39. KAPITEL
Taylor gelang es, auf dem Alitalia-Flug ein wenig zu schlafen. Memphis, der einige Reihen hinter ihr saß, war an ihr vorbeigegangen, als sie es sich gerade gemütlich machte. Er hatte sie mit seinem üblichen selbstsicheren Lächeln bedacht. Gut, dass sie nicht nebeneinandersaßen.
Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so erschöpft gewesen war. Baldwin hatte sich direkt nach dem Abflug neben ihr zurückgelehnt und war sofort eingeschlafen. Sie folgte seinem Beispiel kurz darauf und wachte erst auf, als sie zum Landeanflug in Florenz ansetzten.
Der Flughafen war schrecklich überfüllt; es war Hochsaison in Italien. Florenz, Firenze, stand auf dem Wunschplan eines jeden Italienreisenden. Als eine der großen drei – Rom, Venedig und Florenz – war die Stadt das Tor in die Toskana, zu dem Herzstück Italiens, das Reisende schon seit Jahrhunderten verzauberte.
Vor der Gepäckausgabe wurden sie von einem auffallenden Mann mit tiefbraunen Augen empfangen, der sein graues Haar glatt zurückgekämmt trug, sodass seine ausgeprägten Geheimratsecken betont wurden. Er hatte breite Schultern, war ungefähr einen Meter siebzig groß und trug einen schwarzen Anzug. Er kam sofort auf sie zu – Taylor vermutete, dass sie selbst in diesem Meer von Fremden nicht gerade unauffällig waren. Der Mann begrüßte sie in einem tadellosen Englisch mit hartem italienischem Akzent.
„Buona sera. Supervisory Special Agent Baldwin, Detective Jackson, ich bin Capitano Luigi Folarni, Leiter der Sondereinheit Macellaio. Ich werde Sie zu Ihrem Hotel bringen. Reist Inspector Highsmythe mit Ihnen?“
„Ich bin hier.“ Memphis sah Taylor fragend an. „Versucht da jemand, mich loszuwerden?“
„Nein“, sagte sie. „Wir hätten gewartet. Zumindest eine Minute.“ „Tut mir leid, aber ich musste im Büro anrufen. Wir haben eine Bestätigung erhalten, wo unser Mann in London gewohnt hat. Sieht so aus, als hätte er ein Apartment in Battersea gemietet. Guten Tag, Capitano Folarni.“
„Buona sera, Inspector. Wenn Sie mir alle bitte folgen wollen, ich werde Sie zu Ihrem Gepäck begleiten und dann ins Hotel bringen.
Ich bin sicher, dass Sie sich nach dem langen Flug ein wenig ausruhen möchten.“
„Ehrlich gesagt wollen wir gleich anfangen“, sagte Baldwin.
„Ah, aber das ist nicht möglich. Alle, die Sie brauchen, um arbeiten zu können, haben bereits Feierabend gemacht.“ Er ging so schnell, dass Taylor sich anstrengen musste, Schritt zu halten. Es wirkte so, als wenn Folarni es seinen Kollegen so schnell wie möglich gleichtun und nach Hause fahren wollte. Sie war daran gewöhnt – die Italiener waren wundervolle Kollegen, aber wenn der Tag vorbei war, wurde gnadenlos entspannt. Deshalb war ihr Stresslevel auch so niedrig. Sie gingen einfach nach Hause und nahmen die Ermittlung am nächsten Tag wieder auf. Verständlich. Sie lebten schon länger mit dem Gespenst des Il Macellaio als Taylor.
Dennoch machte es sie verrückt. Sie wollte sofort die Fährte der Zwillinge aufnehmen. Baldwin las zum Glück mal wieder ihre Gedanken.
„Capitano“, setzte Baldwin an, doch Folarni unterbrach ihn.
„Ah, per favore, Folarni. Diese ganzen Titel stören doch nur.“
„Gut, Folarni. Können wir wenigstens ein kurzes Briefing bekommen, an welchem Punkt sich die aktuellen Ermittlungen gerade befinden?“
Folarni seufzte schwer. „Ich kann Sie ganz kurz mit in mein Büro nehmen. Wir sind noch nicht viel weitergekommen, seitdem wir gestern Abend gesprochen haben. Il Macellaio macht unsere Straßen schon seit vielen Jahren unsicher. Auf einen Abend mehr kommt es da auch nicht an. Würde die Lady es nicht vorziehen, sich erst ein wenig frisch zu machen?“
Taylor wollte gerade ablehnen, doch Baldwin drückte ihren Arm.
„Detective Jackson und Detective Inspektor Highsmythe können schon ins Hotel vorgehen. Sie briefen einfach nur mich. Inoltre, parlo italiano. Andrà più velocemente questo senso.“
„Angeber“, murmelte Memphis vor sich hin. Taylor warf ihm einen strengen Blick zu.
Es war einfacher, wenn Baldwin italienisch sprach, als wenn Folarni englisch sprach, vor allem, wenn es um die Feinheiten ging. Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf Folarnis Gesicht aus. „Ah. Si. Io capisco. Perfetto. Va bene.“ Taylors Italienisch war gut genug, um Folarni zu verstehen; er war erfreut, dass Baldwin so fließend sprach.
