25. KAPITEL
Der Parkplatz der Rechtsmedizin war beinahe leer – nur Sams BMW 330ci Cabriolet stand auf seinem üblichen Platz. Die Sonne ging gerade unter, nach dem Sturm hingen am Himmel rosa und rot glühende Wolken. Taylor und McKenzie gingen zur Eingangstür.
McKenzie schnalzte mit der Zunge. „Unsere zweite Autopsie in zwei Tagen. Ich hatte gehofft, dass die Mordkommission es mit weniger Morden und dafür mehr mit Körperverletzung und Mordversuchen zu tun hätte.“
„McKenzie, ich glaube, da besteht noch Hoffnung für dich.“ Taylor zog ihre Keycard durch, und die Tür ging auf. „Es ist nicht immer so. Normalerweise geht es in der Mordkommission ruhig, langweilig und gesetzt zu. Viel Papierkram und den Prozess begleitende Arbeiten. Diese Art von Mordserien sind sehr selten.“
Sie betraten die Eingangshalle, die dunkel und still dalag. Sie wirkte geradezu unheimlich mit den ausgeschalteten Lampen; die Geister fühlender Wesen schwebten durch die Dunkelheit.
„Gab es nicht ein paar dieser Fälle, als du Lieutenant warst? Und ist unter deiner Leitung nicht die Mordrate drastisch gesunken?“
Das war das erste Mal, dass er ihre Degradierung offen ansprach.
„Stimmt, die Fälle gab es. Bevor wir dezentralisiert wurden, hatten wir hier das sogenannte Murder Squad. Unsere Aufklärungsrate betrug dreiundachtzig, vierundachtzig Prozent. Jetzt, mit diesen ganzen Grabenkämpfen und hinterhältigen Angriffen, einem Chief, der keinerlei Verbindung zu seiner Mannschaft hat, läuft alles langsam aus dem Ruder. Ich glaube, die bösen Jungs wissen, dass wir nicht mehr so gut aufgestellt sind wie früher. Sie kommen mit mehr durch, und dass der Chief die Gemeinden aufruft, sich selber zu bewachen, ist ein Witz. Ach ja … Was will man machen, McKenzie?“
„Ich habe das Gerücht gehört, dass du darum kämpfst, wieder als Lieutenant eingesetzt zu werden.“
Sie waren an den Türen zum Autopsiebereich angekommen. Taylor drehte sich um und schaute McKenzie an. Sie wog ihre Antwort sorgfältig ab. Noch vertraute sie McKenzie nicht vollkommen. Trotz aller Enthüllungen des heutigen Tages. Sie war sich nicht sicher, dass er ihr nicht zur Seite gestellt worden war, damit Delores Norris, Elm und der Chief sie im Auge behalten konnten und informiert waren, was sie vorhatte. Er schien ein ganz normaler Typ zu sein, einfach ein weiterer junger Detective der Mordkommission, der begierig war, zu lernen, voranzukommen. Aber sie hatte sich schon mal die Finger verbrannt. Da musste sie nur an die Situation mit David Martin zurückdenken. Und mit dem hatte sie sogar geschlafen.
„McKenzie, ich kann darüber nicht mit dir sprechen. Nimm’s nicht persönlich, aber mein Anwalt und die Gewerkschaft wollen, dass ich meinen Mund halte.“
„Du glaubst, ich bin ein Spitzel für den Chief, oder?“
Ein trauriger, welpenhafter Ausdruck legte sich über sein Gesicht.
Sie fühlte sich schlecht, aber sie konnte das Risiko einfach nicht eingehen. Dieser Junge könnte auch ein verdammt guter Schauspieler sein. Sie machte sich eine mentale Notiz, nachzugucken, wann sie so zynisch geworden war, dann sagte sie: „McKenzie, ehrlich, ich weiß nicht, was ich von dir halten soll. Du kommst mir wie ein guter, engagierter Cop vor. Ich würde gerne denken, dass du und ich eine solide Arbeitsbeziehung aufbauen können. Aber im Moment muss ich dafür sorgen, meinen eigenen Arsch zu retten. Das verstehst du sicherlich.“
Er richtete sich auf. Seine Lippen wurden zu einem noch dünneren Strich, als er sie taxierte. „Ja, das tue ich. Aber eines solltest du wissen: Ich habe von dir in den letzten zwei Tagen mehr gelernt als in den fünf Jahren zuvor in der Einheit. Ich finde dich bewundernswert. Und du weißt, dass ich das nicht auf sexuelle Art meine. Für mich ist es das höchste Kompliment, was ich vergeben kann. Du bist mies behandelt worden, und ich würde gerne alles tun, was ich kann, um dir zu helfen, wieder deinen alten Posten einzunehmen. Denn eins sage ich dir, Jackson, für dich würde ich jederzeit arbeiten.“
Diese kleine Ansprache machte Taylor sprachlos. Sie nahm das Kompliment mit einem dankbaren Nicken an, weil sie ihrer Stimme nicht traute. Gefühle überwältigten sie, doch sie gab ihr Bestes, um sie im Schach zu halten. Sie wollte ihren alten Posten auch wiederhaben, verdammt noch mal. Die schiere Unfairness dessen, wie ihre eigenen Vorgesetzten sie behandeln konnten, könnte sich schnell in pechschwarze, brodelnde Wut verwandeln, wenn sie nicht aufpasste.
Sam hatte unrecht. McKenzie war nicht scharf auf sie. Er respektierte sie. Und das gefiel ihr auch wesentlich besser.
Sie trennten sich und gingen in die jeweiligen Umkleideräume, um sich Schutzkleidung überzuziehen. Im Vorzimmer des Autopsiesaals trafen sie sich wieder.
„Bereit?“, fragte sie.
McKenzie nickte. Taylor stieß die Tür zum Allerheiligsten der Rechtsmedizin auf.
Das Skalpell in der Hand, stand Sam über den Körper des unglaublich dünnen schwarzen Mädchens gebeugt. Die Autopsie war schon in vollem Gange. Sam schaute auf, sah Taylor und McKenzie und sprach leise ohne Vorrede.
„Endlich. Ich bin hier beinahe fertig. Tut mir leid, dass ich nicht warten konnte, aber die Vorbereitungen sind für euch ja sowieso nicht so interessant.“
„Tut mir leid. Wir hatten einen langen Tag. Baldwin und der Inspector von der Met sind auch auf dem Weg hierher.“
„Je mehr, desto besser. Du denkst, du hattest einen langen Tag? Frag mich mal. Muss ich auf die beiden warten?“
„Nein, mach ruhig weiter“, sagte Baldwin. Er und Memphis betraten den Raum, und Taylor überkam ein seltsames Gefühl. Die beiden zusammen zu sehen, so konzentriert auf den Fall – und auf sie. Beide Männer lächelten sie an. Sie ignorierte Memphis, ging zu Baldwin und gab ihm einen Kuss. Er drückte ihren Arm und warf Memphis einen Blick zu. Sie gehört mir, Kumpel. Finger weg. Taylor musste lächeln. Ihr gefiel seine eifersüchtige Seite. Das war irgendwie süß.
Sam klopfte mit dem Skalpell gegen ihre Hand. „Bereit? Okay, Todesursache war Verhungern. Sie war tot, bevor sie in das Wasser gelegt wurde. Keine Anzeichen von Flüssigkeit in ihren Lungen. Sie hat ebenfalls diese komischen Abdrücke auf dem Rücken. Ein großer Unterschied zu dem anderen Opfer: Ihre Lider sind festgeklebt worden, damit sie die Augen nicht schließen konnte. Vermutlich mit einer Art Sekundenkleber. Ich lasse das gerade genauer untersuchen; könnte Super Glue oder Vetbond sein. Alles, was ich bisher unternommen habe, ist genauestens dokumentiert und liegt da drüben auf dem Tisch.“
„Damit sie nicht wegsehen konnte“, sagte Taylor leise.
„Und er sehen konnte, wie sie starb“, ergänzte Memphis.
