ist immer noch in Europa. Er ist in Italien, in Florenz. Wir müssen ihnen hinterher. Dieser Typ, Gavin Adler, ist der Bruder von Il Macellaio.“

„Sein Bruder? Meinst du das im übertragenen Sinne oder richtig einen aus Fleisch und Blut?“

„Ein echter Bruder. Und sie haben zusammengearbeitet. Ich habe gerade einen kleinen Einblick in ihre Welt erhalten, und ich sage dir, es ist grauenhaft. Übrigens, ich habe einen Namen für Il Macellaio, nach dem du schon mal anfangen kannst zu suchen. Tommaso. Das ist alles. Ich warte darauf, dass die Spezialisten kommen und den Computer genau durchsehen.“

„Um Himmels willen. Es gibt zwei von ihnen. Okay, okay, gib mir eine Sekunde.“

Sie hörte ihn mit Papieren rascheln, stellte sich vor, wie er sich mit den Fingern durch die Haare fuhr, um sein Gehirn zu noch größeren Denkleistungen anzuregen.

„Ist das ein Desktopcomputer?“, fragte er.

„Nein, ein Laptop.“

„Okay. Nimm ihn mit. Fahr zum Flughafen und komm hierher. Ich kläre das alles mit deinem Boss. Wir analysieren das System und holen so viele Informationen raus wie möglich. Ist Adler nach Italien geflohen?“

„Ja. Das steht alles hier. Tommaso weist Adler an, zu ihm zu kommen. Alles stehen und liegen zu lassen, die ‚Puppe‘, wie er das Mädchen, das wir hier gefunden haben, nannte, zu entsorgen und sofort abzureisen. Er hat ihm Anweisungen geschickt, zum Hartsfield International Airport in Atlanta zu fahren. Ich schätze, um uns abzulenken, falls wir gedacht hätten, dass er fliehen will. Dort ist für ihn bei Alitalia ein Ticket nach Rom hinterlegt. Und er nennt ihn Bruder.“

„Also sind sie vielleicht nicht physisch verwandt.“

„Baldwin, denk doch mal darüber nach. Die DNA aus Chattanooga stimmt mit der aus London und Florenz überein. Die DNA passt.“

„Heilige Scheiße“, murmelte er. „Natürlich. Ich war so blind. Es gibt nur eine Möglichkeit, wie die DNA von zwei Menschen übereinstimmen kann.“

„Genau. Sie sind nicht nur Brüder. Sie sind eineiige Zwillinge.“