Sie verließen das Gebäude. Folarni und Baldwin unterhielten sich in schnellem Italienisch. Taylor und Memphis folgten ihnen stumm. Folarni führte sie zu einem schwarzen, viertürigen Alfa Romeo.
„Netter Schlitten“, sagte Memphis.
„Pst“, ermahnte Taylor ihn. Sie stiegen hinten ein, Baldwin nahm auf dem Beifahrersitz Platz.
Der Aeroport Amerigo Vespucci lag nur wenige Meilen nördlich vom Zentrum der Stadt. Sie fuhren die Viale Guidoni in rasender Geschwindigkeit hinunter. So sehr Taylor Italien auch mochte, an das Tempo auf den Straßen hatte sie sich nie gewöhnen können. Es war wie in New York, nur mit kleineren Autos und mehr Schreien und Gestikulieren.
Bald waren sie im Herzen von Florenz angekommen. Folarni hielt vor dem Hotel, in dem Baldwin Zimmer reserviert hatte. Er stieg aus dem Auto, um Taylor die Tür aufzuhalten. Dann küsste er ihre Hand und wünschte ihr einen angenehmen Abend. Baldwin und Memphis nahmen die Taschen und stellten sie an der Eingangstür ab, damit der Portier sie hinauftragen würde.
Baldwin stieg wieder ins Auto, Folarni fädelte sich wieder in den Verkehr ein, und bald waren sie außer Sicht.
„Wow. Ich bin froh, dass das vorbei ist. Der fährt ja wie ein Irrer“, sagte Memphis. „Wollen wir einchecken? Du kannst dich gerne in meinem Zimmer frisch machen anstatt in deinem, wenn du willst.“ Vor Antritt des Fluges nach Italien waren sie alle übereingekommen, dass es einfacher wäre, wenn sie einander endlich duzten. Das würde auch den Italienern gegenüber einen geschlosseneren Eindruck vermitteln.
„Meine Güte, Memphis. Du kannst es einfach nicht lassen, oder?“ Der Mann war wirklich unbelehrbar, aber sie schenkte ihm trotzdem ein Lächeln, während sie den Kopf schüttelte.
Eines musste man Baldwin lassen: Er wusste, wo man angemessen untergebracht wurde. Er hatte ein Hotel auf der Via Tornabuoni besorgt, die direkt an der Ponte Santa Trinita lag, nur eine Brücke von der berühmten Ponte Vecchio entfernt. Das hier war das Modeviertel, die eleganteste Shoppingadresse von Florenz. Legendäre Namen zierten die Eingänge der Läden: Gucci, Ferragamo, Cartier, Bulgari, Versace, Yves St. Laurent, um nur ein paar zu nennen. Ihr Hotel kuschelte sich an einer Seite direkt an den Palazzo Strozzi. Es war zentral gelegen, und die zuständigen Carabinieri waren zu Fuß erreichbar. Taylor kannte sich in der Gegend aus – sie und Baldwin waren vor ein paar Monaten in ihren Pseudoflitterwochen hier gewesen.
Sie ließ Memphis am Empfangstresen zurück. Sie war müde und hungrig und rastlos. Sie gab dem Gepäckträger ein Trinkgeld, nachdem er ihre Taschen ins Zimmer gebracht hatte, wusch sich das Gesicht und war dann eigentlich bereit, loszulegen. Es war klug von Baldwin, den Chef der Carabinieri dazu zu zwingen, noch heute Abend mit ihm zu reden. So bekämen sie wenigstens einen kleinen Einblick über den Stand der Ermittlungen. Sein Sprachtalent öffnete Baldwin oftmals Türen, die für andere verschlossen waren. Auch der Capitano hatte sich offensichtlich von der Aussicht einwickeln lassen, mit Baldwin wie mit einem Muttersprachler zu plaudern. Taylor hatte erst vor Kurzem erfahren, dass er dreizehn Sprachen fließend sprechen konnte.
Sie stellte ihre Uhr auf italienische Zeit um – ihre Tag-Heuer-Taucheruhr, die Baldwin ihr letzten Monat zum Geburtstag geschenkt hatte, besaß ziemlich ausgefeilte Zeitzoneneinstellungen. Die zweite Zeit stellte Taylor auf Nashville, damit sie ihre Kollegen dort nicht aus Versehen mitten in der Nacht anrufen würde. Dann schaltete sie ihr Handy ein und rief McKenzie an.
In Nashville war gerade Mittag, aber McKenzie nahm gleich nach dem ersten Klingeln ab.
