20. KAPITEL

Die Sonne verschwand und wurde von einem tintengrauen Nebel ersetzt. Der Wald dämpfte die Geräusche des herannahenden Sturms; der Nieselregen errichtete eine Barriere, die sie von dem Rest der Welt trennte. Taylor steckte ihre Hände in die Taschen ihrer Jeans und seufzte. Im Freien liegende Tatorte waren einfach nur nervig. Man wusste nie, was wichtig war, und musste alles dokumentieren und einsammeln, sogar den kleinsten umgeknickten Grashalm. Tim hatte einen Berg brauner Papiertüten in seinem Van. Die Spurensicherung hatte eine lange Nacht vor sich.

Auf dem Weg tat sich etwas. Gut, Baldwin war da.

Er und der Brite kamen um die Ecke und eilten an Taylors Seite. Sie stellte Highsmythe den Anwesenden vor. Sie beeilte sich, weil sie merkte, dass Baldwin unruhig war und endlich loslegen wollte.

„Wo ist die Leiche?“, fragte er auch prompt.

Taylor zeigte zum Bach. „Da unten. Wir sind so weit, sie herauszuholen. Komm, ich bring dich hin.“

Sie kletterten das Ufer hinunter. Taylor ging voran. Fünf Meter von der Leiche entfernt blieb sie stehen.

Beide Männer sprachen gleichzeitig: „Ophelia.“

Taylor nickte.

Memphis beugte sich vor, um besser sehen zu können. „Es neigt ein Weidenbaum sich übern Bach, und zeigt im klaren Strom sein graues Laub, mit welchem sie fantastisch Kränze wand von Hahnfuß, Nesseln, Maßlieb, Kuckucksblumen, die dreiste Schäfer derber wohl benennen, doch unsre Mädchen Toten-Mannes-Finger.“

Über seine Schulter warf er Taylor einen Blick zu.

„Sie zitieren Hamlet?“, fragte sie.

Er errötete. „Ich war nicht gut genug, Hamlet zu spielen. Ich habe die Königin zitiert. Es ist Gertruds Monolog an Laertes, nachdem Ophelia ertrunken aufgefunden wurde.“ Er lächelte Taylor an, und sie musste das Lächeln einfach erwidern.

„Sie kennen Ihren Shakespeare“, sagte sie.

„Oh, das ist nichts. Ich habe Laertes ein paarmal gespielt, in der Theater-AG und so. Das waren meine Jahre, in denen ich nach meinem Platz im Leben gesucht habe.“

„Ich bin trotzdem beeindruckt, dass Sie es noch auswendig können. Ich kann mir so etwas nie merken. Sie und Baldwin müssen zusammen einen Mordsspaß haben.“

Ihr Blick ging zu Baldwin, der näher trat und eine Hand leicht auf Taylors Rücken legte.

„Ich unterbreche nur ungern, aber können wir uns wieder dem Opfer zuwenden?“

„Oh, natürlich. Ich sagte ja, es sieht aus wie das Ertrinken der Ophelia. Es muss da draußen Hunderte Versionen davon geben.“

„Es war ohne Zweifel das Lieblingsmotiv vieler Renaissancemaler. Ich dachte, ihr wolltet nach Manchester?“

„Wir waren auch schon auf dem Weg. Kurz vor Murfreesboro sind wir zurückgerufen worden.“

Baldwin tippte mit dem Finger gegen ihren unteren Rücken. „Ich habe mich geirrt. Ich hätte nicht gedacht, dass er so schnell wieder zuschlägt.“

„Das passiert“, sagte Memphis. „Wir haben uns wegen Il Macellaio schon oft verrannt.“

Baldwin warf ihm einen Blick zu. „Trotzdem. Zwei Frauen in zwei Tagen. Es eskaliert. Wir müssen ihn sofort aufhalten.“

Sie kletterten den Abhang wieder hinauf. Highsmythe entschuldigte sich und wanderte ein wenig herum. Als er ungefähr zwanzig Meter entfernt war, hielt er inne und starrte auf den See hinaus. Taylor und Baldwin beobachteten ihn einen Moment lang.

„Ich erkenne diesen Blick“, sagte Taylor und zeigte auf den Briten. „Er wird gleich mit einer brillanten Idee aufwarten.“

„Oh, du kannst schon seine Stimmungen lesen, was?“

„Baldwin, hör auf damit.“

Er fasste sie zärtlich am Kinn und schaute ihr tief in die Augen.

