26. KAPITEL

Normalerweise trieb Gavin sich nicht in Williamson County herum. Auch wenn er an der nordwestlichen Ecke wohnte, hatte er selten Grund, die Grenze des Landkreises zu überqueren. Aber heute hatte er keine andere Wahl. Die Tinte des Spezialdruckers in seinem Büro war aus, und es gab nur einen Laden in der Stadt, der sie führte. Das Geschäft befand sich in Franklin, was knappe zwanzig Minuten südlich von Nashville lag. Es war ein Privatunternehmen, das von einem ruhigen Mann geführt wurde, der auch nur selten den Wunsch verspürte, sich zu unterhalten. Gavin mochte es, mit ihm zusammenzuarbeiten – es war eine einfache Beziehung, die auf „Ich brauche das – okay, ist am Freitag fertig“, beruhte.

Sein, nun ja, Freund wäre dann doch zu viel gesagt, war gar nicht im Laden, aber er hatte auf dem Tresen ein Paket hinterlassen, auf dem Gavins Name in Druckbuchstaben stand. Gavin ließ einhundertneunzig Dollar in bar in einer Schublade unter der Kasse zurück. Das war ein sicherer Platz. Dies hier war eine gute Wohngegend.

Heute war es ihm besonders schwergefallen, das Haus zu verlassen. Er sollte den Verlust seiner geliebten, von ihm gegangenen Puppe betrauern. Er wollte einfach nur zu Hause sein, die wohlriechende Luft schnuppern, die noch über ihrer Ruhestätte hing, die Bilder ansehen, die er von ihr gemacht hatte. Vielleicht sogar mit Morte sprechen. Morte hatte immer Verständnis für Gavins Traurigkeit, nachdem eine Puppe kaputt war. Aber Morte sprach nicht mehr mit ihm.

Er könnte sich an Necro halten, aber das wäre keine große Hilfe. Necro steckte immer noch im Stadium des Rollenspiels. Er bezahlte Frauen dafür, dass sie sich schlafend stellten, wenn er mit ihnen schlief. Natürlich dachte er, Gavin würde das Gleiche tun. Morte war der Einzige, der wusste, dass Gavins Puppen echt waren.

Er stieg wieder in den Prius ein, fuhr einmal quer durch Franklin, bog am McDonald’s links ab und fuhr dann wieder auf die 96 West. Er klappte die Sonnenblende hinunter und setzte die Sonnenbrille auf. Die Vororte von Franklin wichen bald grünem Farmland, aus dem sich hier und da schmiedeeiserne Tore, große Häuser und ungezählte Kühe erhoben.

Er dachte an seine Puppe und weinte ein wenig. Er hasste es, sie gehen zu sehen. Das beraubte ihn jedes Mal seiner Kraft. Eine Zeit lang hatte er sogar aufgehört, sie zu sammeln, weil der Verlust zu schwer zu ertragen gewesen war. Er war nie erwischt worden, aber das war vermutlich reines Glück. Um kein Risiko einzugehen, hatte er seine Sehnsüchte lange Zeit ausschließlich übers Internet befriedigt. Dann war er Morte und Necro begegnet. Morte hatte gleich die richtigen Saiten in ihm angeschlagen, die seine alten Triebe wieder zum Leben erweckten. Morte schenkte ihm neue Macht, neue Sehnsüchte. Erlaubnis. Ermutigung. Er wollte Morte zeigen, dass er genauso gut war wie er. Was sollte er nur ohne ihn tun? Er musste einen Weg finden, Mortes Freundschaft zurückzugewinnen.

Vor ihm tauchte die massige, doppelte Bogenbrücke aus Beton auf, die den Natchez Trace Parkway über den Highway 96 hinübertrug. Er bewunderte ihre Größe, die Schönheit der Linien, die Eleganz der Kurven, die denen einer Frau glichen. Er war beinahe an der Brücke, als er ein Auto am Straßenrand sah. Ein Auto und eine Frau.

Sein Pulsschlag beschleunigte sich. Aus Reflex bremste er seinen Prius ab. Sie winkte ihm zu. Gestikulierte. Er konnte nicht glauben, was er sah. Sie war umwerfend: schmale Hüften, zarte Gesichtszüge, langes, geflochtenes Haar. Er hielt hinter ihrem Auto an. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Sie kaum auf ihn zu. Ihre schlanken Hüften wiegten sich. Ihre Haut hatte die Farbe von Mokka mit Sahne. Lieber Gott, war das ein Zeichen? Er war wie erstarrt.

Sie klopfte an sein Fenster. Als ihre Blicke sich trafen, wusste er es.

Er drückte auf den Knopf, und das Fenster fuhr mit einem leisen Flüstern herunter.

„Gott sei Dank, dass Sie angehalten haben. Ich stehe hier schon seit zwanzig Minuten und habe keine Menschenseele getroffen!“ Sie lächelte ihn offen und freundlich an. Er wusste nicht genau, was er sagen sollte. Aber das musste er auch gar nicht, denn sie sprach schnell weiter.