„Hey? Bist du gut angekommen?“
„Ja. Schreib dir mal eben die Hotelinformationen auf, falls du mich mal erreichen musst.“ Sie las die Nummern vor. „Wo stehen wir?“
„Die Presse hat die Verbindung zwischen dem Dirigenten und Il Macellaio hergestellt.“
„Verdammt.“
„Ja. Es läuft auf allen Kanälen. Aber wir machen Fortschritte. Die Bänder vom Radnor Lake zeigen Adlers Prius auf der Straße entlang des westlichen Parkplatzes um drei Uhr morgens. Er fährt direkt an der Absperrung vorbei und bleibt dann ungefähr zwanzig Minuten weg. Er kehrt auf demselben Weg zurück, fährt gegen 3:20 Uhr raus und das war’s. Sie haben keine Aufnahmen von dem Platz, an dem Leslie Horne in den Bach gelegt wurde.“
„Trotzdem, das Auto ist ein guter Beweis. Gibt es noch etwas Neues?“
„Ich habe mit der Frau vom FBI gesprochen. Pietra Dunmore? Die DAN aus Manchester ist zurück. Sie passt zu den anderen Proben, die wir gesammelt haben. Deine Idee mit dem Teppich war wirklich brillant, aber das weißt du vermutlich.“
„Ich glaube, das war Adlers erster Mord. Hast du Hugh Bangor die Fotos gezeigt?“
„Ja, und er hat Adler sofort herausgepickt. Er war der Grafiker, der den First-Katalog für die Ausstellung italienischer Meister erstellt hat. Du hattest recht, er ist mit der örtlichen Kunstszene verbunden. Bangor sagt, Adler hätte seinen Kopf jetzt rasiert.“
„Hast du herausgefunden, woher er Adler kennt?“
„Ja, es war bei dieser großen Party, die Hugh vor ein paar Wochen für alle gegeben hat, die mit der Ausstellung zu tun hatten, inklusive der Künstler und Grafiker, die alles organisiert haben. Adler erhielt als Mitglied des Ausstellungsteams auch eine Einladung und kam. Angesichts der Tatsache, dass Adler ein Poster des Picassogemäldes in seinem Wohnzimmer hat, denke ich, dass er dadurch inspiriert wurde, Allegra bei Bangor abzulegen. Das ist für mich die einzig logische Erklärung. Hugh sagte, sie hätten sich ein wenig über das Bild unterhalten, ansonsten hatte er keinen tiefer gehenden Kontakt mit Adler.“
Ah. Ja, das ergab Sinn. Taylor machte sich eine Notiz, Baldwin zu sagen, dass Adler inzwischen Glatze trug. Das war vermutlich der Grund, warum er dem römischen Zoll nicht aufgefallen war. Er sah nicht mehr so aus wie auf seinem Foto.
„Sehr gute Arbeit. Kannst du die Bilder zu Sheriff Simmons schicken, damit er sie seinem Bruder und Marie Bender zeigt?“
„Das hab ich bereits getan. Ich habe noch ganz viele tolle Neuigkeiten für dich. Adlers Adoptiveltern stammen aus Manchester. Sie sind jetzt tot, aber er ist in Central zur Schule gegangen. Außerdem hat Mrs Bender gesagt, dass Adler derjenige ist, an den sie sich erinnerte; der Junge, der mit LaTara befreundet war. Mit dem Tod seiner Eltern stimmt auch irgendetwas nicht. Sie starben, als er noch in der Highschool war, kurz vor seinem achtzehnten Geburtstag. Simmons nannte es einen tragischen Unfall – ein Leck in der Gasleitung; sie sind in ihrem Haus an einer Kohlenmonoxidvergiftung gestorben.“
„Wie praktisch. Denkst du, Adler hat seine Eltern umgebracht?“
„Das ist durchaus im Bereich des Möglichen. Wie auch immer, da haben wir die Verbindung nach Manchester.“
Taylor fiel auf, dass sie McKenzie in Gedanken schon seit zwei Tagen nicht mehr „Einfach Renn“ nannte. Das war ein gutes Zeichen.
„Tolle Arbeit, McKenzie. Danke, dass du dich um alles kümmerst.“
„Kein Problem. Ach ja, Tim hat in Adlers Haus ein Paar Asics Laufschuhe gefunden, die mit dem Abdruck aus Hughs, ich meine Mr Bangors Garten übereinstimmen. Und ich habe mit dem Jungen gesprochen, der nebenan gewohnt hat. Christopher Gallagher, der, für dessen Vergewaltigung Bangors Partner verurteilt wurde. Er war an dem Abend, an dem Allegras Leiche gefunden wurde, auf einer Party in Houston. Er hat also ein Alibi. Ich habe mit dem Leiter von Riverbend über Arnold Fay gesprochen, und er scheint ein Mustergefangener zu sein, der seine Zeit absitzt, ohne sich zu beklagen. Ich bin zuversichtlich, dass dieser Aspekt des Falles reiner Zufall ist. Bangor und ich haben uns noch eingehender darüber unterhalten, und er sagt, die Situation hätte sie alle drei zutiefst verstört.“
„Okay. Gut gemacht. Schön eingewickelt und noch eine Schleife drum gemacht. Jetzt müssen wir nur noch die Mörder fangen.“
Es war schon beinahe neun Uhr abends, und Baldwin hatte immer noch nicht angerufen. Die Arrangements zu treffen, dass drei weitere Strafverfolgungsbehörden auf italienischem Boden tätig werden konnten, war bestimmt nicht einfach. Taylor war dankbar, dass er sich darum kümmerte und sie nichts damit zu tun hatte. Aber sie war hungrig und rastlos.
Alle Restaurants hatten nach der nachmittäglichen Ruhezeit wieder geöffnet. Die Cafés hatten ihre Vorräte an Eis und Espresso aufgefrischt. Sie könnte einfach ein wenig herumlaufen und sich etwas suchen. Sie kannte ein tolles kleines Lokal in der Nähe, in dem sie einen Espresso und eine Kleinigkeit zu essen bekommen könnte, vielleicht auch ein Glas Wein.