Taylor ließ das Grauen dieser Vorstellung eine Minute lang sacken, dann verwandelten sich ihre Gefühle in blanke Wut. Mann, sie wollte diesen Mistkerl unbedingt schnappen.
„Wie lange war sie im Wasser?“, wollte Baldwin wissen.
„Nicht sehr lange. Weniger als fünf Stunden. Sie ist nie untergetaucht. Ich denke, sie ist an einem Ast oder so hängen geblieben, der sie an der Oberfläche gehalten hat. Sie hat ein paar Einstichspuren, hauptsächlich an ihrem linken Arm.“
Taylor dachte einen Moment darüber nach. „Ist sie eine gewohnheitsmäßige Konsumentin?“
„Die Einstichstellen sind relativ neu. Sie hat keine Narben zwischen den Zehen, den Fingern oder auf der Innenseite der Oberschenkel – alles Stellen, an denen ich welche erwarten würde, wenn sie schon eine Weile auf Drogen ist. Und der Verlauf des Einstichs ist auch nicht richtig. Das Ganze scheint noch neu für sie zu sein.“
„Hat sie sich selber gespritzt?“, fragte Memphis. Sam bedachte ihn mit einem gehetzten Blick. Vier Ermittler, die ihren Autopsiesaal bevölkerten und sie mit Fragen löcherten, das fing langsam an, ihr auf die Nerven zu gehen.
„Vielleicht. Vermutlich. Aber lassen Sie mich eben meine Zusammenfassung zu Ende bringen, denn ich habe gute Neuigkeiten. Es ist gut möglich, dass wir DNA extrahieren können. Unter ihren Nägeln habe ich Hautfetzen gefunden. Nur winzige Spuren, aber es könnte für ein DNA-Profil reichen. Wenn er im System ist oder ihr eine andere Probe habt, mit der ich sie abgleichen kann, könnten wir den Bastard festnageln.“
„Wir haben massig Proben, mit denen wir vergleichen können. Wo wir gerade davon sprechen …“ Taylor erzählte ihr von den Fällen in Manchester und Chattanooga.
McKenzie hielt die Beweismitteltüten aus Marie Benders Haus hoch. „Wir haben noch mehr DNA für euch. Kümmerst du dich darum oder soll ich Tim anrufen?“
Sam schüttelte den Kopf. „Ruf lieber Tim an. Ich bin heute alleine hier und will zusehen, pünktlich fertig zu werden, weil ich die Zwillinge abholen muss. Ich bin so weit, sie in die Kühlung zu bringen und mich dann auf den Weg zu machen. Tim hat sowieso noch Sachen für euch. Ich denke, er hat versucht, alles zu untersuchen, bevor er sich bei euch meldet.“
McKenzie nickte, und Taylor zwang sich, sich wieder auf die Leiche zu konzentrieren. „Sam, ich brauche außerdem die Berichte einer Autopsie, die du vor drei Jahren durchgeführt hast.“
„Die müssten im Archiv sein. Kris kann sie dir morgen raussuchen. Warum, ist irgendwas falsch gelaufen?“
„Bei dir? Ja, klar. Nein, der Fall ist mit unseren aktuellen Fällen verbunden. Manchester. Tod durch Ertrinken. Junges schwarzes Mädchen, klassische Musik am Tatort. Die Übereinstimmungen sind echt gruselig, und seit heute haben wir ein paar Proben, die wir überprüfen können.“
„Ich habe damals obduziert, sagst du?“
„Das meinte zumindest Sheriff Simmons aus Coffee County. Netter Kerl. Machte den Eindruck, zu wissen, was er tut.“
„So spontan kann ich mich nicht daran erinnern, aber wenn ich den Bericht lese, fällt es mir vermutlich wieder ein. Du weißt, wie viele solcher Untersuchungen ich im Jahr mache.“
„Zu viele.“
„Du sagst es, Schwester. Zurück zu unserem Mädchen aus dem See. Wir haben die Blumen identifiziert, die sie in Händen hielt …“
„Gänseblümchen, Mohn und Stiefmütterchen.“ Memphis stand ein paar Schritte entfernt und musterte das kleine Sträußchen in seiner Ruhestätte aus Edelstahl.
„Stimmt. Sie trug außerdem eine Kette aus Veilchen, genau wie auf dem Gemälde.“
„Welches Gemälde?“, fragte Taylor.
„Von Millais“, erwiderte Memphis. Mit einem breiten Grinsen wandte er sich zu Taylor um.
Sam lächelte hinter ihrer Gesichtsmaske.„Wieder richtig. Es handelt sich um John Everett Millais Ophelia. Einer meiner Techniker hat ein wenig recherchiert.“
„Woher wussten Sie das?“, wollte Taylor von Memphis wissen. „Oh, das Original hängt in der Tate Britain in London. Ich wohne nicht weit davon entfernt in Chelsea.“
„Wie praktisch“, merkte Baldwin an. Taylor hörte den überraschten Unterton in seiner Stimme. Sie fing an, sich zu fragen, worum es bei der Rivalität der beiden eigentlich wirklich ging – um sie oder um ein intellektuelles Duell, wer die Fälle lösen würde? Das war ein interessanter Gedanke. Sie empfing definitiv Schwingungen von Memphis. Und sie musste zugeben, dass er ihr von Stunde zu Stunde sympathischer wurde. Er war ganz anders, als sie nach ihrem peinlichen ersten Treffen heute Morgen gedacht hatte. Er wirkte kompetent und war ohne Zweifel sehr charmant.
Ihr wurde bewusst, dass sie ihn die ganze Zeit angeschaut hatte, und sie wandte abrupt den Blick ab.
Sam fing an, ihre Sachen zusammenzuräumen. „Du hast heute Nachmittag noch nicht mit Tim gesprochen, oder?“
Taylor schüttelte den Kopf. „Nein. Wir waren die ganze Zeit in Manchester und haben alten Schmutz aufgewirbelt.“
„Er hat am Ufer eine Postkarte von dem Gemälde gefunden. Es war ein absolutes Spiegelbild des Tatorts.“
„Eine Postkarte des Gemäldes? Oh, wow.“ Sie schaute Baldwin an.
„Das ist die Signatur von Il Macellaio. Es sieht so aus, als wenn es wirklich derselbe Täter ist. Mein Gott. Ein transatlantischer Serienmörder.“ Er schüttelte den Kopf und entschuldigte sich dann. Taylor sah, dass er sein Handy aufklappte. Sie nahm an, dass er sein Team in Quantico anrief, um es vorzuwarnen.
Taylor wandte sich an McKenzie. „Würde es dir etwas ausmachen, Tim anzurufen und einen Termin mit ihm zu vereinbaren? Vielleicht hat er ja jetzt gleich Zeit für uns? Und mach dir bitte eine Notiz, gleich morgen früh Kris zu bitten, uns die Akte von LaTara Benders Autopsie herauszusuchen.“
„Kein Problem. Ich bin gleich wieder da.“
Sam hatte ihr Skalpell beiseitegelegt und nähte nun den Y-Schnitt in der Brust des Opfers.
„Zeig uns ihren Rücken“, bat Taylor.
Baldwin und Memphis traten näher. Sam machte einen Knoten und schnitt den Faden direkt dahinter ab. Dann rollte sie die Leiche zu sich, um die nackte Haut des toten Mädchens zu entblößen. Da waren sie wieder, gleichmäßig verteilte Kreise, auf ihren Schultern, dem unteren Teil des Rückens, ihrem Gesäß und den Beinen. Nur eine Stelle direkt oberhalb ihres Steißbeins war frei von Abdrücken. Taylor schaute sich alles ganz genau an und dachte darüber nach, wo genau man auflag, wenn man auf dem Rücken lag.
„Bei jemandem, der so dünn ist, entsteht eine Lücke direkt über dem Po, wo der Körper nicht mit dem in Kontakt kommt, worauf auch immer sie gelegen hat. Deshalb gibt es auf der Stelle keine Abdrücke.“
„Sieh dir ihren Arm an“, sagte Sam.
