11. KAPITEL
Zurück im Caprice hörte Taylor ihre Mailbox ab. Die Abteilungssekretärin hatte ihr eine Nachricht hinterlassen – Hugh Bangor, der Besitzer des Hauses am Love Circle, war mit dem Nachtflug von Los Angeles auf dem Rückweg nach Nashville. Er würde am Flughafen abgeholt werden und innerhalb der nächsten Stunde am CJC eintreffen. Die Nachricht war vor einer Dreiviertelstunde hinterlassen worden, was bedeutete, dass Bangor bereits da war oder zumindest bald eintreffen würde.
Verdammt. Sie hatte Hunger. Es war schon nach Mittag. Sie wählte McKenzies Kurzwahl und bat ihn, ein paar Sandwiches zu kaufen und sie ins Büro der Mordkommission zu bringen.
Flexibilität. Eine der wichtigsten Eigenschaften eines Polizisten. Man musste gewillt sein, zuzuschlagen, solange das Eisen noch heiß war. Entbehrung war der zweite Vorname eines jeden Cops.
Sie schaffte es in genau zehn Minuten nach Downtown. Der PS-starke Motor hatte sich pflichtgemäß die Straßen hinuntergestürzt; nach der Fahrt fühlte sie sich ein wenig ausgelassen. Trotz der Tatsache, dass Elm vielleicht im Büro war, fühlte sie sich gut. Es war immer hilfreich, Informationen zu haben, zu wissen, womit man es zu tun hatte. Sie malten sich einen Psycho aus, jemanden, der Frauen vermutlich verhungern ließ, jemanden, der vielleicht schon mehrere Morde begangen hatte, aber wenigstens hatten sie einen Anhaltspunkt.
Allegra Johnsons Autopsie faszinierte sie. Worauf hatte das Mädchen gelegen, dass ihr Rücken und ihre Beine aussahen wie eine Tüpfelhyäne? Taylor ging im Kopf einige Möglichkeiten durch, verwarf sie aber gleich wieder. Wer konnte das schon wissen? Sie mussten den tatsächlichen Tatort finden, dann hätten sie eine Chance, diesen Teil des Puzzles zu lösen.
Sie ging zum Büro der Mordkommission und blieb an ihrem Schreibtisch stehen. Ein Post-it klebte auf ihrem Telefon: Bangor, Verhör 1. Sie nahm den Zettel und knüllte ihn zusammen. Ihr Telefon klingelte, aber sie ignoriert es. Ihre Gedanken waren schon bei der Befragung von Hugh Bangor.
Sie blieb am Whiteboard stehen, löschte ihren Status und verschob den Magneten auf „Im Konferenzraum“. Auf diese Weise ständig Rechenschaft ablegen zu müssen, würde sie noch in den Wahnsinn treiben.
Der Weg zum Befragungsraum war kurz. Sie hielt schnell noch am Getränkeautomaten und zog sich zwei Cola light. Ihr Handy klingelte. Sie hatte Schwierigkeiten, die Dosen zu halten und gleichzeitig ihr Telefon herauszuholen. Die Nummer auf dem Display sagte ihr nichts, aber sie ging trotzdem dran.
Ein statisches Rauschen, dann ein lautes Scheppern. Der Schrei eines Vogels zerriss die Luft. Sie hatte gerade noch genug Zeit, Möwe zu denken, bevor der Anrufer auflegte.
Verdammt. Sie lehnte sich gegen die Wand und starrte das winzige Display ihres Handys an. Schauer überliefen ihren Körper. Was, der Pretender hatte auch ihre Handynummer? Sie biss sich auf die Lippe. Wann würde das jemals enden?
Das Telefon klingelte erneut, und sie zuckte zusammen. Als sie ranging, sagte sie nichts, sondern hörte nur zu. Die gleichen Geräusche, lautes Scheppern, gefolgt von einer tiefen Stimme, die fluchte. Eine Stimme, die sie erkannte. Gott sei Dank, es war nicht der Pretender.
„Fitz, bist du das?“
Pete Fitzgerald, ihr ehemaliger Stellvertreter, rief etwas, doch die Hintergrundgeräusche verschluckten seinen tiefen Bariton. Er war mit seiner Freundin auf einem Segeltörn durch die Karibik, um zu entscheiden, ob er die erzwungene Pensionierung, die Delores Norris angeordnet hatte, annehmen oder sich der Klage anschließen sollte, um seinen alten Job zurückzubekommen. Segeln, um Gottes willen. Was die Liebe alles mit einem anrichtete. Sie nahm einen vollkommen normalen Cop und steckte ihn mit einem Rumdrink in der Hand und einer Bikini tragenden Begleiterin auf eine Zweiundvierzig-Fuß-Jacht. Taylor konnte sich die Szene nicht mal ansatzweise vorstellen. Und wenn sie ehrlich war, wollte sie das auch gar nicht.
„Taylor?“
„Ich bin hier. Ist alles in Ordnung?“ Sie schrie auch, als wenn das helfen würde, dass er sie hörte.
„Ja, denke schon. Hab nur gerade was Komisches gesehen und gedacht, dass ich dir davon erzählen sollte. Wie geht’s dem Fed?“
„Baldwin geht es gut. Er arbeitet im Moment hier in der Stadt. Was hast du gesehen?“
Weiteres Kreischen, eine Reihe schriller Schreie von den Möwen. Fitz’ Stimme brach, die Verbindung wurde schlechter. Taylor hielt sich das linke Ohr zu und ließ die Coladosen mit lautem Getöse fallen.
„Was war das? Ich konnte dich nicht hören. Wo zum Teufel bist zu überhaupt?“
„…ados.“
„Barbados? Nett. Es ist schön, von dir zu hören.“
Endlich wurde die Leitung klar, und Fitz’ Stimme dröhnte wie ein Nebelhorn.