„Vergiss nur eines nicht.“

„Und das wäre?“

„In der Schulaufführung war ich Hamlet.“

Sie hatten die Leiche aus dem Wasser geholt und für den Transport zu Sam in die Rechtsmedizin vorbereitet, als es heftig anfing zu regnen. Das einzige Geräusch war das Prasseln der Regentropfen auf die Blätter, das nasse Klatschen der Wellen ans Ufer und ein unterdrückter Fluch, als die Türen des Leichenwagens zugeschlagen wurden.

Baldwin und Highsmythe hatten Fotos gemacht und waren dann zurück in Baldwins Büro gefahren, um das Profil zu ergänzen.

Taylor und McKenzie standen bei den aufgewühlten Rangern, die sich um ihre Sicherheit sorgten. Kilkowski zitterte immer noch. Harkins versuchte, sie zu trösten, scheiterte aber kläglich.

„Sollten wir den Park geschlossen halten?“, fragte er.

„Ich denke, es ist in Ordnung, ihn wieder zu öffnen, aber sperren Sie diesen Teil des Weges ab, um mögliche Gaffer davon abzuhalten, den Tatort zu zertrampeln.“

„Okay. Robin, jetzt holen wir dir erst einmal etwas Warmes zu trinken. Eine gute Tasse Tee sollte helfen.“ Der Parkmanager schüttelte Taylor und McKenzie die Hand. Taylor merkte, dass er auch nicht so selbstsicher war, wie er tat, aber mehr konnte sie im Moment nicht für ihn tun.

McKenzie schaute ihnen hinterher. „Die Kopien der Überwachungsbänder sind in einer Minute fertig. Hoffentlich können wir einen Zeitrahmen feststellen, in dem der Mörder hier gewesen ist. Harkins hat mir ihre Sicherheitsvorkehrungen erklärt, aber die sind hauptsächlich darauf ausgerichtet, Wilderer abzuhalten.“

„Haben sie dir was über die Strömung sagen können? Wo die Leiche ungefähr ins Wasser gelegt worden ist?“

„Ich denke, er hat sie genau dort hineingelegt. Du hast gesagt, es sieht genauso aus wie im Gemälde, ja? Ich wette, er hätte es nicht riskiert, dass sein Arrangement hätte zerstört werden können.“

Taylor drehte sich einmal um die eigene Achse. McKenzie hatte recht. Sie waren nah genug am westlichen Parkplatz, sodass der Mörder mit der Leiche über der Schulter zu dem Fundort hätte laufen können. Die Bänder würden helfen, wenn er dumm genug gewesen war, sich von den Kameras erwischen zu lassen. Aber irgendwie bezweifelte Taylor, dass dieser Kerl so unvorsichtig war.

Zwei Leichen in drei Tagen. Der Junge wurde hektisch. Sie versuchte, nachzurechnen – Allegra Johnson war drei Wochen vermisst worden. Sie hatten keine Ahnung, wer dieses neue Opfer war oder wie lange sie schon verschwunden war. Aber mit zwei Leichen, die in so geringem zeitlichem Abstand abgelegt wurden, fragte sie sich, ob er sie beide gleichzeitig gehabt hatte. Mein Gott.

Sie würde es erst wissen, wenn Sam das Mädchen genau untersucht hatte.

Auf dem Rückweg zum Auto sahen sie einen Übertragungswagen von Channel Five auf den Parkplatz einbiegen.

„Mist. Halt sie ein wenig auf“, sagte sie zu McKenzie. Sie schlüpfte ins Auto und rief Rowena an, um sie zu bitten, nach dem Fax aus New York zu sehen. Leider war noch nichts angekommen. Sie fragte, ob Elm da sei. Rowena schnaubte nur und bat sie, dranzubleiben. Ein Klicken, dann klingelte es in der Leitung. Kurz darauf nahm Elm ab.