Ein langer, dunkler Streifen zog sich den gesamten rechten Arm entlang. Der linke Arm wies diese Spur nicht auf.
„Genau das Spiegelbild von Allegra. Das ist echt zu bizarr.“ Taylor schaute genauer hin und rief sich Allegras Leichenflecken ins Gedächtnis. „Vielleicht derselbe Aufbewahrungsort?“
Sam zuckte mit den Schultern. „Kann sein.“
„Das ergibt Sinn“, schaltete sich Memphis ein. „Aber von meinen Opfern wies keines diese Spuren auf.“
„Von meinen auch nicht“, stimmte Baldwin zu. „Das ist spezifisch für die amerikanischen Fälle. Taylor, stand in den Berichten zu den zwei vorherigen Morden irgendetwas über ähnliche Abdrücke?“
„Nein. Die tauchten erst bei den beiden neuesten Opfern auf.“
Memphis dachte laut nach. „Also hat er jetzt einen anderen Ort, an dem er sie gefangen hält.“
„Sie sind ziemlich gut in diesen Sachen, was?“ Taylor lächelte ihn bewundernd an.
„Ich habe ein wenig … Erfahrung“, erwiderte er.
McKenzie kehrte zu ihnen zurück. Er deutete auf die Leiche.
„Gute Neuigkeiten. Wir haben sie identifizieren können. Leslie Horne. Zweiundzwanzig. Tim hat ihre Fingerabdrücke im System gefunden. Sie ist wegen Prostitution verhaftet worden. Er sagt, dass wir ihn im CJC treffen sollen, dort nimmt er die Beweise aus Manchester an sich und trägt alles ins System ein.“
Die fünf standen einen Moment schweigend da und gedachten des Mädchens, das nun eine Identität hatte, einen Namen, ein verlorenes Leben.
„Ich denke, sie kannte Allegra Johnson“, sagte McKenzie schließlich.
„Wie kommst du darauf?“, fragte Taylor.
„Weil im System für beide die gleiche Adresse hinterlegt ist.“
Beim Verlassen des Autopsiesaales hielt Sam ihre Freundin Taylor zurück.
„Hey, kannst du noch einen Moment bleiben?“
„Geht ihr schon mal vor“, sagte Taylor zu den anderen. „Ich komme gleich nach.“
Als alle fort waren, fragte Taylor: „Was ist los?“
Sam spielte mit einem Skalpell. Taylor sah etwas Unerwartetes in ihren Augen. Wut.
„Was zum Teufel machst du da eigentlich?“, fragte Sam hitzig.
„Was meinst du damit? Ich bearbeite den Fall. Wir haben heute eine Menge neuer Informationen bekommen und ich …“
„Ich meine mit dem Engländer. Was tust du da?“
Taylor schaute sie fragend an. „Wovon sprichst du, Sam?“
„Du hast mit ihm geflirtet.“
Taylor schüttelte ungläubig den Kopf. „Hab ich nicht.“
Sam warf das Skalpell klirrend auf das Tablett. „Hast du wohl. Vor deinem Verlobten und unserem neuesten Detective, wenn ich das noch ergänzen darf.“
„Oh bitte. Das stimmt nicht, und das weißt du auch.“
Sam kam um den Autopsietisch herum und stellte sich direkt vor ihre Freundin.
„Tu ich das? Ich habe diesen Ausdruck bei dir schon mal gesehen, Taylor. Du bist an ihm interessiert.“
Ihre Brust wurde eng, und sie wählte ihre Worte sorgfältig. „Siehst du, genau damit liegst du falsch. Er ist interessant, aber ich bin nicht interessiert. Erkennst du den Unterschied?“
Sam schüttelte den Kopf. „Du musst vorsichtig sein, Taylor. Ganz offensichtlich ist er an dir interessiert. Er kann seinen Blick kaum von dir abwenden. Und du hast es förmlich genossen.“
„Sam, du weißt doch nicht, was du da redest.“
„Ach, das weiß ich nicht? Du vergisst, mit wem du hier sprichst, Taylor. Ich kenne alle deine Gesichtsausdrücke. Seitdem wir kleine Mädchen waren, habe ich dich bei jeder noch so kleinen Schwärmerei begleitet. Du findest Memphis attraktiv, und er empfindet dir gegenüber genauso.“
„Das ist echt nicht fair. Ich habe den Mann doch heute erst kennengelernt. Ich weiß überhaupt nichts über ihn.“
„Ah, aber das würdest du gerne.“
„Sam!“ In all den Jahren, die sie sich kannten, hatte sie Sam gegenüber ihre Stimme erst ein paarmal erhoben. Sie spürte, dass ihr Temperament gleich mit ihr durchgehen würde, und biss sich auf die Lippe, um sich zurückzuhalten. Ein paar Herzschläge lang starrten sie einander direkt in die Augen, dann zuckte Sam mit den Schultern.
„Du bist ein großes Mädchen, Taylor. Denk einfach nur dran, was das letzte Mal passiert ist, als du jemanden attraktiv fandest, mit dem du zusammengearbeitet hast.“
Sam drehte sich weg, und Taylor starrte den Rücken ihrer besten Freundin an. Einen Augenblick später wirbelte sie herum und stampfte aus dem Raum. Sie konnte nicht fassen, dass Sam sie so beleidigte. Das hier war überhaupt nicht mit der David-Martin-Situation zu vergleichen.
Nachdem sie sich umgezogen hatte, wurde sie im Foyer von McKenzie erwartet.
„Alles in Ordnung?“, fragte er.
„Bestens“, sagte sie kurz angebunden. „Gehen wir.“
Es war beinahe schon halb neun am Abend, als Taylor und McKenzie mit Tim fertig waren. Baldwin und Memphis waren ins Hotel zurückgekehrt, um weiter an dem Profil herumzudoktern. Taylor war froh, dass die beiden weg waren. Sie war den Nachmittag in Gedanken mindestens fünfzig Mal durchgegangen und konnte immer noch nicht erkennen, wo sie etwas falsch gemacht hatte. Auf jeden Fall hatte sie nicht mit Memphis geflirtet, und sie war ziemlich genervt, dass Sam ihr so etwas unterstellt hatte.
Sie schüttelte es ab und konzentrierte sich auf die Informationen, die sie inzwischen gesammelt hatte. Später hätte sie noch ausreichend Zeit, sich eingehend mit allem anderen zu beschäftigen.
Während sie der Autopsie beigewohnt hatten, waren die Akten aus Chattanooga eingetroffen. Sie boten eine willkommene Abwechslung. Taylor las sie sich sorgfältig durch und reichte sie dann an McKenzie weiter. Tim hatte die DNA-Sequenz von Leslie Horns Autopsie sowie alle Proben aus Manchester ins System eingegeben. Wenn es eine Übereinstimmung gäbe, würde der Computer sie finden. Im Moment kopierte er gerade alles, was er hatte, für Pietra Dunmore in Quantico.
Taylor war hin und her gerissen. Sogar ihr missfiel die Vorstellung, nach Einbruch der Dunkelheit in die Napier Homes zurückzukehren – wenn jeder, der draußen herumlief, zum Abschuss freigegeben war. Ohne einen Trupp Polizisten an ihrer Seite hatte sie keine große Lust, das Viertel zu durchkämmen, um die Bewohner nach Leslie Horne zu befragen.
Dann fiel ihr etwas Besseres ein. Sie rief Gerald Sayers zu Hause an und fragte ihn, ob ein paar von seinen Leuten Tyrone Hill aufspüren könnten.
Gerald stieß ein paar gezielte Flüche aus, stimmte dann aber zu, Tyrone ins CJC bringen zu lassen, um sich ein wenig mit ihm zu unterhalten. Er würde gegen neun Uhr da sein. Sehr schön. Taylor wollte heute so viel wie nur irgend möglich erledigen.
Der Gedanke, im Büro der Mordkommission mit Elm zusammenzutreffen, gefiel ihr auch nicht sonderlich, aber das Risiko musste sie eingehen. Sie musste ein paar der neuesten Ergebnisse schriftlich festhalten.