„Können Sie mich mitnehmen? Mein Auto hat kein Benzin mehr, und der Akku meines Handys ist leer. Mein Dad ermahnt mich immer, dass ich nicht vergessen soll, es zu laden, aber das habe ich leider. Hey, cool, ein Prius.“

Das Mädchen ging zur Beifahrerseite. Gavin sah einfach nur zu. Er wusste, dass er die Augen weit aufgerissen hatte und aussehen musste wie ein Idiot. Schnell brachte er seine Gesichtszüge in Ordnung, sodass er einigermaßen freundlich aussah, und öffnete die Beifahrertür von innen.

Das Mädchen glitt auf den Sitz und stellte ihren Rucksack vor sich im Fußraum ab. „Also, was für Musik haben Sie dabei?“

Sie griff nach seinem iPod. Gavin hielt sich zurück. Er mochte es nicht, wenn jemand seine Sachen anfasste, aber das hier war ein Geschenk. Ein Zeichen. Das hier war seine Chance. Er schluckte und schaffte es irgendwie, die Worte herauszubringen.

„Alles Mögliche. Wo musst du denn hin?“

Das Mädchen legte ihren Kopf schief wie ein Cockerspaniel. „Bellevue. Ich war auf dem Weg zum Y. Ich bin da Rettungsschwimmerin und viel zu spät für meine Schicht. Vermutlich werden sie mich rausschmeißen. Hey, kenne ich Sie nicht irgendwoher? Ich hab Sie da schon mal gesehen, oder?“

Oh Gott, was sollte er darauf antworten? Sollte er es zugeben? Was, wenn … Beinahe hätte er vor Freude laut aufgelacht. Er konnte ihr alles erzählen. Er könnte auch lügen. Er könnte ihr eine bunte Mischung an Lügen auftischen, und sie würde es nie erfahren.

Er legte den Gang ein. „Das Y. Ja klar. Ich glaube, ich hab dich auch schon mal gesehen.“ Da war sie schon, die erste Lüge. Er hatte das Mädchen noch nie in seinem Leben gesehen. Und doch war sie hier. Ein Geschenk ohne Schleifchen. Schweiß brach ihm auf der Stirn aus. War das ein Test? Oder handelte es sich um die beste aller Gelegenheiten?

Das Mädchen beschwerte sich über die Playlist auf seinem iPod. Warum hatte er keine coole, hippe Musik? Hatte er nicht wenigstens was von Ashanti oder Run DMC?

„Ich mag klassische Musik“, erwiderte er.

„Das ist lahm.“ Sie schmollte. Beinahe hätte er gelacht, dann fiel ihm auf, dass er seit sehr, sehr langer Zeit nicht mehr gelacht hatte. Das musste Schicksal sein. Dieses Mädchen, sein Geschenk, seine Puppe, hatte ihn zum Lächeln gebracht.

„Wie heißt du?“, fragte er.

„Kendra. Kendra Kelley. Und Sie?“

In dem Moment traf er eine Entscheidung, auch wenn ihm das erst viel später auffallen sollte. „Gavin Adler.“

„Gavin. Cooler Name. Hey, Sie haben gerade den Abzweig verpasst. Sie müssen dort entlangfahren.“

Er ignorierte sie. Weniger als zwei Meilen und er könnte sie bei sich zu Hause haben. Endlich nahm er sich einen Augenblick Zeit, um auf die Stimme in seinem Kopf zu hören. Das wäre nicht klug. Überhaupt nicht klug. Du hast nichts vorbereitet. Du weißt nichts über sie. Sie könnte vermisst gemeldet werden. Tu’s nicht.

Die Wut über die grobe Behandlung von Morte brannte auf seiner Haut. Er hatte es nicht absichtlich getan. Er hatte nicht gewusst, dass Tommaso identisch mit Morte war. Und dass Tommaso so war wie er selber. Er hörte Mortes, Tommasos Stimme in seinem Kopf, die Zeilen liefen wie über einen unsichtbaren Computermonitor.

Denk nicht einmal daran, Gavin. Sie ist ganz köstlich und wäre eine perfekte Puppe, aber du bist nicht vorbereitet. Keine Vorbereitung, keine Puppe. So sind die Regeln. Das weißt du.

Aber was, wenn ich Erfolg habe? Was, wenn sie nicht vermisst wird? Dann hätte ich die Chance meines Lebens verpasst.

Tu es nicht.

Aber ich bin einsam.

Gavin dachte an das Puppenhaus, das ganz allein und still im Dunkeln lag. Wartete. Verlassen. So einsam. Er war so gut darin, seine Berufung auszuüben. Er könnte sie verschwinden lassen. Er könnte eine neue Puppe haben. Sie bettelte ja förmlich darum. Dummes, dummes Mädchen.