„Lieutenant, hier ist Jackson. Ich bin am Radnor Lake an einem …“

„Wo sind Sie?“

„Am Radnor Lake. Es ist …“

„Das meinte ich nicht, Detective. Wieso haben Sie heute noch nicht eingecheckt?“

„Äh, Sir, Detective McKenzie und ich waren auf dem Weg nach Manchester, um uns dort die offenen Mordfälle anzuschauen, als wir den Anruf erhielten, uns hier am Tatort zu melden.“

„Es ist vollkommen unangemessen, Ihren Tag irgendwo anders als in diesem Büro zu beginnen. Haben Sie das verstanden?“

Taylor schluckte ihre Erwiderung hinunter; zu gerne hätte sie Elm gesagt, wohin er sich diese Anweisung stecken konnte. Stattdessen sagte sie einfach nur: „Ja.“

„Das ist alles.“ Elm legte einfach auf.

Taylor schaute ihr Telefon an, als wenn es ihr die Antworten geben könnte, nach denen sie suchte. Dann klappte sie es zu und schob es in ihre Tasche. Sie musste wegen Elm irgendetwas unternehmen, und zwar schnell. Dieser administrative Bullshit würde noch dafür sorgen, dass jemand umgebracht wurde. Vermutlich Elm. Von ihr.

Channel Four hatte sich inzwischen zu Channel Five gesellt, und auch der Übertragungswagen von Channel Seventeen bog gerade auf den Parkplatz ein. Die dazugehörigen Reporter purzelten wie Welpen aus den Türen, zogen sich im Gehen Regensachen über und öffneten Golfschirme. Dem musste Taylor schnell ein Ende setzen. Sie wusste, was die Presse von Nashville aus einer Story machen konnte. Sie entschied sich, ihnen zuvorzukommen.

Sie stieg aus dem Auto. McKenzie lehnte am Kofferraum und ignorierte den Regen, der ihm über sein Gesicht lief. Genau wie die unzähligen Fragen, die von den Reportern auf ihn einstürmten. Gut. Der Junge lernte schnell. Taylor öffnete einen Regenschirm und ging zu ihm. Er nickte anerkennend. Die Nachrichtenteams waren noch dabei, aufzubauen, die Kameras liefen noch nicht. Perfekt.

Die Reporter sahen, dass sie mit ihnen sprechen würde, und fingen an, sich zu ihr vorzukämpfen. Eigentlich sollte sie das nicht genießen, aber sie tat es. Vermutlich würde sie sowieso in der Hölle landen.

„Hey Scott, Cindy. Hey Cynthia. Hört mal, ich habe kein vorbereitetes Statement. Aber ich kann euch Folgendes sagen: Eine noch nicht identifizierte schwarze Frau ohne offensichtliche Verletzungen wurde treibend im Otter Creek gefunden, gleich neben dem See. Wir können noch nicht sagen, ob es sich um Mord oder Selbstmord handelt. Wir wissen nicht, wer sie ist, und wir kennen auch die Todesursache noch nicht. Ich werde dafür sorgen, dass Dan Franklin euch informiert, sobald es etwas Neues gibt. Okay?“

Die drei Reporter fingen an, sie mit Fragen zu bombardieren. Die einzig interessante Frage kam von Cindy Carter, der Nachrichtenfrau von Fox. „Steht dieses Verbrechen irgendwie in Verbindung mit dem Tatort am Love Circle? Wir haben zwei tote Mädchen in zwei Tagen, beide schwarz. Ist hier etwa ein Serienmörder am Werk?“

„Kein Kommentar. Ernsthaft, es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass diese beiden Verbrechen miteinander in Verbindung stehen.“

„Was sagt dein Bauchgefühl? Ist das das Werk des Dirigenten?“, wollte Scott wissen.

„Ich habe vor langer Zeit gelernt, meine Gefühle nicht mit euch zu diskutieren, mein Freund. Aber ein netter Versuch.“ Sie sah, dass Cynthia Williams sich entfernte; ihr Kameramann hatte einen der Parkranger im Sucher. Taylor hatte ihnen genug gegeben, den Rest sollten sie sich zusammenspekulieren.

Sie ignorierte alle weiteren Fragen und ging. Solange Tim noch Beweise sammelte, würden die Fernsehteams keinen Zutritt zum Fundort der Leiche haben, und der einzige Platz, von wo aus man etwas sehen konnte, gewährte keine allzu vielversprechenden Einblicke. Es war an der Zeit, weiterzumachen.

Sie und McKenzie schüttelten den Regen ab und stiegen in den Wagen. Sie mussten nach Manchester. Taylor wollte die Akten jetzt unbedingt sehen.

Als sie die I-24 erreicht hatten, hörte der Regen auf.