Es schien schon eine Ewigkeit her zu sein, dass sie die Burger aus Manchester gegessen hatten. Also rief sie beim Thai an und bestellte ausreichend Essen als kleine Stärkung für sie und ihre beiden Kollegen, bevor sie sich mit Tyrone unterhalten würden.
McKenzie arbeitete gemeinsam mit Tim immer noch daran, die restlichen Informationen aus Manchester einzugeben. Ihn schien dieser Teil der Arbeit zu faszinieren. Tim hatte auch seinen Spaß daran und erklärte ausführlich seine Techniken und die Methodologie, die hinter der Datensammlung steckte. Beinahe hätte sie vergessen, dass es McKenzies erste echte Morduntersuchung war. Er hatte in den letzten zwei Tagen ganz schön was erlebt.
Dieser Gedanke traf sie wie ein Schlag. Sie waren erst seit achtundvierzig Stunden an dem Fall dran. Ihre Fortschritte waren wirklich atemberaubend. Den Schwung der ersten Stunden auszunutzen war in einer Mordermittlung ungemein wichtig. Sie spüre bereits, wie nah sie dem Durchbruch waren.
Das Essen kam, und sie verschlangen es förmlich. Als sie fertig waren, korrigierte Tim noch ein paar Daten und erklärte dann, dass er fertig war. Sie verabschiedeten sich von ihm und gingen vom Labor über die Straße zum CJC. Auf dem Parkplatz bewegten sich dunkle Schatten, was Taylor an Fitz’ Anruf erinnerte. Besorgnis wallte in ihr auf. Der Fall nahm sie so gefangen, dass sie nicht daran gedacht hatte, ihn anzurufen. Das holte sie nun nach. Seine Nummer war in der Anruferliste ihres Handys gespeichert. Da niemand den Anruf entgegennahm, hinterließ sie eine Nachricht. Sie versuchte, fröhlich zu klingen und erzählte Fitz, dass sie an einem großartigen Fall arbeiteten und er bald zurückkommen solle, um ihr zur Hand zu gehen.
Sie legte auf und steckte das Handy weg. Das Gefühl, das sich in ihr breitgemacht hatte, gefiel ihr gar nicht. Irgendetwas stimmte nicht. Sie glaubte nicht an Zufälle. Ein Mann, der genauso aussah wie der Pretender, tauchte ausgerechnet dort auf, wo Fitz während seines Urlaubs festsaß – das sah viel zu geplant aus. Oh Gott. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Fitz hatte erwähnt, dass ein Teil an seinem Boot kaputt gegangen war. Konnte es Sabotage gewesen sein?
Nur für den Fall versuchte sie es noch einmal. Das Telefon klingelte und klingelte. Niemand nahm ab, und sie wurde auch nicht zum Anrufbeantworter weitergeleitet. Nichts.
Sie schluckte ihre Sorgen herunter. Sie musste darauf vertrauen, dass Fitz sich um sich selbst kümmern konnte. Vielleicht war das alles ein großes Missverständnis. Oder vielleicht schickte der Pretender ihr auch eine Botschaft.
Was sie wieder ins Hier und Jetzt zurückbrachte. Sie hatten immer noch zu viele unbeantwortete Fragen. Warum war Hugh Bangor ausgewählt worden? Warum hatte man sein Haus entweiht? Warum hatte Il Macellaio ihn ausgesucht? Eine Verbindung zu seinem ehemaligen Liebhaber? Sie musste mit Arnold Fay sprechen. Aber es gab noch eine Spur, der sie nachgehen konnte.
Kurz überkamen sie Bedenken, dann schob sie sie beiseite. McKenzie war ein großer Junge. Er konnte gut auf sich selbst aufpassen.
Sie betrat das Gebäude und fand McKenzie im Flur, wo er ihnen am Automaten gerade Getränke zog.
„Sie warten schon auf uns“, sagte er.
„Gut.“ Sie nahm die Cola light dankend an. „Hör zu, ich möchte, dass du etwas für mich erledigst. Verbring ein wenig Zeit mit Bangor. Versuch herauszufinden, warum er zum Zielobjekt wurde. Ich frage mich, wieso jemand das Risiko eingehen sollte, in sein Haus einzubrechen. Guck, ob du irgendwelche Hinweise findest, welche Botschaft Il Macellaio uns schicken wollte.“
„Lustig, genau darüber habe ich gerade nachgedacht. Es muss irgendeine Verbindung zwischen ihnen geben, auch wenn Bangor sich dessen nicht bewusst ist. Ich spreche gerne noch mal mit ihm. Er scheint ein netter Kerl zu sein.“ Er wandte den Blick ab, und Taylor wusste, welche Richtung die Sache nehmen würde. McKenzie hatte Bangors Aufmerksamkeit erregt, und das Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit. Sie entschloss sich, ihn noch einmal zu warnen, und zwar nicht nur, um ihr eigenes Gewissen zu beruhigen.
„Hör zu. Bangor mag dich. Sei dir einfach bewusst, dass er dir eventuell nicht die ganze Wahrheit erzählt.“
„Ich pass auf. Ich bin ziemlich gut darin, Menschen zu lesen.“
„Okay. Das ist dann dein Job für heute Abend. Guck, was du herausfindest. Und jetzt schauen wir mal, was Mr Hill uns zu sagen hat.“
Gerald saß gemeinsam mit einem sehr unglücklich aussehenden Mann im Büro der Mordkommission. Er war groß, mindestens eins neunzig, sehr muskulös und mit gruseligen Tattoos, die sich über seinen Hals und seine Arme zogen. Sein kahl rasierter Schädel wurde von einem schwarzen Doo-rag bedeckt, ein Kopftuch, wie es Rapper gerne tragen. Er trug ein schmuddeliges weißes Muskelshirt, das er sich in seine tief sitzende schwarze Sean-Jean-Jeans gesteckt hatte. Ein Gürtel mit einer Schnalle aus massivem Kristallglas, die ein Dollarzeichen darstellte, hielt die Hose an Ort und Stelle. An seinen weißen Turnschuhen fehlten die Schnürsenkel. Er war nervös und schwitzte. Taylor sah Gerald fragend an.
Er lächelte nur.
„Mein Freund hier war bewaffnet. Er hat bereits einen Aufenthalt in Riverbend hinter sich und ist auf Bewährung. Er sollte es eigentlich besser wissen. Ich habe ihm klargemacht, wenn er dir sagt, was du wissen willst, könnte ich eventuell vergessen, dass er gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen hat. Das gilt allerdings nur für heute. Sollte ich ihn noch mal schnappen, wandert er wieder in den Knast. Stimmt’s nicht, Tyrone?“
Tyrone murmelte etwas, und Gerald riss an seinem Arm.
„Ja, Sir“, sagte der Mann dieses Mal deutlich. Herrgott, Taylor wusste nicht einmal, ob Mann überhaupt das richtige Wort war; er sah eher aus wie ein Teenager. Und er war offensichtlich eingeschüchtert. Sehr gut. Das konnte ihnen nur helfen.
„Gehen wir doch in den Konferenzraum hinüber. Da haben wir mehr Platz.“ Und es würde Tyrone vielleicht ein wenig beruhigen. Sie spürte, dass er so hibbelig war wie eine Katze auf einem heißen Dach. Die Androhung von Gefängnis reichte nicht immer aus, um einen Informanten zum Reden zu bringen.
Nachdem sie sich alle um den großen Tisch gesetzt hatten, lehnte Taylor sich zurück und versuchte, etwas Entspannung in den armen Kerl zu bringen. Sie bemühte ihren gewinnendsten Tonfall.
„Tyrone, ich weiß es zu schätzen, dass du heute hierhergekommen bist. Wir möchten den Mann finden, der Allegra wehgetan hat. Du kannst uns dabei vielleicht helfen. Aber erst habe ich eine andere Frage: Kennst du eine Frau namens Leslie Horne?“
Tyrone war sein Unbehagen deutlich anzusehen. Er fing an zu stottern. Bevor er jedoch einen vollständigen Satz herausbringen konnte, stürmte ein schreiender Elm in den Raum. Durch die unerwartete Unterbrechung zuckten sie alle zusammen.