„Ja. Es ist echt schön hier. Hör mal, ich wollte dir nur kurz Bescheid geben. Da war ein Typ, der uns gefolgt ist. Irgendwie unheimlich. Groß, braun gebrannt, superkurzer Militärhaarschnitt. Klingt das bekannt?“
„Hör auf, so zu schreien. Ja, das tut es. So sieht der Pretender aus.“
„Ich weiß. Ich habe das Bild gesehen, das du und Owen erstellt habt.“ Fitz würde Sam Loughley für immer bei ihrem Mädchennamen nennen. Er war kein großer Freund von Veränderungen. „Dieser Kerl war sein absolutes Ebenbild.“
Taylor ging zurück in ihr Büro und ließ die Coladosen auf dem Flur zurück. Eine leichte Panik machte sich in ihren Eingeweiden bemerkbar. „Erzähl mir alles. Ich kann, nun, ich weiß nicht, was ich tun kann, aber … erzähl mir einfach, was du gesehen hast.“
„Das war’s schon, kleines Mädchen. Mehr hab ich nicht. Susie und ich haben in einem Hafen geankert und auf ein Ersatzteil gewartet. Der letzte Halt war St. Lucia, letzte Woche. Hab ihn da nicht gesehen, also war es vielleicht nur ein Zufall.“
Zufall. Als ob sie das glauben würde.
„Er ist euch durch den Hafen gefolgt?“
„Nein. Er ist Susie gefolgt. Sie hat nach Meeresschnecken fürs Abendessen gesucht und kam gerade aus einem Laden. Ich habe sie vom Boot aus mit dem Fernglas beobachtet. Er ist direkt auf sie zugegangen, hat sie angerempelt, sich entschuldigt und ihr geholfen, ihre Einkäufe aufzuheben. Dann hat er direkt zu mir geschaut, und ich schwöre, der Hurensohn hat gelächelt. Ich hätte ihn sofort an Ort und Stelle erschossen, aber er war zu weit weg. Dann schlenderte er um eine Ecke und war verschwunden. Ich habe Susie zurück aufs Boot geholt, aber wir haben eine kaputte Wasserpumpe und warten auf ein neues Antriebsrad, was bedeutet, dass wir hier so lange festsitzen, bis das Ding durch den Zoll ist. Es muss von Fort Lauderdale hierhergeschickt werden.“
„Häh? Fitz, du weißt, dass ich mich mit Booten nicht auskenne.“
„Wir haben keinen Saft, weil wir den Motor nicht kühlen können. Wir können nicht weitersegeln, bis das repariert ist. Wir haben kein GPS, kein Echolot, nichts. Wir ankern mitten im Hafen und sind somit in Sicherheit, aber ich halte nach ihm Ausschau. Man kann uns nur erreichen, indem man mit einem Boot herüberkommt. Ich habe der örtlichen Polizei Bescheid gesagt, aber sie können nichts unternehmen. Wir sind sicher, keine Sorge. Er ist vermutlich schon lange weg. Aber ich wollte es dich trotzdem wissen lassen.“
Sicher. Als wenn das Wort jemals in einem Satz mit dem Pretender gelten könnte.
„Du musst mich auf dem Laufenden halten, mich wissen lassen, was passiert. Jetzt mache ich mir Sorgen, alter Mann. Wann wollt ihr zurück sein?“
„Nächste Woche. Ich sage dir Bescheid, wenn ich noch etwas bemerke. Ich muss jetzt los. Die Verbindung mit diesem Handy ist unter aller Sau. Und sie kostet mich vier Dollar die Minute. Sei brav. Mach dir keine Sorgen. Ich kann auf mich aufpassen.“ Es gab ein lautes Klicken, dann füllte sich ihr Ohr mit statischem Rauschen. Sie klappte ihr Handy zu.
Freund, Mentor, Vaterfigur. All das und mehr war Fitz für Taylor. Ein Angriff auf ihn wäre für Taylor genauso schmerzhaft wie ein Angriff auf Baldwin. Der Pretender wusste das. Er verfolgte sie über ihre Freunde.
Wut kochte in ihr auf und verdunkelte ihre Gedanken. Noch ein Teil ihres Lebens mehr, den sie nicht mehr unter Kontrolle hatte.
Wie hatte er herausgefunden, wohin Fitz wollte? Er behielt anscheinend nicht nur Taylors Bewegungen im Auge. Und wie hatte er von einem Mord in Nashville erfahren, während er selber auf Barbados weilte?
Ein Reiseplan. Sie ging zu ihrem Schreibtisch und nahm ihr Adressbuch heraus. Bob Parks war einer ihrer liebsten Streifenpolizisten und ein guter Freund von Fitz. Sie rief ihn auf dem Handy an, und als er antwortete, konnte sie sein typisches Lächeln nahezu hören.
„Babe! Wie geht es dir?“
„Ich wünschte, ich wäre noch ein Babe, Parks. Du musst mir einen Gefallen tun.“
Sie erklärte ihm, was sie von ihm wollte, dankte ihm und legte auf. Während sie Bangor befragte, konnte Parks bei Fitz’ Haus vorbeifahren und gucken, ob irgendjemand eingedrungen war.
Sie starrte eine Minute lang aus dem Fenster, dann tätigte sie zwei weitere Anrufe. Sowohl bei Lincoln Ross als auch bei Marcus Wade erreichte sie nur die Mailbox und hinterließ ihnen die Bitte, dass sie sich nach der Arbeit mit ihnen treffen wollte. Falls der Pretender anfing, Spielchen zu spielen, mussten sie äußerst wachsam sein. Sie rief auch Baldwin an und hinterließ ihm eine Nachricht. Mein Gott, wo waren denn nur alle? Für einen kurzen, grausamen Moment stellte sie sich vor, dass alle fort waren, verschwunden, dann schüttelte sie den Gedanken ab. Das war dumm. Sie musste sich keine Sorgen machen.