Sie fuhren wieder in südliche Richtung, und Taylor stellte McKenzie eine Frage.

„Erzähl mir von den Unterschieden an den beiden Tatorten, damit wir uns mit frischem, klarem Kopf die Fälle in Manchester anschauen können.“

„Okay, am Radnor Lake spielte keine Musik. Das Mädchen war angezogen, nicht nackt wie Allegra. Es gab keine offensichtlichen Anzeichen eines Traumas beim Seemädchen, aber wer weiß schon, was sich unter dem Kleid verbirgt.“

„Und die Ähnlichkeiten?“

„Schwarz, knochendürr, gestellte Szenerie. Die Todesursache wäre hilfreich zu wissen, denn falls sie verhungert ist, hätten wir etwas, womit wir weitermachen könnten. Sie hielt diese Blumen … mit den Veilchen um ihren Hals erscheint es mir, als wenn die Blumen für ihn eine Bedeutung haben. Es erscheint mir sanfter als der Love-Circle-Mord, ernsthafter. Aber es fühlt sich definitiv wie derselbe Mörder an, findest du nicht?“

„Ja, das finde ich auch. Warum, glaubst du, hat er seinen Modus Operandi geändert?“

„Vielleicht, weil er denkt, er wäre klüger als wir? Er will als kriminelles Superhirn angesehen werden.“ Er schwieg einen Moment. „Also glaubst du, dass er zu uns spricht?“

„Auf jeden Fall. Er will den Ruhm, er will als klug und wichtig wahrgenommen werden. Er spielt mit uns. Am ersten Tatort hat er Allegra wie ein Picasso-Gemälde arrangiert. Dieses Mal sieht es aus wie eine Variante der ertrinkenden Ophelia, aber es zu einem bestimmten Künstler zurückzuverfolgen, wird schwierig. Viele, viele Maler haben Shakespeare interpretiert.“

Sie fuhren fort, ihre Eindrücke zu vergleichen, bis sie an die Ausfahrt nach Manchester kamen. Taylor bog rechts ab und fuhr in die kleine Stadt hinein. Vielleicht erwartete sie hier ein handfester Hinweis.

Coffee County war nach dem Südstaatengeneral John Coffee benannt, einem guten Freund von Andrew Jackson und ein Held des Krieges von 1812. Hier unten war man immer noch stolz auf die Rolle, die Tennessee beim Aufbau der Nation geleistet hatte. Sie nannten den Bürgerkrieg die „letzte Unannehmlichkeit“, und an den Fahnenmasten wehten fröhlich die Flaggen der Konföderierten. Die meisten Einwohner hier unten waren einfaches Landvolk; hart arbeitende Menschen, die ihre Vergangenheit so annahmen, wie sie war. Die Geschichte kann nicht rückgängig gemacht werden, egal, wer durch sie verletzt worden war.

Das Sheriffbüro von Coffee County lag in Hillsboro, nur gute fünf Minuten vom Highway entfernt. Taylor war seit Jahren nicht mehr hier gewesen; nicht seit dem Schulausflug, um im nahegelegenen Tullahoma eine Flugshow zu besuchen. Jetzt war Manchester weltberühmt als Gastgeber des Hippiefestivals „Bonnaroo“, eines jährlich stattfindenden Pseudo-Woodstocks.

Es war keine reiche Gegend. Aber sie war sauber und sicher. Meistens.

Im Büro des Sheriffs war es still und kühl. Eine Rezeptionistin rief nach Sheriff Simmons, der breit lächelnd nach vorne kam und sie mit einem kräftigen Händedruck begrüßte. Taylor hatte Angst, er würde ihr den Arm abreißen. Er war ein Bär von einem Mann mit breiten Schultern und einem ordentlichen Bauch. Ein ehemaliger Verteidiger beim Football, schätzte sie. Er war gebaut wie ein Haus. Und noch sehr jung, vielleicht so alt wie sie, vielleicht sogar noch jünger.

„Detective Jackson, Detective McKenzie! Ich danke Ihnen vielmals für Ihr Kommen. Ich habe für uns Platz in meinem Büro gemacht. Sie hatten heute Morgen einen weiteren Mord in Nashville?“

„Ja.“ Taylor folgte ihm durch den kurzen Flur. „Wieder eine schwarze Frau, sehr dünn und offensichtlich zur Schau gestellt. Jetzt bin ich natürlich doppelt gespannt darauf, was ich in Ihren Unterlagen finde.“

Er bot ihnen Stühle an und fragte, ob er ihnen etwas zu trinken bringen könne. Sie lehnten beide dankend ab. Simmons ging auf seine Seite des Schreibtischs und ließ sich schwer in einen riesigen Ledersessel sinken. Die Federn quietschten protestierend.