Sie kannte Italien gut genug, um zu wissen, dass die Ermittlungen nicht vor morgen früh weitergehen würden. Nach dem heutigen Treffen zwischen Baldwin und dem Capitano würde nicht mehr gearbeitet werden. Sie könnten also gemeinsam zu Abend essen, ein wenig schlafen und sich gleich am Morgen daranmachen, die Brüder aufzuspüren.
Taylor klopfte an die Tür zu Memphis’ Zimmer. Er machte auf. Bei ihrem Anblick breitete sich ein erfreutes Lächeln auf seinem Gesicht aus.
„Signorina!“
„Buona sera, Memphis. Ich habe Hunger. Willst du mitkommen, etwas essen?“
„Ja. Ich bin am Verhungern. Das Essen im Flugzeug ist auch nicht mehr das, was es mal war. Sollten wir aber nicht lieber auf deinen Kerl warten?“
„Er hat gesagt, er meldet sich, wenn sie fertig sind. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich kann nicht länger warten. Ich muss wenigstens eine Kleinigkeit essen, um mich über Wasser zu halten. Außerdem gehen wir nur um die Ecke. Ich kenne da ein kleines Lokal. Komm, es ist nicht weit.“
Sie verließen das Hotel. Memphis tapste wie ein glücklicher kleiner Labrador neben ihr her. Taylor bemerkte, dass die Sonne unterging und die Schatten länger wurden. Die Sommertage schienen hier ewig zu dauern. Ihr kam ein überraschender Gedanke. Sie drehte sich auf dem Absatz um und zog Memphis am Arm mit sich.
„Was?“, fragte er, aber sie lächelte nur.
„Komm einfach mit“, sagte sie.
Sie führte ihn die Straße hinunter zur Ponte Santa Trinita. Die Brücke wurde an allen vier Ecken von Statuen bewacht, die die vier Jahreszeiten darstellten – Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Sie mussten nicht weit gehen. Die Sonne tauchte mit ihren letzten Strahlen die Nachbarbrücke, die berühmte Ponte Vecchio, in rosafarbenes Licht. Die mittelalterliche Brücke war eines der Wahrzeichen von Florenz, genau wie der Duomo, und Taylor war gerade eingefallen, wie wunderschön sie um diese Tageszeit aussah.
Sie wurde nicht enttäuscht. Der Anblick war einer Postkarte würdig – der leuchtende Glanz der Sonne wurde zu Feuer, während sie den westlichen Himmel hinabstieg. Der Arno glitzerte und warf tanzende Lichter auf die Gebäude der Ponte Vecchio und auf den Vasari Korridor, der den Palazzo Pitti mit dem Palazzo Vecchio verband.
Memphis stand neben ihr und seufzte. „Miss Jackson, ich bin zutiefst berührt. Unser erster gemeinsamer Sonnenuntergang.“
Sofort bereute sie ihren Einfall. Sie hätte sich denken können, dass er diese Geste missverstehen würde.
Ohne ein Wort zu sagen, drehte sie sich um und ging zurück zur Via Tornabuoni. Memphis folgte ihr. Sie gingen am Hotel vorbei, wandten sich dann nach rechts und kamen durch den Hof des Palazzo Strozzi zu einer unaufdringlichen Piazza. Der passend Piazza degli Strozzi benannte Platz war eher funktional als verschnörkelt und lag wie so viele dieser Plätze versteckt in einer Nebenstraße. Normalerweise fand man hier die besten Gelaterias für hausgemachtes Eis, und die oftmals von Familien geführten Lokale boten Schätze an, die nur darauf warteten, entdeckt zu werden. Aber Taylor wollte etwas handfestes, ein paar Crostini oder Ähnliches, und so setzten sie sich an einen Tisch im Hof des Colle Bereto.
Das hier war einer ihrer Lieblingsplätze in Italien, um einfach nur zu gucken. Es war beinahe zehn Uhr abends, und die Studenten fingen an, durch die Straßen zu schlendern. Sie kamen aus dem Kino oder wollten in die Spätvorstellung, saßen an Tischen und tranken Cosmopolitans und Martinis. Es waren ausreichend Tische frei. Der Kellner stellte ihnen einen Teller mit ein paar Nüssen und Oliven zum Knabbern hin, dazu eine gute Flasche Nero d’Avola, an den Taylor sich noch erinnerte. Eine Gruppe Mädchen setzte sich drei Tische weiter; kichernd warfen sie Memphis immer wieder Blicke zu. Taylor musste zugeben, dass er wirklich gut aussah, wie er da zurückgelehnt auf seinem Stuhl saß, die Hemdsärmel aufgerollt, sodass die braune Haut an seinen Handgelenken zu sehen war.
Sie nahm einen Schluck Wein und schaute sich auf dem Platz um. Sie versuchte zu ignorieren, dass Memphis mit den Fingern am Stil des Weinglases entlangstrich. Was hatte dieser Mann nur an sich, dass er ihr so unter die Haut ging? Sie fühlte sich von ihm seltsam angezogen, auch wenn er nicht mal annähernd ihr Typ war. Es ist nichts Sexuelles, dachte sie, sondern mehr eine intellektuelle Neugierde. Außerdem war sie schon sehr fest vergeben.
„Welche ist deine Lieblingsblume?“, fragte er unvermittelt.
