35. KAPITEL

Am Tisch wurden Getränke bestellt, und Wills Appleby schlug vor, dass Memphis das Lager probieren solle. Memphis hatte während seines Studiums Bier getrunken, weil man das nun einmal so machte, um dazuzugehören, aber es hatte ihm nie wirklich geschmeckt. Er brachte es jedoch nicht übers Herz, zu sagen, dass er viel lieber ein Glas Cabernet nehmen würde.

Die Kellnerin brachte die Getränke, und er nahm einen Schluck von dem Lager. Und war überrascht. Er musste zugeben, dass es nicht schlecht war. Sein Handy klingelte. Pen rief an. In dem Augenblick, wo er den Anruf annahm und Pen begrüßte, betrat Taylor Jackson das Restaurant. Ihm stockte der Atem.

Sie lächelte, schüttelte Hände, ihre vollen Lippen bewegten sich, als sie um den Tisch herum ging und jeden begrüßte. Sie schüttelte auch seine Hand, und dann war sie schon wieder fort, wurde dem unglaublich riesigen Kevin Salt vorgestellt, den Memphis trotz der Tatsache, dass er zu ihm aufschauen musste, mochte. Er musste auch zu Baldwin aufschauen. Aber er und Taylor waren genau gleich groß. Er konnte nicht anders, als zu denken, was das wohl in der Horizontalen bedeuten würde.

„Memphis? Memphis!“

„Oh, Pen, tut mir leid. Ich war einen Moment lang abgelenkt.“

„Dann ist vermutlich gerade eine attraktive Frau an dir vorbeigegangen.“

„So könnte man es sagen. Also, wo waren wir?“

Pen hatte in London fieberhaft die letzten Bewegungen des Mannes namens Tommaso nachvollzogen. Memphis hörte ihr nur mit halbem Ohr zu – bislang hatten sie niemanden gefunden, der den Künstler beauftragt hatte. Sie überprüften alle Hotels nach seinem Namen. Die Ermittlungen schlossen das British Museum, die National Portrait Gallery, das Saatchi, die Tate Modern und die Tate Britain mit ein, sowie alle anderen Orte, an denen der Mann vielleicht gearbeitet hatte. Die Zeugin brachte sie bislang nicht weiter. Sie würden noch ein wenig mehr Zeit brauchen, sagte Pen. Nur ein kleines bisschen mehr Zeit.

„Okay, Pen. Ruf mich an, wenn du etwas Neues hast.“

Er legte auf und wandte sich wieder seinem Lager und seiner Suppe zu. Und der Frau, die ihm den Atem raubte.

Die Frauen aus dem Team begrüßten den Neuankömmling aus Nashville höflich. Die Machtverhältnisse im Raum hatten sich verschoben – die Frau des Chefs war da, und sie war jemand, mit dem man rechnen musste. Sowohl Charlaine Shultz als auch Pietra Dunmore behandelten sie mit Respekt. Wills Appleby begrüßte sie wie eine alte Freundin und küsste sie auf beide Wangen – natürlich kannten sie einander. Memphis war die Nähe zwischen Baldwin und Wills aufgefallen. Zwei große Geister, die einander gefunden hatten und eine gemeinsame Vergangenheit teilten. Er hatte auch solche Kumpel. Zu schade, dass sie nicht hier waren, dann würde er sich vielleicht nicht so fehl am Platz fühlen.

Er löffelte ein Stück Käse aus seiner Suppe. Alle hatten sich wieder gesetzt, und die Unterhaltung wurde in leisem Ton weitergeführt. Wenn er doch nur seine Sinne ausschalten könnte, dann wären sie alle besser dran.

Taylor bestellte sich ein Leatherhead Lager und ein Filet well-done. Memphis warf ihr hin und wieder Blicke zu, als wollte er überprüfen, ob er in Nashville eine Grenze übertreten hatte.

Sie schüttelte die Gedanken ab. Bleib mir vom Leib, Junge. Wenn sie nicht darauf einging, würde er sicher bald die Lust verlieren. Auch wenn der Gedanke daran, dass er mit einer anderen flirten könnte, einen heißen Pfeil durch ihr Herz schoss. Um sich abzulenken, ließ sie ihren Blick durch das Restaurant gleiten. Der Boden war mit einem Teppich im Schottenmuster ausgelegt, die Räume vollgestopft mit allen möglichen Erinnerungsstücken von Marine und Polizei. An den Wänden hingen Gegenstände von der Army, die Decke schmückten gestiftete Abzeichen aller möglichen Polizeidienststellen. Ihr fiel auf, dass die einzigen Frauen im Restaurant – abgesehen von den Kellnerinnen – an ihrem Tisch saßen. Interessant.

Baldwin schob seinen Salatteller von sich. „Taylor, wenn wir hier fertig sind, wird Kevin den Laptop an sich nehmen und gucken, was darauf zu finden ist.“

„Ich würde ihn sogar jetzt schon nehmen, wenn das in Ordnung ist“, sagte Kevin.

„Natürlich.“ Sie reichte ihn über den Tisch. „Das Passwort ist PUPPEN, alles in Versalien.“

Er machte sich sofort an die Arbeit. Den Laptop balancierte er auf den Knien, während seine Finger nur so über die Tasten flogen.

„Taylor, warum erzählst du in der Zwischenzeit dem Team nicht, was ihr gefunden habt?“ Baldwin lächelte sie ermutigend an.