„Was tun Sie da? Sie können hier keinen Mörder befragen. Er muss Handschellen tragen.“ Er ging schnurstracks auf Tyrone zu.
Taylor stand auf und stellte sich zwischen ihren Lieutenant und ihren Informanten.
„Lieutenant, dieser Mann ist kein Mörder, sondern ein vertraulicher Informant, der mit der Specialized Investigation Unit zusammenarbeitet.“
„Versuchen Sie nicht, mich zu verarschen, junge Frau. Ich erkenne Dominick Allen, wenn ich ihn sehe. Er steht schon seit Ewigkeiten auf der Fahndungsliste der Polizei von New Orleans. Wir müssen ihm Handschellen anlegen! Er darf nicht wieder entkommen.“
Taylor schaute zu Gerald, der den Kopf schüttelte. Das war das zweite Mal, dass Elm etwas von New Orleans faselte. Was zum Teufel war hier los? Elm zitterte ja förmlich vor Aufregung, Tyrone in Ketten zu legen. Er versuchte, sich an ihr vorbeizudrängeln.
„Sir, dieser Mann kommt nicht aus New Orleans. Er ist aus Nashville. Ein vertraulicher Informant namens Tyrone Hill. Er ist nicht Dominick Allen.“
Elm stand einen Moment lang da und starrte sie aus seinen hervorstehenden Augen an. Dann huschte ein Schatten über sein Gesicht. Er beruhigte sich und musterte Tyrone. Immer noch lag Misstrauen in seinem Blick, aber er nickte nur und verließ das Zimmer. Taylor wusste nicht, was sie von dieser Unterbrechung halten sollte. Elm sah von Mal zu Mal mehr aus wie ein totaler Irrer.
Sie wandte sich wieder Tyrone zu, der zu Boden schaute. Sie setzte sich ihm gegenüber.
„Ich entschuldige mich für den Zwischenfall. Tyrone, hör mal zu. Offensichtlich kennst du Leslie Horne. Erzähl mir von ihr. Sag mir, wer ihre Verwandten sind, damit ich mit ihnen sprechen kann.“
„Dieser Mann ist verrückt. Ich war noch nie in New Orleans.“
„Ich weiß, Tyrone. Mach dir über ihn keine Gedanken. Erzähl mir von Leslie.“
„Ich bin ihre Familie. Sie hat sonst niemanden.“
„Was ist mit Allegra? Waren sie Freundinnen?“
Er zögerte, zog mit den Zähnen ein großes Stück getrockneter Haut von seinen aufgesprungenen Lippen. „Ja und nein. Manchmal haben sie sich wie wilde Katzen bekämpft, dann wieder haben sie sich gegenseitig die Haare geflochten und sind im Payless Schuhe kaufen gegangen. Ich hab nie rausgefunden, was sie so aufgeregt hat; ganz normale Eifersucht, nehme ich an.“
„Also war Leslie auch eines deiner Mädchen, richtig?“
„Vielleicht.“ Er sah aufrichtig traurig aus, sodass Taylor etwas sanfter weiterfragte.
„Wann hast du Leslie das letzte Mal gesehen, Tyrone?“
Sie sah, dass er über seine Antwort nachdachte. „Erzähl mir einfach die Wahrheit, okay? Ich möchte herausfinden, wer sie umgebracht hat.“
„Ha. Als wenn Sie sich für irgendeinen Bruder interessieren würden, der ein paar schwarze Mädels umgebracht hat.“
Taylor schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Ehrlich gesagt tue ich genau das. Es ist mir scheißegal, welche Hautfarbe du hast, und dieser Bullshit bringt dich bei mir kein Stückchen weiter. Ein Verbrechen ist ein Verbrechen, und es ist höchste Zeit, dass du mir sagst, was ich wissen will. Nachdem wir das geklärt haben, noch einmal: Wann war das letzte Mal, dass du Leslie gesehen hast?“
Tyrone wirkte beeindruckt. Sie stellte sich vor, dass er überlegte, wie viel er für sie nehmen könnte. Aber er hörte mit dem Gepose auf und beantwortete ihre Frage.
„Vor drei Wochen.“
„Und du hast sie nicht vermisst gemeldet?“
„Sie war mit Allegra zusammen.“
Taylor widerstand dem Drang, sich gegen die Stirn zu schlagen. Natürlich war Leslie mit Allegra zusammen gewesen. Deshalb war das Timing so perfekt. Er nahm sich zwei auf einmal und legte sie mit einem Tag Abstand ab. Wer war als Erste gestorben? Das konnte sie erst sagen, wenn Sam den genauen Todeszeitpunkt festgestellt hatte, aber offensichtlich waren sie beinahe zur gleichen Zeit gestorben.
„Sie hatten einen gemeinsamen Kunden?“
„Ja, irgendein Typ in so einem Pius hielt an und fragte nach einem Date. Er sah nicht verrückt aus oder so, also habe ich sie mit ihm gehen lassen. Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe.“
„Wie sah er aus?“, fragte Taylor.
„Pft, was weiß ich. Fromm. Ein Bruder, aber Mischling. Mittelgroß, helle Haut. Ich hab nicht sonderlich auf ihn geachtet. Aber wenn er ein Mörder ist und das Auto ihm gehört und nicht gestohlen war, dann ist er ein ganz schöner Idiot.“
Taylor lachte. „Tyrone, da stimme ich dir zu. Was meinst du damit, wenn du ihn Mischling nennst?“
„’ne Kreuzung halt. Das ist das Einzige, was mir an ihm aufgefallen ist.“
„Du meinst, er war gemischtrassig?“
„So nennt ihr das wohl. Ist bestimmt politisch korrekter.“
Taylors Gedanken wirbelten durcheinander. Il Marcellaio griff schwarze und weiße Frauen an. Lag das daran, dass er selber schwarz und weiß war?
„Wenn du Pius sagst, was für ein Auto meinst du damit?“
„Ach, Sie wissen schon. Einen dieser dummen Benzinsparer. Pius. Toyota.“
„Ein Prius?“
Tyrone lachte laut. „Ja, so nennt ihr Weißen den wohl.“
Großartig. Sarkasmus war immer enorm hilfreich.
„Okay, es war also ein hellhäutiger schwarzer Mann, der einen Prius fuhr. Was für eine Farbe hatte der Wagen?“
„Weiß. Und ich würde ihn nicht einen schwarzen Mann nennen. Dafür hatte er zu viel weißen Abschaum in sich. Man muss sich ein bisschen Stolz auf seine Wurzeln bewahren, verstehen Sie?“ Er schlug sich mit den Knöcheln seiner geschlossenen Faust dreimal gegen das Herz.
Stolz. Stolz trieb diesen Mann dazu, Zuhälter und Drogendealer zu sein, ein Händler von Sehnsüchten und Missbrauch. Und er sah den Versuch, Benzin zu sparen, als Frömmelei – „Toyota Pius“. Die Ironie entging ihr nicht.
„Kannst du dich an noch etwas erinnern? Einen Aufkleber, oder vielleicht hast du das Kennzeichen aufgeschrieben, um ein Auge auf deine Mädchen haben zu können?“
„Nö. Hatte davor nie Grund, sie im Auge zu behalten. Sie konnten ja nirgendwo hin. Ich gebe ihnen alles, was sie brauchen.“
Außer Sicherheit. Er hatte ihnen alles gegeben, das sie brauchten, um von einem Serienkiller geschnappt zu werden. Hatte sie persönlich in die Hände ihres Mörders gegeben. Sie hatte allerdings nicht das Bedürfnis, ihn darauf hinzuweisen.