„Wie bitte?“
„Deine Lieblingsblume. Komm, wir hängen hier fest, während FBI-Superagent Baldwin sich um die Arbeit kümmert. Wer weiß, wie lange das dauert. Also können wir die Zeit auch nutzen, einander besser kennenzulernen.“
„Memphis, ich glaube nicht …“
„Komm schon. Das wird lustig. Also, deine Lieblingsblume.“
Sie schüttelte den Kopf und trank noch einen Schluck Wein. „Okay. Rosen.“
„Wusste ich’s doch.“ Ein Grinsen erhellte sein Gesicht.
„Was?“
„Nicht so wichtig. Was ist dein Lieblingsessen?“
Sie seufzte. „Alles Italienische.“
„Deine Lieblingsfarbe?“
„Grau.“
„Hm, das ist interessant. Wegen deiner so unglaublich umwerfenden Augen?“
„Memphis …“
„Okay, okay. Was ist dein absoluter Lieblingsfilm aller Zeiten?“
„Ach komm, wen interessiert denn so was?“
„Mich. Also, dein Lieblingsfilm?“
Sie hatte ein Gefühl von Déjà-vu. Baldwin hatte ihr vor langer Zeit genau die gleichen Fragen gestellt. Und in einer sehr ähnlichen Situation – ein Glas Wein, erstes Kennenlernen. Es fühlte sich ein wenig falsch an, diese Unterhaltung mit Memphis zu führen. Sie schob den Gedanken beiseite – was langsam zu einer schlechten Angewohnheit wurde, wie ihr auffiel.
„Ich mochte Gladiator. Zufrieden?“
„Passt gut zu dem allgemeinen italienischen Motto bisher. Ich hätte auf so etwas wie Frühstück bei Tiffany getippt.“
Sie schüttelte den Kopf. „Auf gar keinen Fall. Ich war viel zu sauer auf Holly, weil sie die Katze im Regen hat sitzen lassen.“
„Sie ist doch aber zurückgekommen.“
„Trotzdem war es egoistisch. Ich mag keine Egoisten. Sie wollte nur Aufmerksamkeit.“
„Interessant. Machen wir weiter. Wer ist deine Lieblingsband?“
„Wie viel Zeit hast du?“
„Ich stehe dir die ganze Nacht zur Verfügung.“ Er hob anzüglich eine Augenbraue.
Sie verdrehte die Augen. „Ich habe keine Lieblingsband. Ich höre ganz unterschiedliche Musik.“
„Zum Beispiel?“
„The Police, Josh Joplin, Death Cab for Cutie, Portishead, Duran Duran, Evanescence, U2 … alles bis hin zu Glam-Metal. Ich mag die Stones lieber als die Beatles, mag Blues lieber als Jazz, und ich bin ein großer Fan von klassischer Musik. Okay?“
„Aber du wohnst in Nashville. Kein Country und Western?“
Sie lächelte ihn an. „Country und Western? Wie originell. Western haben wir schon vor langer Zeit ausgemustert. Und nein. Das ist einfach nicht mein Stil. Auch wenn man mit einem Johnny Cash-Song nichts verkehrt machen kann.“
„Jetzt machst du dich über mich lustig.“
Statt zu antworten, trank sie noch einen Schluck.
„Eines noch. Welches ist dein absolutes Lieblingsbuch?“
„Oh, Gott gütiger. Iss deine Oliven.“
„Komm schon, raus damit.“ Er schenkte ihnen Wein nach. „Dein Lieblingsbuch.“
Sie dachte einen Moment nach. Das war schwer. „Sinn und Sinnlichkeit. Nein, Stolz und Vorurteil.“
„Du magst Jane Austen?“ Er klang so dermaßen schockiert, dass sie laut lachen musste.
„Natürlich mag ich Jane Austen. Wer nicht? Ich glaube, ich bin sogar mit Mr Darcy verlobt, so wie es sich jedes Mädchen erträumt.“
„Das glaube ich. Ganz schöner Sturkopf, dein Kerl, genau wie der heldenhafte Mr Darcy. Jane Austen also, was? Das kommt mir so mädchenhaft vor. Lustig, Miss Jackson, ich hätte Sie niemals für eine Romantikerin gehalten.“
„Hör auf, mich so zu nennen.“ Sie löste ihre Haare und band sie dann wieder in einem Pferdeschwanz zusammen. „Natürlich bin ich eine Romantikerin. Ich bin Polizistin. Ich bin Idealistin. Ich glaube, dass ich die Welt verändern kann. Wie sollte ich da nicht romantisch sein? Und ich würde es begrüßen, wenn du mit Baldwin nicht darüber sprechen würdest. Er hat dir geholfen, und du spuckst ihm konstant ins Gesicht. Damit solltest du besser aufhören.“
Memphis tat ihren Rat mit einem Achselzucken ab. „Warum nennst du ihn überhaupt Baldwin? Warum nicht bei seinem Vornamen? Wenn ihr nur ehemalige Schulfreunde oder Kumpel wärt, würde ich es ja verstehen. Aber du bist seine Verlobte. Sollte man da nicht irgendwie vertrauter miteinander umgehen?“
Es fiel ihr schwer, das schlüssig zu erklären. Also sagte sie schlicht: „Weil er mich darum gebeten hat. Vor sehr langer Zeit. Und diese Bitte hat er nie aufgehoben.“
„Du liebst ihn.“ Memphis klang geschlagen, einsam. Sie war versucht, seine Hand zu nehmen, um ihn zu trösten, tat es dann aber doch nicht.