„Hier ist der Deal. Ich habe die Akten für Sie.“ Er winkte mit der Hand in Richtung Tisch, auf dem drei Ordner übereinanderlagen. „Aber da steht nicht viel drin. Ich habe sie alle noch einmal gelesen. Ich weiß nicht, inwieweit die Ihnen helfen werden.“

„Wir wissen es sehr zu schätzen, dass Sie das für uns tun.“ Taylor nahm die erste Akte. „Waren Sie an der Untersuchung beteiligt?“

„Aber sicher. Das war mein letzter Fall als Deputy. Direkt danach bin ich befördert worden. Aber ich werde ihn nie vergessen. Das Opfer, LaTara Bender, war mit meinem jüngeren Bruder in eine Klasse gegangen. Ich wusste, dass sie in üblen Kreisen verkehrte, aber man rechnet ja nie damit, dass die Dinge sich so schlimm entwickeln. Der Tatort war ziemlich eindeutig. Das Mädchen ist bei ihrer Mutter zu Hause in der Badewanne gefunden worden. Ihr Tod sah aus, als könnte es sowohl ein Selbstmord als auch ein versehentliches Ertrinken gewesen sein. Sie wissen schon, vielleicht war das Mädchen high, ist ohnmächtig geworden und mit dem Kopf unter Wasser gerutscht. Ihre Mutter behauptete steif und fest, dass LaTara clean war und ermordet worden sei. Nachdem wir mit der Autopsie fertig waren, sah es so aus, als hätte sie recht. Unsere Rechtsmedizinerin, eine nette Lady, die Sie sicherlich kennen, Dr. Loughley von der Forensic Medical, entdeckte eine Schädelfraktur. Wir haben ihren Tod als Mord behandelt, der allerdings immer noch ungelöst ist.“

„Also ist sie ertränkt worden?“

„Sieht so aus. Erst ein Schlag auf den Kopf, und zwar direkt auf die Krone des Kopfes. Das ist eine Verletzung, die man sich nur sehr schwer selber zufügen kann.“

„Kannte Ihr Bruder sie gut genug, dass er mit uns reden würde?“

„Da bin ich mir sicher. Es ist keine große Schule, wissen Sie. Soll ich ihn anrufen? Er ist inzwischen ebenfalls Deputy und gerade im Dienst.“

„Bitte, das wäre nett.“

Er nahm das Telefon und bat darum, dass Shay Simmons sich melden solle. Innerhalb weniger Minuten klingelte es.

„Shay, ich bin’s, Steve. Kannst du kurz in meinem Büro vorbeischauen? Ich hab ein paar Detectives aus Nashville hier, die mit dir über LaTara Bender sprechen wollen. Okay, danke.“ Er legte auf.

„Er wird in fünf Minuten hier sein.“

„Toll. Danke. Während wir warten, hab ich noch eine Frage: Was meinten Sie mit der schlechten Gesellschaft, in der LaTara sich herumtrieb?“

„Das hier ist eine kleine Stadt, Detective. Einige von ihnen wollen ausbrechen, andere versacken in Welten, die sie sich selber geschaffen haben. LaTara gehörte zu den Letzteren. Falls Sie meine Meinung wissen wollen, das Mädchen hatte nie eine Chance. Ich war nicht überrascht, sie tot aufzufinden. Wie schon gesagt, eine Weile dachte ich, es wäre ein Unfall gewesen. Als wir herausfanden, dass sie ermordet worden war … tja, es ist schwer für diese Mädchen. Sie fangen mit Drogen an und geraten dann völlig außer Kontrolle.“

„Und spielte klassische Musik, als Sie am Tatort ankamen?“

Simmons schaute sie mit gerunzelter Stirn an. „Ja, tatsächlich. Wir haben uns damals nicht viel dabei gedacht. Das war ein weiterer Streitpunkt mit der Familie. LaTaras Mutter behauptete, dass sie keine klassische Musik besitze, weil die nicht ihr Fall wäre. Und doch spielte eine klassische CD auf der Anlage in LaTaras Zimmer.“

„Wissen Sie, was es war?“

„Das müsste in der Akte stehen. Auswendig weiß ich es leider nicht mehr.“

Ein leises Klopfen ertönte. Sie alle drehten die Köpfe und schauten zur Tür. Eine jüngere Version von Simmons stand im Türrahmen. Taylor lachte innerlich. Diese mit Mais aufgepäppelten Landjungs waren einfach riesig.