„Okay, Tyrone, das war sehr hilfreich. Vielen Dank für deine Kooperation. Gerald, wir sind mit ihm fertig. Danke für all deine Hilfe.“
Sie schüttelte Gerald die Hand und überließ es ihm, sich mit dem unerlaubten Waffenbesitz seines Informanten zu beschäftigen.
Draußen auf dem Flur sagte sie zu McKenzie: „Ich denke, hier sollten sich unsere Wege trennen. Fahr du raus zu Bangor, ich kümmere mich hier um alles. Wir sehen uns dann morgen früh in alter Frische.“
„Bist du sicher, dass du mich nicht brauchst.“
„Ja, ganz sicher.“
„Dann bis morgen. Bleib nicht mehr zu lange. Wir sind auf der richtigen Spur. Wir finden ihn.“
Taylor schaute ihm nach und hoffte, sie tat das Richtige, wenn sie ihn wie ein Lamm zur Schlachtbank schickte. Dann ging sie zu ihrem Schreibtisch. Elm stand an der Tür zu seinem Büro.
„Evelyn?“, fragte er.
Taylor erlebte einen Flashback, eine Vision ihres Großvaters, der ihre Mutter Kitty mit leerem Blick anschaute und beim Namen seiner Frau nannte. Alle Puzzleteile fielen auf einmal an ihren Platz.
Sie ging zu Elm. „Nein, Sir, ich bin Taylor Jackson.“
Er schüttelte den Kopf, wie um seine Gedanken zu klären, dann sagte er: „Natürlich sind Sie das. Es besteht keine Notwendigkeit, dass Sie sich jedes Mal neu vorstellen, wenn wir einander treffen. Vergessen Sie nicht, mir eine Zusammenfassung Ihres Tages dazulassen. Das ist dann alles.“
Er ging in sein Büro und schloss die Tür. Taylor seufzte. Sie ging an ihren Schreibtisch und rief ihren Gewerkschaftsvertreter an. Percy Jennings war ein großartiger Kerl. Sie hinterließ ihm eine Nachricht mit der Bitte, sie auf ihrem Handy anzurufen. Dieser Sache musste sich angenommen werden, und zwar schnell.
Percy rief beinahe sofort zurück.
„Was ist los, meine Göttin? Dein Fall läuft gut, es sollte nicht mehr lange dauern, bis wir dich wieder eingesetzt haben. Ich muss nur irgendwie die Norris loswerden.“
„Cool. Das sind tolle Neuigkeiten. Wir haben aber ein anderes Problem. Bleib mal eine Sekunde dran, während ich mir einen etwas ruhigeren Platz suche, an dem ich offen sprechen kann.“
Sie trat auf den Flur hinaus und ging am Konferenzraum vorbei in die Damentoilette. Beim Öffnen der Tür flammten die durch Bewegungsmelder aktivierten Lichter auf und erhellten die gekachelte Dunkelheit. Keiner da. Gut. Sie schloss vorsichtshalber hinter sich ab.
„Okay, Percy, tut mir leid. Wir haben ein Problem mit Lieutenant Elm.“
„Wem sagst du das? Er ist ein Erbsenzähler. Du hast ja keine Ahnung, was für Beschwerden wir am laufenden Band von ihm bekommen. Vollkommen inkonsistent. Er vergisst ständig die Namen der Leute. Der Typ ist total unberechenbar.“
„Ich glaube, ich weiß warum. Er hat mich gerade Evelyn genannt, bevor er auf einen Schlag wieder in der Realität war. Vor einer halben Stunde ist er ins Besprechungszimmer gestürmt und hat darauf beharrt, dass der Mann, mit dem wir dort gesprochen haben, ein Mörder aus New Orleans ist. Ich habe dieses Verhalten schon einmal erlebt. Mein Großvater hatte Alzheimer; ein ganz schlimmer Fall. Ich denke, Elm leidet auch darunter. Das würde auch erklären, warum er abends so viel schlechter drauf ist. Viele Alzheimerpatienten bauen im Laufe des Tages enorm ab. Morgens kommt man mit Elm viel besser zurecht. Da ist er beinahe freundlich. So war mein Großvater auch. Hellwach am Morgen und im Laufe des Tages immer verwirrter.“
„Mein Gott, das ist ja schrecklich. Lebt er noch?“
„Nein, er ist vor einer Weile gestorben. Elm ist nicht mehr jung, aber er hat noch ein paar gute Jahre vor sich. Sein Geist verabschiedet sich, aber sein Körper wird ihm viel langsamer folgen.“
„Okay. Ich werde mit den Verantwortlichen sprechen und sie darüber informieren.“
„Sieh zu, dass es nicht die große Runde macht. Es ist eine demütigende Krankheit. Elm ahnt vielleicht, dass etwas nicht stimmt, aber ich bezweifle, dass er sich hat untersuchen lassen. In dieser Situation muss man sehr behutsam vorgehen.“
„Das werde ich Taylor, versprochen. Danke, dass du mir Bescheid gesagt hast. Und jetzt los, fang ein paar von den bösen Jungs.“
Sie legten auf. Taylor ging zum Waschbecken und spritzte sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht. Sich an ihren Großvater zu erinnern war immer schwer. Er hatte gelitten, und es hatte nichts gegeben, was irgendjemand hätte tun können. Sie hatte ihn nie sonderlich gut gekannt; Kitty war mit ihren Eltern nicht sehr eng verbunden gewesen. Seltsam, bis jetzt war ihr nie aufgefallen, dass sie das mit ihrer Mutter gemeinsam hatte.
Sie zwang sich, die Gedanken an ihre Familie beiseitezuschieben. Sie konnte es sich nicht leisten, abgelenkt zu sein.
Als sie wieder an ihren Schreibtisch zurückkehrte, stand Elms Tür offen und die Lichter waren aus. Er hatte Feierabend gemacht. Taylor atmete erleichtert auf. Jetzt, wo sie die Wahrheit ahnte, könnte sie ihn nicht mehr anschauen, ohne Mitleid mit ihm zu haben, und ein Mann wie er würde ihre Gefühle spüren, auch wenn er sie vielleicht nicht verstand. Es war besser, dass er fort war.
Auf ihrem Tisch lag ein Zettel, auf dem in Rowenas krakeliger Handschrift geschrieben stand: „Das Fax ist in deiner obersten Schublade.“
Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht, dabei waren es die Informationen, auf die sie den ganzen Tag gewartet hatte.
Schnell zog sie die oberste Schublade auf. Das Fax bestand aus zwei Seiten – ein Deckblatt von Taschen Books Manhattan, dahinter eine Seite mit Impressumsangaben. Redakteur, Grafiker, Produktion, Angaben für die Nationalbibliothek. Okay. Einer dieser drei Namen musste der sein, nach dem sie suchte.
Sie schrieb sie alle in ihr Notizbuch und rief dann Baldwin an.
„Wir haben ein paar Namen“, sagte sie. „Das Puzzle beginnt langsam, Gestalt anzunehmen.“
„Ausgezeichnet. Würdest du dich gerne mit Memphis und mir auf einen Drink treffen, bevor wir abhauen? Wir sind im Ruth’s Chris Steak House unten im Loews Vanderbilt Hotel.“
„Klar, warum nicht. Ich bin gleich da.“
Sie schaltete ihren Computer aus und fuhr dann mit dem Auto zu dem Restaurant im West End. Ein Parkwächter nahm ihr die Autoschlüssel ab. Taylor nutzte die Fensterscheiben am Eingang, um ihre Haare noch einmal zu richten, dann betrat sie das Restaurant.
Baldwin sah sie zuerst und winkte ihr zu. Sie ging zu dem Tisch hinüber, setzte sich und bestellte ein Glas Seghesio Zinfandel, eine Neuentdeckung von ihr und Baldwin.
Memphis trank Scotch, das erkannte sie an dem torfigen, modrigen Geruch. Sie hatte Whiskeys schon immer gehasst. Die schmeckten wie Holzspäne. Baldwin hatte ein frisch gezapftes Sam Adams vor sich stehen.
