6. KAPITEL

Nach rund drei Stunden Schlaf stand Taylor am nächsten Morgen um sieben Uhr auf, damit sie noch eine Runde laufen konnte, bevor sie ins Büro ging. Baldwin hatte ein Laufband gekauft, auf dem er seinen Stress abbaute, und sie hatte festgestellt, dass das Laufen ihr auch guttat. Vor dem heutigen Tag graute ihr. Sie konnte nur hoffen, dass der Gnom, den sie gestern Abend getroffen hatte, nicht wirklich ihr neuer Lieutenant würde.

Nach drei schnellen Meilen duschte sie, band ihre nassen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen, zog sich eine neue dunkle Jeans und ein schwarzes Kashmir-T-Shirt an und schlüpfte dann in ihre liebsten Tony-Lama-Cowboystiefel. Elm war vermutlich einer von denen, die Wert auf die Einhaltung des Dresscodes legten, aber sie sollte verdammt sein, wenn sie Stoffhosen und Pumps zur Arbeit trüge. Sie nahm an, solange ihre Waffe und ihre Marke sichtbar waren, war es ziemlich offensichtlich, dass sie nicht privat unterwegs war.

Unten schnappte sie sich eine Cola light und zog ihren schwarzen Ledermantel über. Der Sommer stand schon dicht vor der Tür, aber morgens war es immer noch frisch. Seltsames Wetter. Während sie aus der Ausfahrt zurücksetzte, überlegte sie. Sollte sie ins Büro fahren und sich Elm stellen, oder sollte sie zu Sam in die Gass Street fahren und der Autopsie ihres gestrigen Opfers beiwohnen?

Ihr Handy klingelte. Wenn man vom Teufel spricht. Sie drückte auf Annehmen und begrüßte lächelnd ihre beste Freundin.

„Howza“, sagte Sam, und Taylor lachte. Es war ein Codewort aus ihrer Schulzeit auf der Father Ryan. Howza war ihre Art, die andere wissen zu lassen, dass sie sich Ärger mit den Nonnen eingefangen hatten. Keiner wusste mehr, wie sie darauf gekommen waren, aber es hatte sich bis heute gehalten.

„Mit wem hast du Ärger?“, fragte Taylor.

„Ich, Ärger? Ich habe gehört, dass du dir Schwierigkeiten eingehandelt hast.“

Taylor stöhnte. „Was genau hast du gehört?“

„Du hast den neuen Boss zurechtgewiesen.“

„Und hättest du auch die Güte, mir zu sagen, woher du das gehört hast?“

„Dein neuer Kumpel steht bei mir in der Lobby.“

„Einfach Renn?“

Dieses Mal lachte Sam. „Einfach richtig. Er ist wegen der Autopsie hier und hat sich Sorgen gemacht, dass du von dem Neuen zusammengeschissen wirst und deshalb zu spät bist.“

„Ich bin nicht zu spät.“

„Nein, bist du nicht. Er ist zu früh. Als ich gekommen bin, hatte er bereits auf mich gewartet, und ich war schon früh. Du musst ihm ein wenig Salpeter oder so geben, damit er ein wenig ruhiger wird.“

„Beeinträchtigt das nicht seine Libido?“

„Das würde vermutlich auch nichts schaden. Ich habe das Gefühl, er ist in dich verknallt.“

Taylor verdrehte die Augen. „Großartig. Danke für die Warnung. Ich fahre noch im Büro vorbei, bevor ich zu dir komme.“

„Da fällt mir ein, du willst vielleicht lieber keine Zeitung lesen. Wie es scheint, hat dein neuer Boss den Reportern jede Menge Einzelheiten vom Tatort erzählt. Vielleicht willst du mal mit ihm darüber reden.“

„Das habe ich gestern Abend versucht. Er hat nicht zugehört.“

„Streng dich mehr an. Wir sehen uns später.“

Sam legte auf, bevor Taylor etwas erwidern konnte. Verdammt. Es war an der Zeit, dem Feind ins Auge zu sehen.

Auf den Straßen herrschte unerträglich wenig Verkehr. Was hatte sie aber auch für ein Glück. Als sie auf den Parkplatz des Criminal Justice Centers einbog, war es noch nicht einmal 8:30 Uhr.

Das CJC war eine der Konstanten in ihrem Leben. Auf die eine oder andere Weise war sie in den letzten vier Jahren mindestens fünf Mal die Woche hier gewesen. Und die neun Jahre davor war sie gekommen und gegangen, hatte Verdächtige zur Aufnahme oder Befragung gebracht, sich mit Vorgesetzten getroffen, Prüfungen abgelegt … Dreizehn Jahre ihres Lebens war das hier ihre zweite Heimat gewesen. Klobiger grauer Beton mit einer rotbraunen Backsteinfassade, der Geruch des nahen Cumberland Rivers, die Hintertür mit dem Industrieaschenbecher voller Zigarettenkippen, all das sorgte dafür, dass sie eine vertraute Ruhe überkam.