„Shay, komm rein“, bat Simmons.

Der jüngere Mann trat ein und schüttelte seinem Bruder die Hand. Taylor merkte, dass die beiden sich nahestanden.

„Shay, das sind Detective Taylor Jackson und Detective Renn McKenzie. Sie ermitteln in einer Reihe von Morden in Nashville und haben ein paar Fragen zu LaTara. Kannst du ihnen sagen, an was du dich noch erinnerst?“

Der jüngere Simmons nickte. „Arme LaTara. Dieses Mädchen … ein wirklich trauriger Fall. Sie ließ sich auf Drogen ein, fing an, ganze Nächte wegzubleiben. Sie ging nicht mehr in die Kirche, hörte auf, zur Schule zu kommen. Zu der Zeit, als wir unseren Abschluss machten, hatte sie schon angefangen, anzuschaffen. Sie hatte ein schweres Leben – ihr Onkel hat sie vergewaltigt, als sie sieben oder acht war, und sie hat gegen ihn aussagen müssen. Zwar nicht persönlich, sondern auf Video, aber trotzdem, es war eine grausame Situation. Sie hat oft darüber gesprochen, wie viel Angst sie dort im Richterzimmer gehabt hatte. Sie ist nie wirklich darüber hinweggekommen.“

„Das klingt, als wenn Sie sie sehr gut gekannt haben.“

„Ich habe versucht, ihr zu helfen. In der Schule war sie eine kleine, verängstigte Maus, die Angst vor jedem Schatten hatte. Aber nachdem sie mit den Drogen angefangen hat, konnte ich nichts mehr für sie tun. Meistens nahm sie verschreibungspflichtige Sachen, die in der Schule verkauft wurden, ab und zu auch Pot und Meth. Ich bin mir sicher, dass sie zu härteren Sachen übergegangen ist, nachdem sie die Schule hingeschmissen hatte.“

Der Sheriff schaltete sich ein. „Am Tatort fanden wir ein Rezept für Methadon. Es sieht so aus, als hätte sie versucht, das Blatt noch mal zu wenden. Sie war noch nicht komplett clean, ihre Werte zeigten Spuren von Opiaten. Was zu dem passte, was wir über ihren Lebensstil wussten. Es war nur so eine verdammte Schande, dieses süße Mädchen so auf Abwege geraten zu sehen.“

„Deputy Simmons, gibt es noch etwas, was Sie uns über LaTara sagen können? Mit wem sie sich traf? Ob sie einen Freund hatte? Oder einen Zuhälter oder Dealer, an den Sie sich erinnern? Stand sie irgendjemandem nahe? Hatte sie Feinde?“

Er überlegte einen Moment. „Nein, von so was weiß ich nichts. Ich erinnere mich auch nicht, dass sie einen Freund hatte. Da war dieser dünne Kerl, der immer bei ihr herumhing. Oh, wie hieß er noch? Ich weiß es nicht mehr. Ich müsste mir das Jahrbuch ansehen. Ansonsten passierte alles heimlich. Ihre Mutter war sehr streng, das weiß ich. Sie ist an LaTaras Tod zerbrochen.“

„Wohnt ihre Mutter noch hier in der Gegend?“

„Ja. Sie lebt noch in demselben Haus, in dem LaTara gestorben ist. Gott segne sie.“ Er schaute seinen Bruder an. „Hör mal, ich muss los. Ich muss wieder auf die Straße. Bubba hält für mich die Stellung, aber er hat jetzt eigentlich Pause.“

Der Sheriff stand auf. „Dann geh. Wir sehen uns beim Abendessen. Judy macht einen Braten. Danke, dass du vorbeigeschaut hast.“ Sie klopften einander kurz auf den Rücken.