„Unser Flug geht um zehn. Ich habe entschieden, heute schon nach Quantico zurückzukehren, damit wir uns so schnell wie möglich mit den neuen Informationen beschäftigen können. Ich will, dass alles ins Profil aufgenommen wird, damit ich es dir morgen zukommen lassen kann“, sagte Baldwin. „Da fällt mir ein, ich muss unsere Reservierung noch telefonisch bestätigen. Hast du schon gegessen?“
„Ja. Wir haben uns was vom Thai bestellt.“
„Okay, gut. Übrigens, Memphis hat vorhin die scharfsinnige Beobachtung gemacht, dass wir es mit jemandem zu tun haben, der gemischtrassig ist.“
Sie ertappte sich dabei, Memphis anzulächeln, und riss sich sofort wieder zusammen. „Verdammt, da seid ihr mir zuvorgekommen. Ich habe gerade einen Zuhälter verhört, der sagte, beide Opfer wären zusammen in einen weißen Prius gestiegen, der von einem, wie er es nannte, Oreo gefahren wurde.“
„Das ist aber ein ziemlich abfälliger Ausdruck.“
„Na ja, es war ja auch kein sonderlich netter Kerl, also passt das wieder.“
„Also hat der Zeuge bestätigt, dass unser Mann zwei Mädchen auf einmal mitgenommen hat?“, hakte Baldwin nach.
„Sieht so aus.“
„Noch irgendwelche Neuigkeiten?“, wollte Memphis wissen.
„Nein, das ist alles. Ich wünschte, ich hätte mehr.“
„Aber es ist ein Fortschritt, meine Liebe. Ich bin in einer Sekunde zurück. Seid solange nett zueinander.“
Taylor schaute Baldwin aus zusammengekniffenen Augen an. Warum hatte sie das Gefühl, dass sich heute alle gegen sie verschworen hatten?
Baldwin entfernte sich vom Tisch, und Memphis rutschte auf der Bank ein Stück nach links, sodass er Taylor direkt gegenübersaß.
„Kommen Sie oft hierher?“, fragte er.
„Highsmythe …“
„Oh, bitte nennen Sie mich Memphis. Ich mach nur Witze. Ich mag es, zu sticheln.“
„Das ist mir schon aufgefallen.“ Sie entspannte sich ein wenig. Sie wusste, dass Sam unrecht hatte. Sie hatte nicht geflirtet. Denn wenn sie es getan hätte, wäre es für alle Anwesenden nicht zu übersehen gewesen. Als sie ihn jetzt anlächelte, machte sie sich keine Sorgen darüber, was er wohl denken könnte.
„Fein. Memphis. Ich hoffe, Nashville hat Ihnen gefallen? Es tut mir leid, dass es so ein verrückter Tag war, aber mit etwas Glück wird uns der heutige Mord unserem Killer einen Schritt näher bringen.“
„Was für eine zauberhafte kleine Ansprache. Vielleicht sollten wir Sie in einer von Shakespeares Kreationen unterbringen. Mal sehen … wir brauchen eine starke Frau, die sich nicht gerne herumschubsen oder etwas sagen lässt. Viola vielleicht. Nein, ich hab’s. Portia. Kein Zweifel.“
Sie verdrehte die Augen und nippte an ihrem Wein. Er war perfekt – würzig und kräftig.
Memphis beugte sich vor. „Sagen Sie mir, warum Sie Polizistin geworden sind? Haben Sie ihren kleinen Bruder verloren? Ein wenig Missbrauch in der Familiengeschichte?“ Er schickte ein verruchtes, träges Lächeln in ihre Richtung, und sie musste sich auf die Lippe beißen, um es nicht zu erwidern. „Sie können es mir ruhig sagen, ich kann ein Geheimnis für mich behalten.“ Er leckte sich langsam und anzüglich über die Lippen. Meine Güte, wenn Baldwin das mitbekäme, würde er durchdrehen, dachte sie.
„Highsmythe, Sie müssen damit aufhören.“
„Womit?“ Er tat ganz unschuldig. Baldwin kehrte an den Tisch zurück, und Taylor hätte schwören können, eine Hand auf ihrem Knie zu spüren, bevor Memphis auf seinen Platz zurückrutschte und die Arme vor der Brust verschränkte.
„Alles läuft nach Plan“, sagte Baldwin. „Was ist hier in der Zwischenzeit passiert? Habt ihr euch die Namen angeschaut?“
„Nein. Memphis würde gerne wissen, wieso ich zur Polizei gegangen bin.“
„Oh. Das ist leicht. Wegen ihres Dads.“
„Baldwin.“
Er schaute sie überrascht an. „Was? Stimmt das nicht?“ Er beugte sich konspirativ zu Memphis hinüber. „Taylors Dad ist nicht der aufrichtigste Mensch, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
„Baldwin!“
„Haben Sie daher die Narbe?“, fragte Memphis.
Taylors Hand glitt zur ihrem Hals. „Mein Gott, nein. Mein Vater ist vielleicht ein Gauner, aber er hat nie Hand an mich gelegt. Das hier verdanke ich einem Verdächtigen. Baldwin hat mir das Leben gerettet. Es war unser erster gemeinsamer Fall.“
Memphis lehnte sich auf der Bank zurück. „Wenn das mal nicht romantisch ist. Aber dann sollten Sie sich nicht so aufregen. Mein Vater hat immer gesagt, ‚Der durchschnittliche Mensch regt sich auf, wenn man seinen Vater unehrlich nennt, brüstet sich aber damit, dass sein Großvater ein Pirat war.‘ Mit der Zeit werden Sie liebevolle Erinnerungen an Ihren Vater haben, da bin ich mir sicher.“
Taylor warf ihm einen Blick zu. „Ist das so ein typisch britisches Sprichwort, so wie der geheime Händedruck der Upperclass?“
„Es gibt einen geheimen Händedruck? Das wusste ich gar nicht. Liegt vermutlich daran, dass ich mich in der Met herumtreibe, anstatt über das Familienanwesen zu schlendern.“ Er grinste sie an, und seine blauen Augen funkelten vor Vergnügen. Er genoss es, sie zu ärgern, das war sehr offensichtlich. Sam lag so falsch, so unglaublich und total falsch. Sie flirtete nicht mit Memphis, aber er flirtete ohne jegliche Zurückhaltung mit ihr. Doch seitdem Baldwin ihren Vater zur Sprache gebracht hatte, war für sie jeglicher Spaß daran verloren. Die Erwähnung ihrer persönlichen Achillesferse hatte sie wieder in die Wirklichkeit zurückgeholt.
Memphis spielte mit seiner Gabel. „Ich weiß nicht, wer das gesagt hat, ich erinnere mich nur an das Zitat. Sicher war es nicht mein Vater; vielleicht war es etwas, was er irgendwo mal gelesen hatte. Aber es passt, finden Sie nicht?“
„Was, wollen Sie mir jetzt Ratschläge geben?“
„Der Vater von Memphis ist ein Earl, Taylor. Du erhältst Ratschläge zur Familiendynamik von Viscount Dulsie höchstpersönlich. Ich an deiner Stelle würde da gut zuhören.“ Baldwin zwinkerte ihr zu. Sie schnaubte.
„Ich verstehe. Irgendwann in ferner Zukunft wird einer meiner noch unsichtbaren Nachfahren zurückschauen und denken, was Win getan hat, war irgendwie romantisch? Zu stehlen und zu lügen und zu betrügen und sich mit einem Serienmörder abzugeben ist etwas Gutes? Ich glaube kaum, dass es so kommen wird. Sie kennen meinen Vater nicht, Memphis. Er ist kein guter Mann.“
„Irgendetwas Gutes muss er an sich haben. Er hat ein Kind gemacht, das Gut und Böse unterscheiden kann.“
Taylor senkte den Blick auf ihr Weinglas. Das war etwas, was sie sich immer gefragt hatte: Waren ihr Moralempfinden, ihre Fähigkeit, die Gefühle gegenüber der Familie und das Bedauern darüber, wie anders alles hätte sein können, abzustellen eine direkte Folge von Wins Taten? Wie konnte ein Mann, der überhaupt keinen Respekt vor dem Gesetz hatte, ein Kind erschaffen, das nach dem Gesetz lebte?