McKenzie tauchte in der Tür zur Mordkommission auf.
„Äh, Jackson? Kommst du? Ich habe was zu essen im Konferenzraum, und Bangor wird langsam unruhig. Ich habe mit dem Kaplan gesprochen, er trifft sich um fünfzehn Uhr mit uns. Ich versuche immer noch, die Adresse des Opfers herauszufinden.“
Sie schaute McKenzie an und überlegte, in welchem Umfang sie ihn warnen sollte. Später, entschied sie.
Essen. Verdächtiger. Essen. Verdächtiger. Sie seufzte.
„Ich komme“, sagte sie und ließ ihre Sorgen auf dem Schreibtisch zurück.
Hugh Bangor entsprach in keiner Weise dem, was Taylor erwartet hatte. Und sie hatte McKenzie einen Vortrag gehalten, keine Annahmen zu treffen.
Seine Gegenwart erfüllte den Befragungsraum mit Energie. Er war Anfang bis Mitte vierzig, klein, gepflegt und vorzeitig ergraut. Er sprang auf und begrüßte sie mit einem warmen Händeschütteln. Sie fühlte sich sofort wohl bei ihm, ein gefährliches Zeichen. Wohlbehagen konnte sie in ernste Schwierigkeiten bringen. Aber sein Lächeln war freundlich, sein Gesichtsausdruck umgänglich, und sie hatte ihr ganzes Leben damit verbracht, Menschen zu lesen. Nichts ließ ihre Alarmglocken schrillen, also erwiderte sie den Händedruck höflich und bedeutete dem Mann, sich wieder zu setzen.
Sie ratterte Datum und Uhrzeit herunter, gab an, dass sie und Detective Renn McKenzie im Raum waren und worum es ging, damit alles ordentlich dokumentiert wurde. Sie fühlte sich ein wenig wie Sam bei ihren Autopsien.
„Mr Bangor, ich bin Detective Taylor Jackson“, fing sie an.
Bangor unterbrach sie. „Ich weiß. Ich habe mein ganzes Leben in Nashville verbracht. Wir sind uns bisher noch nicht begegnet, aber ich bin ein großer Fan.“
Sie reagierte gereizt, wurde defensiv, suchte nach der versteckten Anspielung hinter seinen Worten. Versuchte er, sie auf den Arm zu nehmen? Hatte er die Videos gesehen? Sie in flagranti in den Nachrichten mitbekommen?
Bangor setzte sich ein wenig aufrechter hin. „Das hier wird aufgenommen, richtig? Dann lassen Sie mich fürs Protokoll sagen, dass ich es höchst bedauerlich finde, wie Sie behandelt wurden, und dass der Polizeichef für sein unglaubliches Missmanagement der Polizeitruppen angeklagt gehört. Sie haben es nicht verdient, wieder Detective zu sein. Ich finde ihre Degradierung kleinlich und lächerlich.“
Oh, sie mochte diesen Mann. Sehr sogar.
Aber sie hielt ihr Lächeln zurück. „Danke. Das ist sehr nett von Ihnen.“
Bangor lehnte sich mit einem zufriedenen Lächeln auf seinem Stuhl zurück. „Nur damit Sie wissen, wo ich stehe, Ma’am.“
„Können Sie mir ein wenig über sich erzählen, Mr Bangor?“
„Ich bin Drehbuchautor. Wobei, in letzter Zeit bin ich mehr zu einem Scriptdoctor geworden.“
„Was ist ein Scriptdoctor?“, wollte McKenzie wissen.
„Genau das, wonach es klingt, Detective. Ich nehme Drehbücher, die Potenzial haben, aber noch nicht gut genug sind, um verfilmt zu werden, und mache etwas Vernünftiges aus ihnen. Ich will nicht angeben, aber so ist es nun mal.“
„Was hat sie nach Kalifornien getrieben? Ein Drehbuch?“
„Ja. Ich arbeite an einem Stück für einen Freund und musste es mit den Autoren durchgehen. Ich bin letzten Montag weggeflogen und wollte eigentlich erst am Freitag zurückkommen. Was genau ist denn eigentlich in meinem Haus passiert, wenn ich das fragen darf?“
„Was haben Sie gehört?“, fragte Taylor zurück.
Er hob eine Augenbraue. „Miss Carol, meine Nachbarin, hat mir erzählt, dass in meinem Haus eine junge Frau ermordet worden ist. Das macht mich krank. Ich weiß nicht, wer es getan hat, und ich versichere Ihnen, dass ich mir nicht vorstellen kann, wieso jemand in mein Haus einbrechen und ein totes Mädchen dort zurücklassen sollte.“
„Wo waren Sie gestern Abend? Ich möchte nicht unhöflich sein, Mr Bangor, aber kann irgendjemand bestätigen, wo Sie sich aufgehalten haben?“
Er zeigte auf eine schwarze Aktentasche, die zu seinen Füßen stand. „Darf ich?“
„Sicher.“
Bangor wühlte einen Augenblick in der Tasche herum, dann holte er eine grüne Mappe heraus. „Das ist meine Reisekostenmappe, in der ich alle meine Quittungen aufbewahre. Ich bin auf Kosten meines Freundes gereist und bekomme einen ganz ordentlichen Tagessatz, was bedeutet, dass ich meine Unterlagen für die Steuer aufbewahren muss. Ich behalte immer alles.“
Er reichte Taylor die Mappe. Sie öffnete sie und blätterte sie durch, wobei sie für den Rekorder den Inhalt laut aufsagte. Bangor machte keine Witze, er hatte wirklich alles aufbewahrt.