„Natürlich, gerne.“ Sie war nicht darauf vorbereitet, eine Präsentation zu halten. Also berichtete sie nur, wie sie vorgegangen waren, angefangen beim Fund des ersten Opfers in Hugh Bangors Haus bis zu den Opfern vom Radnor Lake, aus Manchester und Chattanooga. Dann wandte sie sich den Ereignissen in Gavin Adlers Haus in Nashville zu. Wie sie ein Puzzlestück zum nächsten gefügt hatten, um ihren Mörder zu finden. Alle hörten gespannt bis zum Ende zu.

„Nach der letzten Nachricht, die ich erhalten habe, sieht es so aus, dass Kendra Kelley überleben wird.“

Charlaine schüttelte den Kopf. „Wow. Das ist eine verdammt gute Ermittlung in so kurzer Zeit. Hut ab, Detective.“

Taylor nahm das Lob mit einem Nicken entgegen. „Noch haben wir sie nicht.“

„Aber ich habe etwas“, schaltete sich Kevin ein. „Auf das Messageboard ist von verschiedenen Servern aus zugegriffen worden. Ich brauche ein wenig Zeit, um herauszufinden, von welchen genau. Aber eines steht schon mal fest: Sie stehen alle in Mittelitalien. Außerdem gibt es noch ein Mitglied in diesem privaten Chatroom, das sich Necro nennt. Ich habe ihn zu einem Ort in der Karibik zurückverfolgt. Er spricht nicht mit IlMorte69, was der Nickname von Tommaso ist, sondern nur mit Gavin Adler. Sein Nickname ist übrigens hot4cold. Stilvoller Kerl. Irgendeine Ahnung, wer dieser Necro sein könnte?“

Taylor suchte Baldwins Blick. „Das kann nicht sein.“

„Ich würde es ihm durchaus zutrauen.“

Memphis lehnte sich vor. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, Ihre Vermutung mit dem Rest der Anwesenden zu teilen?“

Baldwin nickte kaum merklich. Taylor sagte: „Letzten Monat hatten wir es in Nashville mit einem Serienmörder zu tun, der andere Verbrechen nachgeahmt hat. Er nennt sich der Pretender – und er ist uns entkommen. Einer meiner Detectives, Peter Fitzgerald, hat mich vor einigen Tagen aus Barbados angerufen und meinte, dass er dachte, ihn dort gesehen zu haben. Wenn er mit Gavin Adler kommuniziert hat, liegt es durchaus im Bereich des Möglichen, dass er Necro ist.“

„Was bedeutet, wir müssen nach weiteren Morden Ausschau halten, falls er auch Adler kopiert“, fügte Baldwin hinzu.

„Haben Sie irgendeine Ahnung, wo die sich kennengelernt haben könnten?“, wollte Memphis wissen.

Taylor schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe die Information ja auch erst seit wenigen Minuten. Wir wissen nicht, ob er es wirklich ist. Im Moment spekulieren wir nur.“

Pietra schaltete sich ein. „Detective, die DNA-Proben, die Sie eingeschickt haben, stimmen alle überein. Ich nehme an, dass es vom heutigen Tatort noch weitere geben wird, und warte außerdem immer noch auf die Sequenzierungsergebnisse von Leslie Horne. Aber bis jetzt sieht alles gut aus.“

Salt erhob sich von seinem Stuhl und drückte den Laptop an seine Brust, als hielte er einen Schatz. „Okay. Ich arbeite weiter dran. Mal sehen, ob ich die IP-Adresse noch näher zu ihrem Ursprung zurückverfolgen kann. Wenn ihr mich entschuldigen würdet? Charlaine, ich brauche deine Hilfe. Wir lassen uns unser Essen einpacken.“ Er entfernte sich vom Tisch. Charlaine entschuldigte sich ebenfalls und folgte ihm.

Die restlichen Speisen wurden gebracht. Das Steak war perfekt, und Taylor aß mit großem Appetit. Aber über dem gesamten Tisch lag eine unterschwellige Dringlichkeit, die nichts mit Hunger zu tun hatte – sie waren alle heiß darauf, sich wieder an die Arbeit zu machen.

„Okay“, sagte Baldwin schließlich. „Wills, jetzt, wo wir wissen, dass Tommaso und Gavin zusammenarbeiten, wie sollten deiner Meinung nach unsere nächsten Schritte aussehen?“

Memphis schaltete sich ein. „Wir müssen herausfinden, warum Adler adoptiert wurde und wie sein echter Name lautet. Wir müssen nach den Eltern suchen. Falls wir die finden, haben wir die Chance, auch Tommasos echten Namen herauszufinden.“

„Das ist ein guter Plan“, sagte Wills.

„Aber Adoptionspapiere … wir brauchen Wochen, um die durchzugehen.“ Taylor war unruhig. „Ich denke, wir müssen persönlich dorthin fahren und sie live und in Farbe aufspüren, sozusagen.“

Baldwin nickte. „Dem stimme ich zu. Die Carabinieri sind gerade dabei. Aber Memphis hat recht, unser erster Schritt muss sein, die Adoptionspapiere zu finden. Wir brauchen die echten Namen.“

Memphis aß den letzten Bissen seines Steaks und widmete sich dann seinem Bier, wobei er Taylor offen musterte. Er stellte sein leeres Bierglas ab und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Also los, fahren wir ins Büro zurück. Ich glaube ich weiß, wo wir ansetzen können.“