Der Sheriff zeigte auf die Akten auf seinem Tisch und sagte dann zu Taylor: „Wie auch immer, Sie müssen sich die Akten selber ansehen. Wir lassen Sie solange in Ruhe, damit Sie sich auf den Stand bringen können, und danach werde ich Ihnen jede Frage beantworten, die Sie haben. Ich habe einen alten Bekannten in der Ausnüchterungszelle sitzen, der nach Hause kann. Sagen Sie einfach Debbie Bescheid, wenn Sie mich brauchen.“

„Vielen Dank, Sheriff. Deputy Simmons.“ Sie schüttelten einander alle noch einmal die Hände, dann verließen die beiden Männer das Büro, einer von ihnen pfiff leise vor sich hin.

Taylor setzte sich wieder, zog die oberste Akte zu sich herüber und schob die zweite zur McKenzie. „Fangen wir an.“

Sie brauchten nur eine halbe Stunde, um die dürftigen Berichte durchzusehen. LaTara war von ihrer Mutter Marie Bender entdeckt worden, die den leblosen Körper ihrer Tochter angeblich aus der Wanne gezogen hatte, bevor sie den Notruf wählte. Keine Frage, die Unversehrtheit des Tatorts war gestört worden. Eine CD mit Vivaldis Vier Jahreszeiten steckte in der Anlage. Die Wiederholung war so eingestellt, dass der Winter in endloser Reihenfolge abgespielt wurde. Niemand wusste, ob das wichtig war oder nicht, also war die CD auf Fingerabdrücke untersucht und als Beweisstück aufgenommen worden. Doch allein durch die schlichte Tatsache, dass diese CD im Haushalt der Benders so fehl am Platz war, stach sie heraus. Das und dass sie zu dem vorläufig angenommenen MO vom Love Circle passte.

McKenzie tauschte schweigend mit ihr die Akten.

Nach ein paar Minuten sagte Taylor: „Es gibt nur eine Sache, die mich hier anspringt.“

„Was? Die Kopfverletzung?“

„Nein, das nicht. LaTara ist niedergeschlagen worden, daher die Schädelfraktur. Dann hat man sie in der Badewanne ertränkt. Es gab Anzeichen dafür, dass sie kürzlich erst Sex gehabt hatte, aber es sind keine Samenspuren gefunden worden. Okay, sie hat in einer Badewanne voller Wasser gelegen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie die vorgeschriebenen Untersuchungen für eine Vergewaltigung durchgeführt und nach DNA-Spuren gesucht haben. Warum sollten sie auch? Es sah ja nicht nach einem Sexualverbrechen aus. Außerdem war das Mädchen dafür bekannt, in illegale Aktivitäten verwickelt zu sein. Es war eine typische Kleinstadtermittlung gewesen. Die Autopsie war in Nashville gemacht worden, die Beweise hatte man zur Analyse an das Tennessee Bureau of Investigation weitergeleitet, und zum Großteil hatten die offensichtlichen Antworten zu dem vorliegenden Verbrechen gepasst. Man hatte sich darauf beschränkt, in der Forensik die Standarduntersuchungen durchzuführen. Der Fall ist ordentlich gehandhabt worden, ohne dass man jedoch zu einer Lösung gelangt war.“

„Also, was springt dich an?“

„Gemäß der Berichte vom Tatort wies der Teppich vor dem Badezimmer einen großen nassen Fleck auf.“

Sie ließ McKenzie einen Moment, um das zu verarbeiten. Kurz darauf sah sie, dass ihm ein Licht aufging. Sie unterdrückte ein Lächeln.

„Du glaubst, der Mörder hat sie getötet und dann aus der Badewanne gezogen, um Sex mit ihr zu haben.“

„Das ist eine Möglichkeit. Angenommen, wir haben es mit demselben Mörder zu tun, dann würde es passen. Ich weiß nicht, ob das der Fall ist. Wir müssen herausfinden, ob die Mutter ihre Tochter ins Schlafzimmer geschleppt hat oder ob sie sie nur im Bad aus der Wanne gezogen hat. Falls Letzteres der Fall ist, haben wir etwas, wo wir ansetzen können.“

Sie machte sich eine Notiz, den Sheriff danach zu fragen. Alle möglichen Ideen gingen ihr durch den Kopf. Hatten die Mutter oder ein Rettungssanitäter Wasser auf dem Teppich verschüttet? Oder war der Mörder dafür verantwortlich? Postmortaler Sex stimmte nämlich vollkommen mit dem MO ihres Mörders überein.

