31. KAPITEL
Baldwin hörte Highsmythes Zusammenfassung der drei Mordfälle nur mit halbem Ohr zu. Anders als Baldwin schien der Brite nicht den kleinsten Kater zu haben. In Anbetracht der Tatsache, dass er Baldwin bei dem Wettrennen zum Boden der Flasche um Längen geschlagen hatte, war das sehr vielsagend.
Memphis war ein guter Redner. Die Gründlichkeit, mit der er die Fälle bearbeitet hatte, war unübersehbar. Die Londoner Morde hatten vor drei Monaten angefangen. Drei Prostituierte, drei Strangulierungen. Alle drei waren inszeniert worden, an allen drei Tatorten war eine Postkarte von einem Gemälde gefunden worden: die erste war Flaming June von Frederic Lord Leighton, die zweite Venus, Merkur und Amor von Correggio und die dritte The Tepidarium von Sir Lawrence Alma-Tadema. Alles waren Gemälde von sich zurücklehnenden Frauen. Das von Leighton war das einzige Bild, auf dem die Frau Kleidung trug, was sich auch an dem entsprechenden Tatort widerspiegelte – das Opfer war nicht nackt, sondern trug ein langes, fließendes Nachthemd.
Memphis hatte eine Diashow vorbereitet und ging jeden Fall im Detail durch. Er zeigte den jeweiligen Fundort, dann die Postkarte, dann beides übereinandergelegt, dann Seite an Seite. Die Ähnlichkeit der Opfer mit den Frauen auf den Gemälden war unverkennbar.
Alle drei Frauen waren erwürgt worden, alle drei waren klein und außergewöhnlich dünn. Es war nicht bestimmt worden, ob sie, wie die italienischen Opfer, lange hatten hungern müssen oder ob ihr Untergewicht einfach eine Berufskrankheit war. Alle drei Frauen waren nach ihrem Tod mehrfach sexuell missbraucht worden. Die DNA, die man auf Opfer Nummer drei gefunden hatte, war der Schlüssel zu der Verbindung zwischen Italien und London.
Il Macellaio entwickelte sich zu einem effizienteren, opportunistischeren Mörder. Irgendetwas in seinem Leben musste sich geändert haben. Etwas, das ihn dazu antrieb, seine favorisierte Tötungsmethode zu ändern. Einen Psychopathen wie ihn konnte alles Mögliche endgültig durchdrehen lassen. Es gab allerdings gewisse gemeinsame Nenner, anhand derer Baldwin diese plötzliche Veränderung erklären konnte. Tod eines nahestehenden Menschen, zum Beispiel. Der Verlust des Arbeitsplatzes. Beides waren enorme Stressfaktoren.
Nahm man den plötzlichen Wechsel bei den Taten in den Staaten zu Frauen afrikanischer Herkunft dazu, hatte man ein weiteres verwirrendes Stück des Puzzles. Die Carabinieri hatten einen Bericht gefaxt – keiner der wenigen Morde an schwarzen Frauen in Florenz passte zu Il Macellaios Vorgehen.
Baldwin teilte dies Memphis mit, der nur nickte und dann an Baldwins Team übergab, damit sie ihren Angriffsplan darlegen konnten.
Baldwin hörte zu, wie Pietra die gefundenen Spuren mit Memphis diskutierte, und machte sich dabei Notizen, um was für einen Typ Mann es sich seiner Meinung nach bei diesem Mörder handeln musste. Als er fertig war, sah sein Block aus wie die Kritzelei eines Dreijährigen, aber er fing an, sich der Wahrheit ein Stück näher zu fühlen.
Er schaute sich um. Akten, Fotos, Papier – alles, was zu diesen Fällen gehörte, war fein säuberlich in der Mitte des Tisches gestapelt. Sein Team hörte aufmerksam zu, die Köpfe geneigt, die Stifte eifrig über Papier huschend. Ein Whiteboard zu seiner Rechten war mit Vermutungen vollgeschrieben, das zu seiner Linken mit Fakten. Das Linke sah im Vergleich recht spärlich aus. Das würde sich nach dem heutigen Treffen ändern.