„Bewirtungsbelege mit Angabe von Datum, bewirteten Personen, Parktickets, alles für die Tage, von denen Mr Bangor angibt, nicht zu Hause gewesen zu sein. Ich wünschte, ich wäre nur halb so gut organisiert.“ Sie legte die Mappe auf den Tisch. „Ich bin sicher, Sie verstehen, dass wir das trotzdem überprüfen müssen.“
„Natürlich. Ich habe meinen Geschäftsführer und meinen Anwalt informiert, dass Sie Kontakt mit ihnen aufnehmen werden. Ich habe ihre Telefonnummern ebenfalls in die Mappe getan. Sie können sie behalten, ich habe Kopien. Ja, nennen Sie mich ruhig einen Erbsenzähler.“ Er lachte, und Taylor unterdrückte den Drang, mit einzufallen. So entwaffnend und charmant Mr Bangor auch war, er war immer noch ein Verdächtiger.
„Danke, dass Sie es uns so leicht machen, Mr Bangor. Erzählen Sie mir, wie kommt es, dass ein Scriptdoctor für Hollywood in Nashville und nicht in Los Angeles wohnt?“
„Wer könnte hier schon wegziehen? Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Das Haus am Love Circle kenne ich, seitdem ich ein Baby war. Es gehörte meinen Großeltern. Sie haben es gebaut, als sie nach Nashville gezogen sind. Vor zehn Jahren sind sie in Rente gegangen und nach Florida gezogen und haben mir das Haus überlassen. Ich habe es renoviert und zu meinem Heim gemacht.“
„Und die Reproduktionen von Picasso? Haben Sie die auch geerbt?“
Bangors Augenbrauen hoben sich noch mehr. Taylor fiel die feine Form von ihnen auf; sie bogen sich elegant über seine braunen Augen. Seine Nägel waren kurz und gepflegt, seine Haut straff und gebräunt. Der Haarschnitt war teuer, die Kleidung ausgewählt. Er war ein sehr adretter Mann. Entweder waren seine Eltern gut betucht, oder er war wirklich gut in dem, was er tat.
„Desmoiselles d’Avignon? Hat … derjenige, der in mein Haus eingebrochen ist, sie mitgenommen?“
„Nein“, sagte Taylor. „Es ist eine sehr gut gemachte Reproduktion.“
„Das stimmt. Sie haben ein gutes Auge. Es gibt eine großartige Geschichte dazu. Das Bild wurde von einem hungernden Kunststudenten angefertigt, der sein Geld hauptsächlich damit verdiente, Kopien großer Meister für gut betuchte New Yorker anzufertigen. Menschen, die den Eindruck erwecken wollten, sie könnten sich das Original leisten. Dieses spezielle Gemälde war Teil einer Sammlung, die dem verstorbenen George Wilson gehörte.“
„Der Philanthrop? Ich dachte, er hätte alles seinen Hunden hinterlassen.“
Bangor lächelte. „Alles bis auf seine Kunstsammlung. Er hatte ein paar wirklich schöne, echte Stücke, unter anderem einen Chagall, mit dem ich geliebäugelt habe, den ich mir aber nicht leisten konnte, und einige großartige Kopien, inklusive des Picassos. Die Sammlung wurde versteigert, und ich kaufte den Picasso. Das war vor fünfzehn Jahren. Ich liebe Kunst, wie Ihnen sicher aufgefallen ist. Mit Mitte zwanzig habe ich angefangen zu sammeln. Von meinem ersten Drehbuchscheck habe ich mir eine kleine Zeichnung gekauft. Klar, das war nicht viel, aber von da an ist mein Interesse immer weiter gewachsen. Inzwischen besitze ich auch einige Originale. Aber der Picasso ist meine schönste Reproduktion.“
„Wie viel muss man für so eine Imitation anlegen?“, wollte Taylor wissen.
„Ich habe für die Desmoiselles 10.000 Dollar bezahlt.“
„Zehn Riesen für eine Fälschung? Wow.“
„Das ist viel Geld, ich weiß, aber wenn man die Qualität und die Hintergrundgeschichte bedenkt, finde ich, dass es viel mehr wert ist. Das ist übrigens üblicher, als Sie vielleicht denken. Es ist kein richtiger Schwarzmarkt, aber ziemlich nah dran. Es gibt eine ganze Anzahl von Stücken, die es mit intakter Herkunftsbestätigung zu einer Auktion schaffen, aber Fälschungen sind. Es braucht einen wahren Meister seines Fachs, um die Unterschiede erkennen zu können. Deshalb sind Sotheby’s und Christie’s ja auch, wer sie sind.“
McKenzie kritzelte ein paar Notizen in sein Buch. „Und wo ist das Original?“
Bangor lächelte ihn an. „Im Museum of Modern Art in New York. Es ist vor einiger Zeit auf einer Wanderausstellung hier in Nashville gewesen, aber eigentlich ist es Teil der ständigen Ausstellung des MoMA.“
„Wer weiß von dem Picasso, Mr Bangor?“, fragte Taylor.
„Dass es sich um eine Reproduktion handelt? Jeder, der nur über ein klitzekleines bisschen Kunstverstand verfügt, würde das wissen. Es handelt sich schließlich um ein sehr bekanntes Gemälde.“
„Ich meinte, dass Sie im Besitz dieses Bildes sind.“
„Oh, ich verstehe. Tja, jeder, der in den letzten fünfzehn Jahren in meinem Haus zu Gast war, nehme ich an. Es ist nicht gerade ein Geheimnis. Detective, darf ich fragen, wieso so großes Interesse an diesem Bild besteht? Ich habe gehört, dass im Haus einiger Schaden angerichtet wurde, aber bis jetzt weiß ich keine Einzelheiten. Ist das Bild geschändet worden?“
„Auf gewisse Weise“, sagte Taylor. Bangor sog scharf die Luft ein.