Simmons steckte seinen Kopf zur Tür herein. „Haben Sie alles, was Sie brauchen?“, fragte er.

Taylor nahm sich das Blatt, das sie gerade gelesen hatte. „Sie kommen gerade zur rechten Zeit. Ich habe eine Frage. Erinnern Sie sich an den nassen Teppich vor der Badezimmertür?“

„Lassen Sie mich mal sehen.“ Sie reichte ihm den Bericht. Er las ihn durch. Sein Blick verschleierte sich und er kratzte sich am Kinn, als wenn ihm das helfen würde, sich zu erinnern.

„Ja – ja, das tue ich wirklich. Es sah so aus, als wenn ihre Mutter sie aus der Badewanne gezogen hätte. Das Badezimmer ist nicht sonderlich groß, also würde ich annehmen, das Wasser aus der Wanne war bis dahin gespritzt. Zumindest dachten wir das damals. Der Fleck war ungefähr zwei Meter von der Tür entfernt, direkt rechts von LaTaras Bett. Warum fragen Sie? Hat das für Sie irgendeine Bedeutung?“

„Ich mag nicht mal daran denken, aber wenn es derselbe Mörder ist, müssen wir alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Sie haben LaTara nie auf Spermaspuren untersuchen lassen, oder?“

„Ja. Es war ja kein sexueller Übergriff, zumindest sah es zu der Zeit nicht so aus. Glauben Sie, wir haben etwas übersehen?“ Seine Stimme hatte einen misstrauischen Ton angenommen, er klang beinahe verteidigend. Taylor wollte, dass er weiter auf ihrer Seite war, deshalb wählte sie ihre folgenden Worte mit Bedacht.

„Wir nehmen an, dass unser Mörder ein Nekrosadist ist. Jemand, der Frauen tötet, um mit ihren Leichen Sex zu haben. Falls es sich hier um denselben Kerl handelt, ist es möglich, dass er LaTara getötet hat, ihre nasse Leiche dann in ihr Zimmer brachte, dort Sex mit ihr hatte und sie danach wieder in die Badewanne legte. Eines der Opfer, von denen wir wissen, hat er gewaschen, und das Mädchen heute Morgen wurde treibend in einem Fluss gefunden.“

„Ich glaube langsam, dass er einen Wasserfetisch hat“, warf McKenzie ein.

Simmons Gesichtsausdruck verriet reinen Ekel. „Er hat Sex mit Leichen? Was ist das für ein Kerl, eine Art Ted Bundy oder was?“

„Das ist möglich. Bundy hat seine Mädchen immer wieder ausgegraben und wochenlang Sex mit ihnen gehabt. Im Moment sieht es so aus, als wenn unser Mann sie innerhalb weniger Tage entsorgt. Das FBI untersucht gerade eine Reihe von Verbrechen in Übersee, die zu diesem Modus Operandi passen. Wir machen uns Sorgen, dass derselbe Mörder vielleicht hier am Werk ist. Wir brauchen allerdings noch mehr Informationen. Wir versuchen ihn aufzuspüren und herauszufinden, ob, und wenn ja, wann er mit dem Morden in Tennessee angefangen hat. In Chattanooga gab es letztes Jahr ein ähnliches Verbrechen wie dieses hier. Schwarzes Mädchen, sehr dünn, aufgefunden in ihrem Schlafzimmer, klassische Musik im Hintergrund. Ich warte auf Rückmeldung von deren Mordkommission, um zu sehen, welche Übereinstimmungen es noch gibt.“

Simmons sah immer noch entsetzt aus. Taylor versuchte, ihn wieder auf ihre Seite zu ziehen.

„Hören Sie, Ihr Bruder sagte, dass LaTaras Mutter immer noch in demselben Haus wohnt. Gibt es irgendeine Möglichkeit, dass wir mit ihr sprechen können, um zu sehen, woran sie sich noch erinnert? Wenn sie die Leiche ins Schlafzimmer gebracht hat, ist das hier eine Sackgasse. Falls nicht, besteht die Chance, dass unser Mörder an verschiedenen Orten zugeschlagen hat …“

„Sie meinen, Sie können jetzt noch was finden, drei Jahre später?“

„Es ist einen Versuch wert“, sagte McKenzie.

„Dann fahren wir am besten gleich zu ihr“, schlug Simmons vor. „Miss Maries Haus ist mit dem Auto nur fünf Minuten entfernt.“