Sie leerte ihr Glas. „Oh, seht nur, wie spät es ist. Ihr werdet noch den Flug verpassen, wenn wir jetzt nicht aufbrechen. Detective Highsmythe, haben Sie alles dabei, was Sie brauchen?“
„Sind wir also wieder bei der förmlichen Anrede angekommen, ja? Wie Sie wünschen, Miss Jackson. Und nein, ich muss noch beim Concierge vorbei und meine Tasche abholen.“
Er stand auf und verbeugte sich spöttisch vor ihr. Ohne auf Wiedersehen zu sagen, ging er mit großen Schritten aus dem Restaurant in die dämmrige Lobby des Hotels.
Baldwin zog ein paar Scheine aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Er und Taylor verließen das Restaurant. Auf der Straße griff Baldwin nach ihrer Hand, doch Taylor entzog sie ihm.
„Was ist los?“, wollte Baldwin wissen.
Sie drehte sich zu ihm um und schaute ihm in die Augen. Im dämmrigen Licht der Straßenlaternen sahen sie aus wie glimmende Kohlen, doch sie war zu verärgert, um sich davon ablenken zu lassen. Sie sprach leise, damit niemand sie hören konnte.
„Seid ihr beide jetzt beste Freunde oder was? Warum hast du ihm von meinem Dad erzählt? Du weißt, was ich darüber denke. Es ist … persönlich. Privat. Meine Privatangelegenheit.“
Schließlich erkannte Baldwin, wie aufgebracht sie war. Er entschuldigte sich aufrichtig. „Ich hätte nicht gedacht, dass es dir etwas ausmacht. Du hast bisher nie ein Problem damit gehabt.“
„Das hier ist etwas anderes. Er ist ein Fremder. Es gibt keinen Grund, ihm die schmutzigen Einzelheiten meines Lebens zu erzählen.“ Ihre Familie war ihr ohne Frage peinlich, aber ganz Nashville war mit den saftigsten Geschichten vertraut. Sie wusste, dass sie überreagierte, hätte aber nicht sagen können, warum.
„Taylor, reg dich nicht auf. Ich habe doch gesagt, dass es mir leidtut. Niemand macht dich für die Taten deines Vaters verantwortlich. Außerdem ist Memphis einer von den Guten.“ Er trat an den kleinen Schalter, hinter dem der Parkwächter stand, und reichte dem Mann sein Ticket.
Taylor löste ihre Haare und band sie erneut zum Pferdeschwanz zusammen. Das glaubst du. Memphis fing an, ihr an die Nieren zu gehen. Sie hatte keine Ahnung, wieso es ihr so wichtig war, sich ihm gegenüber im bestmöglichen Licht zu präsentieren. Vielleicht hatte Sam recht, vielleicht wollte sie ihm gegenüber angeben. Wenn man das mit dem sehnsüchtigen Blick kombinierte, der ganz tief hinten in seinen Augen steckte … Sie seufzte. Gerade jetzt, wo alles so gut lief, musste sie sich mit den Avancen dieses feschen Mannes herumschlagen.
Und fesch war genau das richtige Wort für ihn. Glatte blonde Haare, die ihm in die kornblumenblauen Augen fielen. Starker Kiefer, gerade Nase, gute Zähne. Dieser lächerliche Akzent, bei dem jedes Wort sorgfältig betont von seiner Zunge schnellte. Gut, dass sie nicht auf hellhaarige Männer stand – einen winzigen Augenblick hatte sie sich verrückterweise von seinem guten Aussehen in den Bann ziehen lassen. Baldwin hatte das Schwarze der Iren in sich, das seidige Haar von der Farbe der Nacht und die klaren grünen Augen. Katzenaugen. Baldwin sah von den beiden besser aus, er war auch größer und stärker. Memphis ähnelte mehr einem wohlbehüteten Greyhound.
Was in drei Teufels Namen tust du, Taylor?
Baldwin kehrte zu ihr zurück. Er schaute sie seltsam an, als könne er ihre Gedanken lesen. Was er manchmal tatsächlich konnte. Sie betete, dass er keinen allzu tiefen Einblick in ihren letzten Gedankengang gehabt hatte.
„Wo ist Memphis?“, fragte er.
„Woher soll ich das wissen? Ich bin nicht sein Babysitter.“
„Hey, ist mit dir alles in Ordnung?“
Er schaute sie misstrauisch an, und sie fühlte sich, als wäre sie bei etwas Verbotenem erwischt worden. Das war verrückt. Sie atmete tief ein und stieß die Luft zischend aus.
„Ehrlich, mir geht es gut. Ich bin einfach nur nicht sonderlich erpicht drauf, mein Privatleben mit ihm zu diskutieren. Er ist … es ist nichts. Ich denke nur einfach nicht gerne an Win, das ist alles.“
„Okay. Ich verspreche, ihn nicht noch einmal in der Öffentlichkeit ins Gespräch zu bringen.“ Er beugte sich vor und gab ihr einen sanften Kuss. Sie erwiderte ihn und drückte Baldwin um Verzeihung bittend die Hand.
In diesem Moment kam ein aufgeregt wirkender Memphis aus dem Hotel.
Baldwin schaute auf seine Uhr und tippte mit dem Finger auf das Zifferblatt. „Zeit zu fahren.“
Memphis hob eine Hand. „Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Mein DC hatte Neuigkeiten für mich. Sie glaubt, dass sie eine Zeugin gefunden hat, die Il Macellaio beim Ablegen einer der Leichen beobachten konnte.“
„Das sind ja fabelhafte Neuigkeiten.“ Baldwin nickte anerkennend. „Ich habe den Parkwächter gebeten, uns ein Taxi zu rufen. Wir können im Flugzeug weiter darüber sprechen.“
„Wo ist dein Auto?“, fragte Taylor.
„Zu Hause. Wir hatten heute Abend einen Fahrer.“
„Ja, das war ganz schön nobel“, ergänzte Memphis.
Der Parkwächter fuhr mit Taylors 4Runner vor. „Oh. Na gut. Soll ich euch fahren? Ich muss sowieso noch mal kurz zurück ins Büro.“
„Das macht dir nichts aus?“, fragte Baldwin.
„Natürlich nicht. Springt rein.“
Downtown war nicht viel los. Ein paar Autos fuhren Richtung West End, eine Gruppe Studenten von der Vanderbilt stand am Bürgersteig, bereit, die Straße zu überqueren und ins Wohnheim zurückzukehren. Taylor dachte darüber nach, was sie nicht alles dafür geben würde, noch einmal deren Unschuld und Naivität zu besitzen. Sie wussten nicht, in was für einer gemeinen Welt sie lebten, wenn sie nicht selber schon einmal mit Gewalt in Berührung gekommen waren.
Während der Fahrt zum John-C.-Tune-Flughafen sprachen sie
über die hoffentlich positiven Auswirkungen einer möglichen Zeugin. Taylor versuchte dabei, die grausamen Erinnerungen zu unterdrücken, die sie mit dem Flughafen verband. Von hier aus war sie bewusstlos aus der Stadt geschaffen worden, von einem Mörder, der ihre gesamte Familie manipuliert hatte. Sie zwang sich, tief zu atmen, um die Spannung in ihrem Kiefer und in ihren Schultern zu lösen. Plötzlich spürte sie eine Hand in ihrem Nacken, kräftige Finger, die sich tief in die angespannten Muskeln gruben. Sie schaute zu Baldwin und wollte ihm ein dankbares Lächeln schenken, da sah sie, dass er etwas in sein BlackBerry eingab – mit beiden Händen.
Sie zuckte zusammen, trat ein wenig auf die Bremse und die Hand verschwand.
„Was ist los?“, fragte Baldwin.
„Nichts“, sagte sie. Im Spiegel fing sie Memphis’ Blick auf. Der Engländer lächelte. „Gar nichts.“