McKenzie sprang in die Bresche. „Das Gemälde ist unversehrt. Das Opfer ist jedoch wie eine der Frauen auf dem Bild positioniert worden.“ McKenzie wollte weitersprechen, aber Taylor warf ihm einen Blick zu, und er verstummte. Meine Güte, verrate ihm doch gleich alles, was wir wissen.
„Positioniert?“, hakte Bangor nach.
Taylor winkte ab. „Im Moment, Mr Bangor, würden wir gerne mit Ihnen zum Haus zurückkehren, damit Sie uns sagen können, ob irgendetwas fehlt oder sonst wie verändert wurde. Dort können wir dann auch die Einzelheiten durchgehen.“
Bangor rutschte an die Stuhlkante und strich sich übers Kinn. „Wissen Sie, vor ungefähr einem Jahr ist bei mir eingebrochen worden. Die Diebe waren hinter Bargeld her. Sie haben das ganze Haus durchsucht, aber der Kunst keinen zweiten Blick geschenkt. Eine Schande, wirklich. Die Kriminellen heutzutage sind so ungebildet.“
„Haben Sie den Einbruch damals gemeldet?“
„Natürlich. Es müsste einen Bericht in den Akten geben. Ich frage mich, ob es sich um dieselben Leute handelt. Obwohl, ein Jahr später? Vermutlich nicht. Das war ein dummer Gedanke.“
„Es gibt keine dummen Gedanken, Mr Bangor. Detective McKenzie wird sich der Sache annehmen. Man kann nie wissen. Wenn Sie so nett wären, noch ein paar Minuten zu warten. Ich muss mich noch um zwei, drei Kleinigkeiten kümmern, dann fahren wir zusammen zu Ihrem Haus. Okay?“
„Sicher. Tun Sie, was Sie tun müssen. Könnte ich in der Zwischenzeit vielleicht etwas zu trinken bekommen? Ich bin von dem Flug noch ein wenig dehydriert.“
Mist, die Colas. Sie hatte sie im Flur vergessen. „Ich bringe Ihnen sofort etwas. Kaffee? Wasser? Cola?“
„Cola wäre großartig. Light, wenn Sie haben.“
Taylor nickte und stand auf. „Detective Taylor Jackson beendet die Befragung Nummer 2009-1397 mit Mr Hugh Bangor“, sagte sie und schaltete dann den Rekorder mit der Fernbedienung aus. Sie verließ den Raum, wartete, bis McKenzie bei ihr war, und schloss die Tür, bevor sie sich an ihn wandte.
„Gib ihm die Dose und stell sie danach sicher. Ich will seine Fingerabdrücke und eine DNA-Probe. Die Chancen stehen zwar gut, dass er kooperiert, aber nur für den Fall, dass nicht. Wenn du damit fertig bist, kümmere dich bitte weiter um die Familie des Johnson-Mädchens. Und McKenzie? Gib nie wieder Einzelheiten eines Tatorts an einen Verdächtigen weiter ohne mein Einverständnis, okay?“
„Ja“, murmelte er. „Wird nicht wieder vorkommen. Ich bringe ihm eben seine Cola.“
Sie sah ihm nach, wie er mit gesenktem Kopf davonging, und seufzte. Sie glaubte nicht, dass Bangor mit all dem hier etwas zu tun hatte, und wusste, dass McKenzie nur ihren Andeutungen gefolgt war, als er sich verplappert hatte. Es war kein echter Schaden entstanden.
Es gab einfach zu viel zu tun. Bevor sie weitermachte, musste sie eine Suche in ViCAP hochladen. In Augenblicken wie diesen vermisste sie Lincoln Ross. Er hätte bereits die Initiative ergriffen, die Informationen eingegeben und um Parameter ergänzt, an die nicht mal Taylor gedacht hätte. Und sie hätte die Ergebnisse schon gehabt, bevor sie zur Autopsie gegangen wäre.
McKenzie war noch grün hinter den Ohren, und auch wenn sie technisch gesehen seine Vorgesetzte war, war er einfach nur ein weiterer Detective, so wie sie. Es war nicht so, dass sie ihm Anweisungen geben oder ihn zurücklassen konnte, um sich um Dinge zu kümmern. Er war ihr Partner, er musste gecoacht und gehätschelt werden, sie auf Schritt und Tritt begleiten. Elms Befehle. Verdammt.
Sie betrat den Konferenzraum und nahm ihr nun kaltes Barbecue-Sandwich. Sie warf die Bohnen weg – die waren kalt nicht genießbar, und sie wollte keine Zeit damit verschwenden, sie in der Mikrowelle der winzigen Küche aufzuwärmen. Aber das Pulled Pork war noch essbar.
Sie nahm das Sandwich mit und aß es im Flur, wo sie sich gegen den Glaskasten lehnte, der die Aushänge des Reviers enthielt. Als sie fertig war, wischte sie sich den Mund mit dem Handrücken ab und starrte auf die Vermisstenanzeige eines dreizehn Jahre alten Mädchens mit ihrem Baby. Unten auf dem Poster stand groß ACHTUNG, darunter war aufgeführt, dass die Arme des Mädchens von wiederholtem Ritzen ganz vernarbt waren. Ach was. Dreizehn Jahre alt mit einem zweimonatigen Baby? Ja, die Chancen standen gut, dass das Kind total verkorkst war und alles tun würde, um ein wenig positive Aufmerksamkeit zu erlangen. Zumindest hatte ihre Familie eine Vermisstenanzeige aufgegeben; das war durchaus nicht üblich. Was Taylor wieder zu Allegra Johnson zurückbrachte. Von wem wurde sie vermisst?
Sie schrieb es auf die To-do-Liste in ihrem Notizbuch: Vermisstenanzeigen der letzten zwei Monate durchgehen.