„Ja, das tue ich. Er ist – ich weiß, es klingt albern, aber er ist meine andere Hälfte. Bis ich ihn getroffen habe, fühlte ich mich nicht … vollständig. Er ist mehr als ein Liebhaber oder Partner. Kannst du das verstehen?“
Seine blauen Augen verdunkelten sich durch den Schmerz der Erinnerung. „Ja. Als ich Evan, meine Frau, verlor, erschien es mir so sinnlos. Ein Autounfall. Totaler Zufall. Seitdem habe ich das Gefühl, ein Stück von mir würde fehlen. Sie war schwanger, weißt du.“
Taylor wusste nicht, was sie sagen sollte. Das war mehr, als sie über Memphis hatte wissen wollen. Sie musste nicht seine verletzliche Seite sehen. Es war schlimm genug, dass sie so schon so viel gemeinsam hatten – beide aus gutem Elternhaus, beide auf einem Gebiet tätig, das ihren Eltern überhaupt nicht gefiel. Beide hatten um den Respekt ihrer Kollegen kämpfen, hatten immer ein Stückchen mehr leisten müssen, um sich zu beweisen. Sie stellte sich vor, dass ein Viscount zu sein bei der Met mehr Feindseligkeit hervorrief, als er zugab. Sie hatte es selber erlebt, und sie war nur eine kleine Debütantin aus Belle Meade, was wohl kaum mit seiner Herkunft zu vergleichen war.
Einen Moment lang legte sich eine melancholische, beinahe friedvolle Stille über ihren Tisch. Dann setzte Memphis seine Befragung fort.
„Lieblingstier?“
„Oh, komm schon. Genug von mir. Wie sieht es mit dir aus? Wieso arbeitet der Sohn eines Adligen bei der Met? Ist es nicht komisch, der Sohn eine Earls zu sein? Ich dachte, für den Landadel ist es nicht vorgesehen, zu arbeiten.“
„Oh, da hat wohl jemand seine Hausaufgaben gemacht. Du konntest einfach nicht widerstehen, oder?“
„Wie auch. Stehst du im Adelsrang nicht ein bisschen zu hoch, um mit der Arbeiterklasse zu spielen?“
„Autsch.“ Memphis zog eine Grimasse. Dann sagte er leise: „Evan hat darauf bestanden, dass ich einen echten Job annehme. Ansonsten hätte sie mich nicht geheiratet. Hat du je den Begriff morganatische Ehe gehört?“
„Manche Leute nennen es auch Ehe zur linken Hand. Das ist ein alter Begriff, der für Hochzeiten reserviert ist, bei denen ein Ehepartner von niedrigerem Stand ist als der andere. So wie dein Mr Darcy.“
„Okay. Und was hat das mit dir zu tun?“
„Evans Vater war nicht adelig. Es hat sie unglaublich gestört, dass meiner es war.“
Er hielt inne, sein Blick suchend, als wenn er ihr direkt in die Seele schauen könnte. Sie fühlte sich unter diesem Blick gefangen; sie konnte nicht wegschauen. Sie ahnte, dass er ihr etwas sagen wollte, spürte instinktiv, dass es wichtig war, um zu verstehen, wer dieser Mann wirklich war und was er von ihr wollte. Was zum Teufel sollte das?
Dann schaute er weg, und der Augenblick war vorbei.
„Was wolltest du gerade sagen?“, fragte Taylor.
Er schaut sie an und winkte dann ab. „Ich gebe nur an. Mein Titel bedeutet mir gar nichts, auch wenn er meinen Eltern immer wichtig war. Ein Viscount zu sein ist nicht das, was alle denken. Aber zum Glück hat mein Vater mich nie bedrängt, zu werden wie er. Er ist ein ziemlicher Philanthrop. Ich bin mehr wie du, ein Idealist. Er hat mich bei meinem Wunsch unterstützt, zur Met zu gehen, hat mir geholfen, einen Fuß in die Tür zu bekommen. Meine Mutter hingegen war darüber ziemlich verschnupft.“
„Ich finde das toll. Deine Eltern sind also wirklich ein Earl und eine Countess.“
Er ließ ein selbstsicheres Grinsen aufblitzen. „Tja, tut mir leid, wenn ich dir deine Illusion zerstören muss. Wir haben nur ein paar Tausend Hektar Land in den schottischen Highlands und ein zugiges Schloss im Moor. Mit Spinnenweben bedecktes altes Ding, unmöglich zu heizen, das Dach ist immer irgendwo undicht, die Steuern treiben einen in den Ruin, und wenn man tatsächlich ein Stückchen Land findet, das eben genug ist für eine Partie Polo, ist es mit großer Wahrscheinlichkeit acht von zwölf Monate im Jahr der reinste Sumpf. Rebhühner und Fasane gibt es in rauen Mengen, aber es gibt mehr Schafe als Menschen und mehr Bäume als Schafe, und wenn man das schon immer kennt, wird es irgendwann langweilig.“
„Gesprochen wie eine wahre Brontë“, sagte Taylor.