Memphis tippte mit einem Finger auf eines der Fotos vom Radnor Lake. „Ganz offensichtlich steigert er sich.“
Baldwin nickte. „Ja, zwei Leichen in zwei Tagen, da stimme ich zu.“
„Ich meine, er steigert sich als Künstler. Seine Verbrechen in Nashville waren bis ins kleinste Detail ausgestaltet. Die Londoner Tatorte, die ich gesehen habe, waren nicht halb so elegant. Sogar seine italienischen Morde konnten es hiermit nicht aufnehmen. Dieser Kerl glaubt, dass er ein Künstler ist. An den beiden Fundorten in Nashville hat er die Gemälde nicht nur nachgestellt, er hat sie, so paradox das klingt, lebendig werden lassen. Dazu brauchte es Zeit und Planung und eine gewisse Mühe. Meine Londoner Fälle waren Gemetzel, mehr nicht. Die Postkarten fühlten sich beinahe an wie ein nachträglicher Gedanke. Entweder wird er langsam richtig, richtig gut in dem, was er tut, oder er wird nachlässig.“
Baldwin nickte zustimmend und fing dann mit seinem Teil des Programms an. Das Profil war so komplett, wie es nur ging, und erzählte eine gruselige Geschichte. Er war mit dem Ergebnis sehr zufrieden.
Das Profil setzte sich aus fünf Abschnitten zusammen. Charlaine hatte sie für die Präsentation in ein ordentliches Format gebracht und ein Deckblatt mit Ansprechpartnern und dem üblichen Disclaimer erstellt. Die ersten paar Seiten des Profils enthielten eine Zusammenfassung, einen Überblick über die vierzehn Fälle, Einzelheiten zu den Funden an den jeweiligen Tatorten und die jeweils relevanten Beweismittel, darunter die passenden DNA-Proben aus den sichergestellten Haaren.
Der nächste Abschnitt beschäftigte sich mit der Viktimologie. Sie hatten sich die offensichtlichen Muster sehr genau angeschaut – alle der europäischen Opfer waren weiße Frauen, alle hatten einen feinen Knochenbau und waren von zierlicher Gestalt und zwischen achtzehn und sechsundzwanzig Jahre alt. Ihre Haarfarben reichten von Dunkelblond bis Mittelbraun, die Augenfarbe variierte. Ihr Mörder tötete nicht wieder und wieder die gleiche Frau, favorisierte aber definitiv einen bestimmten Typ. Alle dreizehn Opfer waren wie ein Gemälde inszeniert worden, bei allen war eine Postkarte hinterlassen worden, die das Bild zeigte, das er nachgestellt hatte.
Memphis Bemerkungen von vor wenigen Minuten faszinierte Baldwin. Il Macellaio hatte am Love-Hill-Tatort seine Vorstellung des Gemäldes komplett durchgestaltet. Er hatte das Opfer nicht nur in einem inszenierten Rahmen hinterlassen, sondern in der Nähe des tatsächlichen Gemäldes. Er entwickelte sich, zeichnete die ausgefeiltesten lebendigen Bilder. Es war mehr als nur ein Mord, mehr, als Sex mit den Leichen zu haben. Er baute die Tatorte anders auf und öffnete sich damit der Möglichkeit, mehr Fehler zu machen.
Baldwin übergab an Charlaine und ließ sie die Unterschiede erklären, die Ausnahmen, die hervorstachen. In Italien waren die ersten Opfer verhungert, während die späteren stranguliert worden waren. In London waren alle Opfer erwürgt worden. Der Zeitrahmen in Italien war im Vergleich zu London nahezu entspannt. Zehn Frauen in zehn Jahren gegenüber drei Frauen in drei Monaten. Der Opfertyp hatte sich auch verändert. Bei den italienischen Frauen handelte es sich um Studentinnen – schüchterne, stille Mädchen, die nur wenige Freunde hatten und nicht so schnell vermisst würden. In London und in Nashville waren die Opfer Prostituierte, arbeiteten also in einem sehr gefährdeten Beruf, in dem man ihr Verschwinden auch nicht so schnell melden würde.
Die Ablageorte in London waren besonders bemerkenswert: Alle Leichen waren in der Öffentlichkeit gefunden worden, wohingegen die italienischen Opfer in den Florenz umgebenden Hügeln abgelegt worden waren, ganz im Stil von Il Mostro, dem berüchtigtsten Serienmörder Florenz’. Die Londoner Frauen waren viel schneller gefunden worden als die italienischen. Die Opfer aus Nashville waren an Plätzen hinterlassen worden, die den Schockfaktor bei ihrem Auffinden noch einmal erhöhten. Das war noch eine weitere Diskrepanz.