Der Computerraum befand sich nur drei Türen neben dem Verhörraum. Sie schloss die Tür auf, machte das Licht an und weckte den Computer aus dem Energiesparmodus. Sie hatten alle einen Computer an ihrem Arbeitsplatz, aber Fingerabdrucksuchen in iAFIS und Anfragen zum Violent Criminal Apprehension Program des FBI mussten über ein separates System ausgeführt werden, das mit den Datenbanken des Bundes und des Staates verbunden war. Hier in der Außenstelle waren die Systeme etwas antiquiert, aber wenigstens hatte Lincoln dafür gesorgt, dass die Computer so schnell liefen wie nur menschlich möglich.
Innerhalb von zwanzig Minuten konnte sie auf Abschicken drücken. Der Fragebogen war vierzig Seiten lang, aber sie hatte nicht viel, was sie eintragen konnte, und würde die Datei ergänzen, wann immer neue Informationen dazukamen. Sie füllte die Formulare so vollständig wie möglich aus und benutzte da, wo es notwendig war, ihre Notizen. Sie fügte auch die Bilder hinzu, die sie an ihre hiesige E-Mail-Adresse geschickt hatte. Die Tatortfotos zu haben würde bei der Analyse des Verbrechens helfen.
Taylor hatte um drei verschiedene Suchen gebeten. Eine nach Kunstdieben in der Gegend um Nashville. Eine für alle Morde, die eine künstlerische Komponente aufwiesen – Musik, Gemälde oder Skulpturen. Und eine dritte für Morde, in denen die Opfer verhungert waren. Die Anfragen würden laufen, während sie und McKenzie mit Bangor zu seinem Haus fuhren.
Das war der Trick bei ViCAP: Man musste Parameter eingeben, innerhalb derer gesucht werden wollte, diese aber so eingrenzen, dass nicht vollkommen wahllos gesucht wurde. Sie wünschte, das Programm würde direkte Antworten ausspucken, aber stattdessen suchte es nach Trends, die wiederum von ihr interpretiert werden mussten.
Aber nur für den Fall, dass irgendetwas herauskam, das eine unglaubliche Nähe zu ihren Morden hatte … Sie hinterließ eine Nachricht an Rowena Wright, die Administratorin des Departments, dass sie Ergebnisse aus einer ViCAP-Suche erwartete. Rowena war eine joviale schwarze Frau, die schon lange vor Taylors Geburt Polizistin gewesen war. Sie hatte eine Schneise geschlagen, der zu folgen Taylor eine Ehre war. Rowena hatte in der Verwaltung angefangen, war dann Streifenpolizistin geworden, danach Ausbilderin, dann hatte sie die Prüfung zum Sergeant erfolgreich abgelegt und wäre beinahe Detective geworden, wenn nicht ein leichter Herzinfarkt sie gezwungen hätte, aus dem aktiven Dienst auszuscheiden. Es gab nicht viele Leute im Hauptquartier, denen Taylor dieser Tage traute, aber Rowena war eine von ihnen.
Als sie in das Befragungszimmer zurückkehrte, holte McKenzie gerade eine Serviette hervor, mit der Hugh Bangor sich die Finger abwischen konnte. Mit einem dicken Lächeln drehte er sich zu Taylor um.
„Mr Bangor war so freundlich, uns seine Fingerabdrücke und einen DNA-Abstrich zu geben.“
„Das ist gut. Entschuldigen Sie uns einen Moment?“
Bangor lächelte. Er wusste Bescheid. Sie verließen den Raum. Taylor frage McKenzie, was er über Allegra Johnson herausgefunden hatte.
„Nicht viel. Zu einer ihrer Verhaftungen ist eine Adresse notiert worden. Unten, in den Projects. Ich habe sie überprüft, da sind noch drei weitere Personen mit Strafakten gemeldet. Entweder hing sie mit wirklich miesen Typen ab oder es handelt sich nur um eine Briefkastenadresse.“
„Okay. Wir ziehen jetzt die Sache mit Bangor durch und fahren danach zu der Adresse, die du herausgefunden hast. Father Victor steht für den Fall der Fälle bereit?“
„Ja. Er sagt, wir sollen ihn anrufen, wann immer wir ihn brauchen. Er würde uns dann vor Ort treffen. Er scheint mir ein netter Typ zu sein.“
„Das ist er. Hast du ihn noch nicht getroffen?“
„Nein. Es gab bisher keinen Anlass.“
„Du hast noch nie Angehörigen die Nachricht übermitteln müssen?“, fragte Taylor ungläubig.
„Nein. Bislang haben mich alle immer mit etwas anderem beschäftigt, während sie sich um die Familien gekümmert haben. Also wenn Allegra eine Familie hat, wird es meine erste sein.“
„Wie alt bist du genau, McKenzie?“
„Nächsten Monat werde ich siebenundzwanzig.“
Sechsundzwanzig und bereits Detective. Sie hätte gedacht, dass er älter sei. Sie hatten ihn schnell befördert, und Taylor fragte sich, warum.
„Okay. Bringen wir es hinter uns.“
Sie holten Bangor aus dem Befragungszimmer ab.
Auf dem Weg zum Auto versuchte Bangor, eine Unterhaltung anzufangen. „Detective McKenzie hat mir gerade erzählt, dass er einmal eine Freundin hatte, die eine wahre Künstlerin war.“
„Äh, ja, Sir, das stimmt.“ McKenzie schaut Taylor entschuldigend an, als hätte sie ihn dabei erwischt, etwas falsch gemacht zu haben.
„Was für eine Künstlerin, McKenzie?“, fragte sie mit einer Stimme, die ihm verriet, dass sie ihm vergab, woraufhin er sich sofort sichtlich entspannte. Es schadete nichts, dem Jungen heute ein wenig Mitgefühl zu zeigen.
„Hauptsächlich Ölfarben und ein wenig Pastell. Sie war sehr gut.“
Sie gingen über den Parkplatz, und Taylor fiel ein, dass sie sich nicht ausgetragen hatte. Pech gehabt, Elm.