„Gavin“, sang Kendra. „Sie fahren in die falsche Richtung.“

Sie lächelte ihn an, ihre Lippen waren voll, die Zähne gerade, die Perlen an den kleinen Zöpfen stießen klickend aneinander. Er dachte, er würde gleich platzen. Sie würde eine so zauberhafte Puppe abgeben! Er konnte schon sehen, wie das Schlüsselbein sich durch die Haut drückte; sie war so zierlich. Es würde sehr schnell gehen.

„Hier entlang geht es schneller“, sagte er. „Ich kenne eine Abkürzung.“ Er beschleunigte und nahm die Kurve auf den Highway 100 recht zügig. Eine halbe Meile noch, eine Viertelmeile. Kendra saß neben ihm und plapperte irgendetwas vor sich hin. Er blendete sie aus. Blendete sein Gewissen aus. Blendete Mortes schriftliche Anweisungen aus, die vor seinen Augen durchliefen, blendete seine Wut aus. Er würde es ihm zeigen. Er brauchte Mortes Instruktionen nicht. Er hatte allein angefangen, und er könnte von jetzt an auch wieder alleine weitermachen. Morte war der einzige Grund, warum er in letzter Zeit so angegeben hatte, warum er sich auf die darstellende Kunst verlegt hatte. Er stellte die Gemälde nach, ging noch einen Schritt weiter als Morte. Ihr Wettbewerb war die treibende Kraft, und Gavin gewann. Er war immer noch der bessere Künstler – er hatte seine Inszenierungen besser durchgeplant, hatte sie tatsächlich aufgeführt. Morte imitierte nur. Gavin war der Dirigent, Morte war die erste Geige.

Der Dirigent. Oh, wie ihm das gefiel.

Schon war er an seiner Einfahrt angekommen. Er bremste ab und bog hinein. Die Auffahrt war mit Kies bestreut, er musste vorsichtig fahren. Eigentlich hatte er sie schon lange asphaltieren wollen, war nur bisher noch nicht dazu gekommen.

„Ich denke wirklich, dass Sie in die falsche Richtung fahren“, sagte Kendra mit leichtem Zittern in der Stimme und schaute ihn aus schokoladenfarbenen Augen misstrauisch an.

Er lenkte den Wagen vor sein Haus und hielt an. Sie schaute erst ihn an, dann das Haus, und erste Anzeichen von Panik zeigten sich in ihrem Gesicht.

„Hat dein Daddy dich nicht davor gewarnt, zu fremden Männern ins Auto zu steigen?“ Jetzt lächelte Gavin nicht mehr. Kendra riss die Augen auf, sodass das Weiße überdeutlich zu sehen war. Sie streckte die Hand nach dem Türgriff aus, doch Gavin war schneller. Der Refrain dröhnte in seinem Kopf – tu es nicht, tu es nicht, tu es nicht –, während er ihr die schwere Druckerpatrone über den Kopf schlug. Das hielt sie lange genug auf, damit er erneut ausholen konnte. Bei diesem Schlag wurde sie ohnmächtig. Sie sackte gegen die Tür; Blut lief über ihr Gesicht.

Gavin atmete schwer. Siehst du!, rief er seiner unsichtbaren Stimme triumphierend zu. Ich bin der Dirigent!

Das hier war einfach herrlich! Er musste sich beeilen. Schnell stieg er aus und eilte um das Auto herum, wobei er ausrutschte und sich ein Knie an der Stoßstange anstieß. Er rappelte sich wieder auf und öffnete die Beifahrertür. Kendra fiel direkt in seine Arme.

Sie war leicht; er trug sie zur Haustür. Nachdem er aufgeschlossen hatte, fiel ihm ein, dass er vielleicht besser durch die Garage hätte gehen sollen. Normalerweise brachte er die Puppen im Schutz der Dunkelheit nach Hause. Jetzt war es erst früher Abend, und die Strahlen der untergehenden Sonne zeichneten seine Silhouette vor der Tür deutlich nach.

Er schaute sich um. Das Mädchen wurde in seinen Armen langsam schwer. Nein, alles war gut. Weit und breit niemand zu sehen.

Er schloss die Tür hinter sich und ging direkt zur Kellertür. Der Kater miaute laut. Ihm gefiel es gar nicht, dass sein Herrchen so hereinstürmte, ohne ihm auch nur das kleinste bisschen Aufmerksamkeit zu gönnen.

Unten im Keller öffnete er den Kasten. Er zog sein Geschenk nackt aus, wischte ihr das Blut vom Gesicht und bugsierte ihren Körper dann in die Kiste. Ihre Arme und Beine hingen schlaff herunter. Seine Erektion drückte sich schmerzhaft gegen seinen Reißverschluss.

„Und rein mit dir“, stieß er außer Atem hervor. Sie passte perfekt. Er schloss den Deckel, ließ die Schnappschlösser einrasten und nahm sich seinen Stuhl. Er setzte sich hin und schaute sie ungläubig an.

Er hatte eine brandneue Puppe.

Und sie war zu ihm gekommen.