Die dramatischen Veränderungen waren ausschließlich im Inneren des Gebäudes vorgenommen worden.

Der neue Chief hatte systematisch alles dezimiert, wofür das Metro Nashville Police Department stand, was es erreicht und während der dreizehn Jahre, die sie Polizistin war, geschaffen hatte.

Die Veränderungen hatten subtil angefangen – ein neuer Vorgesetzter hier, eine Gruppenversetzung da. Taylor hatte sich keine allzu großen Gedanken darüber gemacht. Ein neuer Chief hatte sicherlich neue Pläne. Und dann hatte er angefangen, die oberen Managementpositionen mit seinen eigenen Leuten zu besetzen.

Dem war ein nahezu machiavellistischer Streich in der Administration gefolgt, bei dem viele der Detectives der Kriminalkommission auf die sechs separaten Reviere der Stadt verteilt worden waren. Indem er eingespielte Teams auseinanderriss und neue Leute hineinbrachte, sank die Aufklärungsquote der Mordkommission von sechsundachtzig Prozent auf magere einundvierzig Prozent. Doch die Dezentralisierung des Teams der Mordkommission war nur eine der großen Veränderungen in den letzten Jahren gewesen. Abfindungen und frühzeitige Pensionierungen hatten eine Schneise durch die Ränge der erfahrenen Detectives geschlagen – alle Abteilungen der Kriminalpolizei waren in Mitleidenschaft gezogen worden.

Trotz der lautstarken Proteste von Beamten aller Dienstgrade gingen die Umstrukturierungen weiter. Der neue Chief verkündete öffentlich, dass die Kriminalitätsrate drastisch sank, obwohl das in Wahrheit nur auf eine sehr kreative Auslegung der Statistiken zurückzuführen war. Eine der neuen Richtlinien, die Taylor schwer zu schaffen machte, war die neue Definition für Vergewaltigungen. Ein Angriff konnte erst dann als Vergewaltigung bezeichnet werden, wenn es eine vaginale oder anale Penetration mit dem Penis gegeben hatte. Taylor kannte einige Frauen, die gerade so mit dem Leben davongekommen waren und die von ihrem Angreifer gezwungen worden waren, ihn oral zu befriedigen, die man geschlagen und terrorisiert hatte, aber das galt neuerdings nur als sexuelle Nötigung.

Diese kleinkarierten politischen Spielchen brannten wie Feuer in ihr. Ihre Truppe war langsam, aber sicher entwaffnet worden.

Ihre eigene Welt hatte am dramatischsten von allen gelitten. Taylors Team war als das Murder Squad bekannt gewesen. Sie hatten in den alten Büros gesessen und von da die wirklich schwierigen Fälle bearbeitet. Um hier mitmachen zu können, musste man zur Crème de la Crème gehören. Als Lieutenant der Mordkommission hatte Taylor das Dezernat drei Jahre lang geleitet. Die Loyalität ihrer Männer und Frauen war unangreifbar, und sie hatten es geschafft, die Dezentralisierung zu überstehen und trotzdem weiter Verbrechen zu lösen, was ja auch ihre einzige Aufgabe war.

Aber Captain Delores Norris war die neue Leiterin des Office of Professional Accountability, und sie hasste Taylor voller Inbrunst. Sie hatten sich offen duelliert, und Taylor hatte verloren, und zwar richtig. Ihr Team war auseinandergerissen und auf andere Reviere verteilt worden, und ihren Boss, Mitchell Price, hatte man entlassen. Price kämpfte mit Zähnen und Klauen darum, seinen Job wiederzubekommen, und die Fraternal Order of Police unterstützte ihn, wo sie nur konnte. Aber die Gewerkschaft brauchte Zeit, um die Klage vorzubereiten und die Metro vor Gericht zu bringen.

Indem sie Taylor von Lincoln Ross und Marcus Wade getrennt hatte und versuchte, ihren ehemaligen Sergeant Pete Fitzgerald in den vorzeitigen Ruhestand zu zwingen, hatte Delores Norris sich den ersten Platz auf ihrer Arschlochliste gesichert. Aber Taylor zwei Ränge zurückzustufen, sie wieder zu einem Detective zu machen … Nun, Taylor focht diese Entscheidung mit allen Mitteln an, und ihr Gewerkschaftsvertreter stand ihr dabei zur Seite. Totalitarismus hatte in diesem Polizeiapparat keinen Platz und würde letztendlich ausradiert werden. Dazu bedurfte es nur eines massiven Fehlers vonseiten des Chiefs oder eines Bürgermeisters mit Eiern in der Hose und der Weitsicht, einzuräumen, dass seine Stadt auseinandergerissen wurde.

Aber in der Zwischenzeit wollte Taylor ihren Job behalten, und dazu musste sie ihrem alten Büro einen Besuch abstatten und das Spiel mitspielen. Und genau das hatte sie jetzt vor.