„War sehr gut?“, hakte Bangor sanft nach. Taylor war wohl etwas entgangen. McKenzie sah aus, als würde er gleich anfangen, zu weinen.
„Äh, sie ist tot. Hat sich umgebracht. Heute ist unser Jahrestag.“
Oh. Das war das gleiche Mädchen, von dem er heute Morgen bei der Autopsie gesprochen hatte, nahm Taylor an. Armes Kind. Es ist nie gut, jemanden zu verlieren, den man liebt.
Bangor fühlt offensichtlich das Gleiche. Er klopfte McKenzie mitfühlend auf die Schulter.
„Ich habe meinen Partner vor fünf Jahren verloren.“ Bangor zögerte einen Moment, dann sagte er: „AIDS.“
McKenzie nickte nur, sagte aber nichts. Taylor schaute Bangor genauer an. Sie hätte nicht vermutet, dass er schwul war. Er war gut angezogen, ja, aber er war überhaupt nicht affektiert, hatte nichts Weibliches an sich. Das machte das Leben ein kleines bisschen unkomplizierter. Der Tatort schrie förmlich hetero, die typische Gewalt eines Mannes gegen eine Frau. Bangor war höchstwahrscheinlich nicht ihr Verdächtiger. Taylor hatte das schon von Anfang an gespürt, aber die biografischen Einzelheiten halfen ihr, diesen Eindruck zu untermauern.
Auf der kurzen Fahrt zum Love Hill unterhielt Bangor sie mit Geschichten von berühmten Schauspielern, die trotz gegenteiligem Auftreten schwul waren.
Als Taylor nach links auf den Love Circle einbog und der gewundenen Straße den Hügel hinauf folgte, war sie schockiert. Gestern Abend, in der Dunkelheit, hatte eine gewisse Romantik über der Gegend gelegen. Doch jetzt, im harten Licht des Tages, sah sie, wie heruntergekommen der Hill war. Müll sammelte sich auf den grasbewachsenen Flächen des Parks, ein Graffito auf einem Stromkasten war unbeholfen übermalt worden. Ein verrosteter Maschendrahtzaun war an einigen Stellen abgesackt und trug die Trittspuren betrunkener Jugendlicher. Das war nicht der Hill, an den sie sich erinnerte. Sie machte eine entsprechende Bemerkung zu Bangor.
„Ja, es ist schwer, die Landstreicher nachts vom Park fernzuhalten. Es ist so still hier, und es wird nicht sehr oft Streife gelaufen. Jedes Mal, wenn wir sie entfernen lassen, kommen sie wieder. Die Jugendlichen, die herkommen, sind auch nicht die nettesten Individuen. Ihretwegen und wegen des Einbruchs damals bin ich sehr froh über meine Alarmanlage.“
„Gestern Abend haben wir keine Meldung von ihrer Alarmanlage erhalten. Ist es möglich, dass Sie sie nicht angeschaltet haben, als Sie die Stadt verließen?“
„Nein, da bin ich ganz penibel. Aber es ist durchaus möglich, dass Miss Carol vergessen hat, sie wieder scharf zu schließen. Sie hat sich während meiner Abwesenheit um Sebastian gekümmert, und manchmal vergisst sie den Alarm. Das wäre nicht das erste Mal.“
Taylor warf McKenzie einen Blick zu. Das passte zur Aussage der Nachbarin. Wie günstig, dass der Alarm ausgeschaltet gewesen war. Sie fragte sich, ob der Mörder gewusst hatte, dass die Chancen dafür gutstanden, oder ob er darauf vorbereitet gewesen war, die Alarmanlage auszuschalten. Das würde für ein noch höheres Level an Intelligenz sprechen als sowieso schon. Und für eine engere Beziehung zu Hugh Bangor.
Im Tageslicht bildete Bangors Haus einen starken Kontrast zu seiner schmuddeligen Umgebung. Obwohl in der letzten Nacht unzählige Menschen über den Rasen getrampelt waren und ihre Spuren hinterlassen hatten, sah man, dass er außerordentlich gut gepflegt war.
Das Absperrband flatterte an der Veranda. Taylor band es von der Säule los und ließ Bangor und McKenzie eintreten. Drinnen spannte sich Bangor sofort an. Taylor beobachtete seine Reaktion mit größtem Interesse und fragte sich kurz, ob sie ein Problem bekommen würden. Aber Bangor schüttelte nur den Kopf und wandte sich mit erhobener Augenbraue zu ihr um.
„Hier fehlt etwas Größeres, oder? Was ist mit meiner Säule passiert?“
Taylor schaute McKenzie an. „Erzähl es ihm“, sagte sie.
„Das Opfer war mit einem Messer an die Säule geheftet worden. Wir mussten sie mitnehmen, um die Unverletzlichkeit des Wundtraktes sicherzustellen.“
„Mein Gott. Wer tut denn so etwas? Sie werden die Säule ersetzen, oder?“, fragte Bangor.
Taylor nickte. „Ich bin mir sicher, dass wir zu einer Einigung kommen werden. Zerstörung fremden Eigentums gehört nicht zu unseren eigentlichen Tätigkeiten. Aber letzte Nacht hatten wir keine andere Wahl.“
„Klingt logisch.“
Sie gingen zur Hintertür, wo Taylor ihm das herausgeschnittene Glasstück zeigte.
Bangor schnalzte mit der Zunge. „Das ist so … verstörend.“
Taylor berührte seinen Arm. „Ich weiß, es ist schwer. Halten Sie noch einen kleinen Augenblick durch.“
Während sie sprachen, gingen sie in die Küche.
„Sind Sie ein Fan von Dvořák?“, fragte Taylor.