Ehrlich gesagt, hätten sie nicht den DNA-Treffer, würde er glauben, es handle sich um einen Nachahmungstäter.
Das wiederum hatte seine Gedanken auf einen vollkommen anderen Weg gebracht. Ja, der Pretender hatte angerufen und sie gleich von Anfang an wissen lassen, dass er mit dem Verbrechen am Love Circle nichts zu tun hatte. Aber was, wenn er log? Diese Möglichkeit musste er im Hinterkopf behalten.
Der Pretender hätte die DNA in London platzieren können. Und sollten alle DNA-Spuren aus Tennessee auch übereinstimmen … nun ja, sie wussten, dass er hier gewesen war.
Obwohl sich die Verbrechen nicht nach dem Pretender anfühlten. All die Morde, die er bisher kopiert hatte, hatten eine Gemeinsamkeit: Blut. Er mochte Blut. Doch diese Morde hatten keines. Nein, es fühlte sich definitiv nicht nach ihm an.
Baldwin zwang seine Gedanken zurück zum Profil, zurück zu dem, was Charlaine gerade über die Londoner Morde sagte. Das Profil besagte, dass Il Macellaio in London nicht in seinem eigenen Zuhause wohnte – er hatte sich ein Apartment gemietet oder in einem Hotel einquartiert. Er war zu Besuch. Was bedeutete, das Profil musste auch in anderen Ländern verbreitet werden, damit dort nach ungelösten Mordfällen gesucht werden konnte, die diesen hier ähnelten. Es war nicht ungewöhnlich für einen Serienmörder, herumzureisen, aber es war ungewöhnlich, dass er von Land zu Land zog. Wenn ihr Mörder ein Reisender war, würde er irgendwie im System gespeichert sein.
Bislang hatten sie immer noch nicht herausgefunden, was Il Macellaio von Italien nach England und schließlich in die USA gebracht hatte. Auftrags- oder Projektarbeiten würden zu diesem Muster passen.
Die zweite Kriteriengruppe, das Entführungsumfeld, zeigte, dass alle Londoner Opfer von der Straße, die Italienerinnen jedoch von Orten entführt wurden, an denen sie sich sicher gefühlt hatten; hauptsächlich ihr Zuhause. Auch hier bot der Beruf der Londoner Frauen vielleicht eine Erklärung – als Prostituierte waren sie eher geneigt, zu einem Fremden ins Auto zu steigen.
Der dritte Abschnitt des Profils beschäftigte sich damit, ob sie es mit einem organisierten oder einem desorganisierten Mörder zu tun hatten. Das war eine der leichtesten Kategorien für Baldwins Team. Il Macellaio war ganz eindeutig ein organisierter Angreifer, der seine bevorzugte Waffe mit sich brachte, alle Einzelheiten genau plante, außerhalb seiner unmittelbaren Nachbarschaft auf die Jagd ging und höchstwahrscheinlich ein freundlicher, umgänglicher, angenehmer Mann war, der Freunde hatte. Der Junge von nebenan. Jemand, bei dem es die Leute schockieren würde, herauszufinden, dass er ein Killer ist. Er konnte sich problemlos unter Leuten bewegen.
Die Einschätzung des Täters war das Herzstück des Profils. Sie enthielt unter anderem eine weitergehende Beurteilung der Opfer und klärte die Frage, ob sie gezielt als Person oder repräsentativ für einen bestimmten Typen ausgewählt worden waren. Baldwin spürte, dass Il Macellaio diese beiden Elemente mischte: Er hatte es gezielt auf Frauen abgesehen, die ihm helfen konnten, seine detailliert ausgearbeiteten Fantasien auszuleben, nämlich Sex mit ihren Leichen zu haben. Er war sicher, dass Il Macellaio während seiner Jugend mit dem Tod zu tun gehabt hatte.
Der letzte Teil des Profils enthielt spezielle Vorschläge, worauf zu achten war, mit welchem Verhalten man rechnen konnte, welcher Grad an Perfektion zu erwarten war, welche Motive dem allem zugrunde liegen können. Kurz, alles, was eine Strafverfolgungsbehörde benötigte, um diesen speziellen Mörder zu fangen, zu befragen und schließlich anzuklagen.
Am Ende hatten sie ein außergewöhnlich klares Bild ihres Mörders. Beweise, Instinkt und jahrelange Ermittlungserfahrung hatten ihnen verraten, nach was für einem Mann sie Ausschau halten mussten.
Sie waren bereit, den Jäger zu jagen.