Memphis lachte auf, dann ließ er ein Lächeln um seine Lippen spielen. „Soll ich dich dann Cathy nennen?“
Sie lachte. „Das sollst du ganz bestimmt nicht. Schottland, hm? Warum ist dein Akzent dann so … na ja, du klingst überhaupt nicht wie die Schotten, die ich bisher kennengelernt habe.“
„Ich habe eine gute Ausbildung genossen.“
Sie lachte wieder. „Du bist einfach nur ein Snob. Wie bist du überhaupt zu dem Spitznamen Memphis gekommen?“
„Durch meine liebste Mama und meine Kumpel von der Schule. Mama war ein großer Elvis-Presley-Fan. Als ich ungefähr acht war, hat sie mich mit nach Graceland genommen. Nach meiner Rückkehr habe ich allen mit meinen Geschichten über Memphis in den Ohren gelegen. Ein paar der Jungs in der Schule fingen an, sich über mich lustig zu machen. Irgendwann war ich der Memphis-Junge, und als ich zehn war, hatte ich den Spitzname weg.“
„Wow. Du weißt aber schon, dass ich als in Nashville Geborene alles aus Memphis hasse, oder?“
„Guter Gott, Miss Jackson, Sie belieben zu scherzen.“
Sie winkte ab. „Ich habe doch gesagt, du sollst aufhören, mich so zu nennen. Sag Jackson oder Taylor, aber hör mit diesem Miss-Kram auf. Und natürlich mache ich keine Witze. Über wichtige Sachen scherze ich nie.“
„Okay, Jackson, was ich schon die ganze Zeit wissen will: Ich wette, du bist nicht der Typ für Kerzenlicht und Zärtlichkeiten in der Missionarsstellung, oder?“ Er schaute sie herausfordernd an.
Okay, das reichte. „Leck mich, Memphis.“
„Du hast ein ganz schönes Mundwerk. Würde jedem Seemann zur Ehre gereichen.“ Aber er lächelte, und sie wusste, dass er sich nur über sie lustig machte. Aus irgendeinem Grund störte sie das gar nicht mehr so sehr. Sie lachten gemeinsam und waren das erste Mal zusammen entspannt.
In angenehmem Schweigen saßen sie ein paar Minuten zusammen, nippten an ihrem Wein, schauten alles an, nur nicht einander. Schließlich rutschte Memphis mit seinem Stuhl näher. Er legte eine Hand auf den Tisch, nur Zentimeter von ihrer entfernt, beugte sich näher. Er wartete, bis sie ihm in die Augen sah, wartete auf diese kleinen Blitze des Erkennens und der Anziehung, die immer zwischen ihnen hin- und herschossen. Sie könnte sich in diesem schmerzenden blauen Meer verlieren, wenn sie nicht aufpasste.
„Ich könnte dich innerlich aufwecken, Taylor. Dich ins Leben zurückbringen. Du musst mir nur die Chance dazu geben.“
Er sagte es so leise, dass sie erst dachte, sie hätte die Worte nicht laut gehört, sondern sie wären einfach so in ihrem Bewusstsein aufgetaucht.
„Wie bitte?“ Ihre Stimme klang schärfer, als beabsichtigt.
Er rutschte ein winziges Stückchen näher, streckte seine Hand aus, um mit einer Haarsträhne zu spielen, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte. Einen Moment lang war Taylor wie gebannt, beobachtete die langsame, streichelnde Bewegung seiner Finger an ihrem Haar. Wie eine Kobra, die einen Mungo hypnotisiert.
Es war unausweichlich, und so war sie nur ein klein wenig überrascht, als sie seine Lippen auf ihren spürte. Der Kuss war sanft, lasziv. Sie spürte seine Zungenspitze und war erschrocken, als sie merkte, dass sie ihren Mund öffnete und ihre warmen Zungen einander berührten. Ein einziger Kuss. Was konnte der schon anrichten? Er würde weiter und weiter andauern, wenn sie es zuließe. Doch sie riss sich zusammen und schob Memphis verlegen von sich.
„Was zum Teufel tust du da?“, fuhr sie ihn an, genervt davon, wie atemlos sie sich anhörte.
Er sah sowohl verletzt als auch beschämt aus. „Nichts. Ist egal. Ich habe die Zeichen falsch gedeutet. Ich … ich muss los. Ich muss einen Anruf tätigen. Falls du mich brauchst, ich bin im Hotel.“
Er stand abrupt auf und ging, ohne sich zu verabschieden.
Sie blieb allein am Tisch zurück und fragte sich, was genau da eben passiert war. Er könnte sie innerlich aufwecken? Zugegeben, sie fühlte sich ein wenig von ihm angezogen, irgendeine schlichte, chemische Reaktion. Der Kuss – oh, über den wollte sie jetzt nicht nachdenken.
Aber sie konnte nicht anders. Sie fing an, zu analysieren. War es nicht das, worum es im Leben ging? Sollten wir uns nicht alle ab und zu vom anderen Geschlecht angezogen fühlen, selbst wenn wir in einer stabilen, liebevollen, glücklichen Beziehung sind? Das ist reine Biologie, der Fortpflanzungsdrang der Menschen. Ganz natürlich, ja, sogar gesund. Alleine, ob man ihm nachgab, entschied darüber, ob man ein guter oder ein schlechter Mensch war. Augenblicke wie dieser bestimmen, wer du bist.