Er legte den Kopf schief. „Ehrlich gesagt nicht. Ich bin mehr ein Outlaw-Typ. Gute alte Countrymusic und so. Wussten Sie, dass John Rich das Haus am Ende der Straße gebaut hat? Er ist ein sehr netter Mann. Ich bin kein großer Fan seiner Musik, da steckt für mich ein bisschen zu viel Ego drin, aber er ist ein guter Nachbar. Seine Anwesenheit hat zumindest die Grundstückswerte steigen lassen.“
„Das ist ja nie verkehrt. Besitzen Sie irgendwelche CDs von Dvořák?“
„Nein.“ Bangor ließ sich schwer auf einen Küchenstuhl sinken. „Warum?“
„Weil eine Dvořák-CD hier in ihrem eingebauten System lief. Sie war auf Endlosschleife eingestellt.“
„Also damit hatte ich definitiv nichts zu tun. Ich hatte Lightning 100 eingelegt. Sebastian mag alternativen Rock. Ich lasse normalerweise immer etwas für ihn laufen, wenn ich weg bin. Vielleicht gehört die CD ihm?“
„Der Katze?“ McKenzie sah mit einem Mal sehr ernsthaft aus, aber Taylor lachte.
„Na, das ist ja mal ein Szenario, das mir in einer Morduntersuchung noch nie untergekommen ist. Die Katze war’s.“
McKenzie verstand den Witz jetzt auch und fiel ein wenig zu stark in ihr Lachen ein.
„Vielleicht kann die Katze den Fall lösen. Wissen Sie, wo Sebastian jetzt ist?“, fragte Bangor.
„Ihre Nachbarin hat ihn gestern Abend mit zu sich nach Hause genommen.“
„Zu schade, dass ich kein Katzenflüsterer bin. Das würde mein Leben so leicht machen. Er könnte mir einfach sagen, was er gesehen hat.“ Bangor wurde wieder ernst. „Mir tut das Mädchen leid, wer immer sie auch ist. Wissen Sie, wie sie heißt?“
Taylor nickte McKenzie zu, der antwortete: „Allegra Johnson.“
Bangor schüttelte den Kopf. „Ich kenne niemanden mit diesem Namen, auch wenn er sehr schön ist. Vielleicht werde ich sie zur Erinnerung in einem der nächsten Stücke unterbringen. Mein Gott. Ist sie hier gestorben?“
Er starrte auf die fehlende Säule, als wenn er so die Szene von letzter Nacht sehen könnte. Taylor war froh, dass er es nicht konnte; es war ein Anblick, den sie so schnell nicht vergessen würde.
„Nein, Sir. Ich glaube nicht. Tun Sie mir einen Gefallen und schauen Sie sich kurz um. Falls Ihnen nichts Ungewöhnliches auffällt, lassen wir Sie auch gleich in Ruhe.“
Bangor sah sich fünf Minuten lang im gesamten Haus um, dann kehrte er kopfschüttelnd in die Küche zurück. „Nichts. Es ist alles da, bis auf das Buch von meinem Couchtisch. Glauben Sie, dass ich irgendwie in Gefahr bin?“
Jetzt schüttelte Taylor den Kopf. „Wir haben die Picasso-Monografie zu Untersuchungszwecken mitgenommen. Ich glaube nicht, dass Sie in Gefahr sind, aber ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Ich zögere noch, die Schlussfolgerung zu ziehen, dass jemand Ihnen eine Nachricht schicken wollte, aber vielleicht war das tatsächlich der Fall. Ich würde es sehr zu schätzen wissen, wenn Sie selber etwas Detektiv spielen würden. Schauen Sie ihre E-Mails und sonstige Korrespondenz der letzten Tage durch, schauen Sie, ob Ihnen irgendetwas bedrohlich vorkommt. Vielleicht gefiel jemandem nicht, was sie über seine Drehbuchschreibkünste gesagt haben?“
Bangor lächelte. „Ich bin ehrlich gesagt inzwischen an dem Punkt angelangt, wo junge Autoren sich darum schlagen, ihr Drehbuch von mir verbessern zu lassen. Sie sind eher unterwürfig als bedrohlich. Aber ich werde darüber nachdenken.“
„Nun gut. Vielen Dank für Ihre Kooperation. Und ich verlasse mich darauf, dass Sie die Informationen, die ich Ihnen gegeben habe, für sich behalten.“
„Kann ich wieder nach Kalifornien zurückfliegen?“
„Bleiben Sie bitte noch einen oder zwei Tage hier, während wir ein paar Dinge überprüfen. Wir bleiben in Kontakt.“
Bangor begleitete sie zur Tür. „Ich gehe rüber und hole Sebastian nach Hause. Danke, dass Sie so vorsichtig waren. Ich weiß, wie schwer das gewesen sein muss.“
Sie schüttelten sich die Hände. Taylor und McKenzie stiegen in Ihren Wagen. Sie sahen zu, wie Bangor an Carole Parkers Tür klopfte und dann hineinging. Im Hintergrund war das laute Miauen einer Katze zu hören. Wenigstens eine glückliche Heimkehr für eines der Familienmitglieder.
„Er hat mit all dem nichts zu tun, oder? Er kommt mir wie ein wirklich netter Mensch vor.“ McKenzie fummelte an der Bügelfalte seiner Hose herum und fuhr immer wieder obsessiv mit dem Daumen über den Knick.
„Vermutlich nicht, aber das bedeutet nicht, dass ihm nicht jemand eine sehr eindeutige Nachricht hat zukommen lassen wollen.“
„Um ihm ein Angebot zu machen, dass er nicht ablehnen kann?“
„McKenzie, ich hätte dich nie für einen Fan von Der Pate gehalten.“
Sie legte einen Gang ein und fuhr los. Irgendjemand hatte Hugh Bangor eine Botschaft geschickt. Sie musste herausfinden, wer, bevor er es noch einmal versuchte.