Taylor hatte sehr schnell verstanden, dass Memphis Highsmythe nur zu bereit war, ihre Moral, ihren Körper und ihr Leben zu kompromittieren. Sie bräuchte ihm nur das entsprechende Zeichen zu geben, und er würde sich auf sie stürzen wie der Wolf auf das Lamm.
Er wäre nicht zärtlich. Sie spürte die Flammen in ihm, das wütende Inferno, das er in sich verschlossen hielt, sorgfältig versteckt hinter der pantherartigen Eleganz, mit der er sich bewegte. Das war ihr in dem winzigen Augenblick klar geworden, in dem ihre Lippen einander berührt hatten. Irgendetwas trieb ihn an, und sie nahm an, es war die Verzweiflung über die zerbrochenen Stücke seiner Ehe, der Verlust seiner Frau und seines ungeborenen Kindes. Sie verstand das. Sie hatte sich in der Vergangenheit bereits mit verletzten Männern eingelassen, mit Männern, die sie brauchten. Bedürftigkeit war gleichzusetzen mit Verzweiflung, und während der Sex immer fantastisch gewesen war, war der emotionale Preis für sie stets mehr gewesen, als sie ertragen konnte.
Baldwin hatte nichts von dieser Verzweiflung an sich. Er war innerlich solide, keine Anzeichen von verborgenen Feuern.
Sie schüttelte den Kopf. Was in drei Teufels Namen machst du dir da für Gedanken, Taylor?
Baldwin. Sie brauchte Baldwin. Ein Kuss, und er würde sie wieder erden, würde alle Erinnerungen an Memphis und seine blauen Augen aus ihrem Kopf vertreiben. An seine dummen, weichen Lippen.
Sie bezahlte und stürmte aus dem Café, lief mit großen Schritten durch die Stadt. Verdammt seist du, Memphis.
Mich innerlich zum Leben erwecken. Den Versuch würde ich gerne sehen.
Baldwin sah, wie die Szene sich langsam aufbaute. Memphis machte seinen Zug. Er musste Taylor zugutehalten, dass sie ihn, nachdem der erste Schock über den Übergriff vorüber war, sofort von sich schob.
Er hatte so etwas erwartet. Er konnte das Verlangen, das Memphis ausstrahlte, lesen wie einen Morsecode. Er hatte gewusst, dass Memphis sich früher oder später an Taylor heranmachen würde. Trotzdem war er schockiert. Was für eine unverfrorene, völlige Respektlosigkeit gegenüber ihrer Beziehung. Außer, Taylor hätte ihm die Erlaubnis dazu gegeben … nein, das würde sie nicht tun. Sie liebte ihn, nicht irgend so einen hübschen, gut betuchten Playboy.
Memphis stakste davon. Taylor warf ein paar Euro auf den Tisch und kam direkt auf ihn zu. Er zog sich um die Ecke des Gebäudes zurück und ging dann mit langsamen, entspannten Schritten los, als wüsste er nicht, dass sie gleich zusammenstoßen würden.
Er atmete tief durch und bog um die Ecke. Packte sie am Arm, sodass sie nicht hintenüberfallen würde. Er musste sie einfach fühlen.
„Hoppla! Hey, Süßer, Das war gutes Timing. Ich wollte dich gerade anrufen. Wie war dein Meeting?“
Keine Spur von Schuldbewusstsein auf ihrem Gesicht. Sie strahlte so wie immer, wenn sie ihn sah. Gutes Mädchen.
Er küsste sie, und sie schlang ihre Arme um seinen Hals. Sie waren in Italien, hier war es nicht ungewöhnlich, dass Liebende sich mitten auf der Straße umarmten. Nach einer Weile löste er sich von ihr und murmelt: „Willst du etwas essen gehen?“
„Ja. Ich habe immer noch Hunger. Ich habe mit Memphis nur eine Kleinigkeit gegessen. Mann, der Kerl macht mich wahnsinnig. Können wir alleine irgendwo hingehen und ihn sich selbst überlassen?“
„Das wäre ziemlich unhöflich, oder?“
„Ist mir egal. Er ist … einfach einer von diesen unglaublich nervtötenden Menschen. Ich bin ihn ein wenig leid.“
„Dann ist Ihr Wunsch mir Befehl, Mylady. Wie wäre es mit Mama Ginas? Vielleicht arbeitet Antonio heute.“
Er nahm ihre Hand, und zusammen gingen sie zurück zur Via Tornabuoni und über die Brücke. Es war ein stiller Abend, auf dem Fluss spiegelten sich die Lichter der Ponte Vecchio. Es war so schön, und Baldwin tat so, als bemerke er nicht, wie sie sich leicht versteifte, als sie an der Brücke anhielten, um den Ausblick zu genießen. Er beschloss, sie nicht zu fragen, was sie beschäftigte. Wer wusste schon, was Memphis ihr vorgeschlagen hatte.
Wie auf ein unausgesprochenes Kommando hin setzten sie gleichzeitig ihren Weg fort. Am Fuß der Brücke bogen sie in eine kleine Seitenstraße ab, in der sich einige der besten Restaurants von Florenz befanden.
Als der Geruch von Knoblauch und Tomaten Baldwins Sinne überflutete, versuchte er, die Gespenster des drohenden Unheils aus seinem Kopf zu vertreiben.