Sie wollte gerade ihre Karte durch den Kartenleser ziehen, als die Tür aufgestoßen wurde. Eine Gruppe junger Akademiestudenten strömte heraus und fröhlich plappernd die Treppe herunter. Einer blieb stehen und hielt ihr die Tür auf. Als der Weg endlich frei war, lächelte sie den jungen Mann an und betrat das CJC.

Sie folgte den blauen Pfeilen im Linoleumboden zu den Büros der Mordkommission. Auf den Fluren war es relativ ruhig, und binnen weniger Minuten war sie am Ziel.

Lieutenant Elm stand in der Tür zu ihrem – nein, seinem – Büro. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, seine buschigen Haare waren ordentlich gekämmt. Er begrüßte sie mit einem Lächeln, was sie vollkommen aus der Fassung brachte. Beinahe hätte sie seine Weisheitszähne gesehen, als das Lächeln immer breiter wurde; seine rosafarbene Zunge schmiegte sich eng an die unteren Zähne.

„Guten Morgen, Detective“, sagte er. Freundlich, nicht bedrohlich, entwaffnend. Taylor fiel nicht darauf herein. Alle ihre Sinne waren sofort in Alarmbereitschaft.

„Guten Morgen.“ Sie blieb vor ihm stehen, die Hände hinterm Rücken, das Rückgrat durchgedrückt. Sie wartete darauf, heruntergeputzt zu werden, doch es kam nichts.

„Kommen Sie doch bitte in mein Büro. Ich würde gerne einiges mit Ihnen besprechen.“ Er drehte sich auf dem Absatz um und betrat den winzigen Raum, der einmal ihr Büro gewesen war. Sie folgte ihm und setzte sich in den Stuhl neben der Tür. Es gab gerade ausreichend Platz, dass sie ihre Beine ausstrecken konnte. Die Spitze ihres rechten Stiefels berührte die Ecke der Tür. Elm saß hinter dem Schreibtisch. Das vernarbte Holz war vollkommen frei von jeglichem Papier, und aller anderer Kleinkram, der sich im Laufe der Zeit normalerweise so ansammelt – Stifte, Kugelschreiber, Post-its, Einlieferungsscheine, Telefonnotizen –, war sorgfältig weggeräumt worden.

Irgendetwas brachte sie dazu, an die Decke zu schauen. Solange sie sich erinnern konnte, hatte es in der Ecke über dem Fenster einen großen braunen Wasserfleck gegeben. Sie hatte die Hausmeister unzählige Male gebeten, ihn wegzumachen, doch ihre Bitte war immer auf taube Ohren gestoßen. An diesem Morgen jedoch war der Fleck verschwunden, das Deckenpanel ersetzt worden. Sie wusste nicht, ob das ein Zufall war oder ob Elm tatsächlich an einem einzigen Morgen das geglückt war, worum sie jahrelang gekämpft hatte. Zufall, entschied sie. Eine andere vernünftige Erklärung gab es nicht.

„Also, Detective. Wir haben uns gestern nicht gerade von unserer besten Seite kennengelernt. Was eine Schande ist, denn ich sehe, dass Sie eine vorbildliche Akte haben und ganz sicher in der Lage sind, Anweisungen eines Vorgesetzten anzunehmen.“ Er hielt inne und schaute sich im Zimmer um, als würde er zu einem Publikum sprechen. Dann fand sein Blick den Weg zurück zu ihr. „So eine Schande, dass Sie in letzter Zeit so viel Ärger hatten. Ich nehme an, Sie haben nicht noch weitere, äh, Überraschungen in ihrem Keller?“

Taylor schaute ihn verärgert an. „Wie bitte?“

Elm tat ihre Verärgerung mit einer Handbewegung ab. „Sie hätten eventuell erwähnen können, dass der FBI-Agent, der gestern meinen Tatort gestürmt hat, Ihr Verlobter ist.“

„Das hat nichts mit meinem Job zu tun. Dr. Baldwin ist der führende Experte auf dem Gebiet des Profilings und hat bereits in der Vergangenheit oft mit der Metro zusammengearbeitet. Und zwar mit großem Erfolg, wenn ich das hinzufügen darf.“

„Ja, das habe ich gehört. Nun fühlen Sie sich doch nicht gleich angegriffen. Ich bin ja bereit, ihn bei diesem Fall helfen zu lassen, solange er mir nicht in die Quere kommt. Kommen Sie, wir vergessen den gestrigen Abend und fangen noch einmal neu an, einverstanden?“

Er streckte ihr über den Tisch hinweg die Hand hin.

„Morty Elm. Ich bin aus New Orleans, habe dort mit dem Chief zusammengearbeitet und war nur zu gerne bereit, hier an Bord zu kommen, als diese unglückliche Situation nach Ihrer, nun, nennen wir es, Disziplinierung verlangte.“

Bevor sie die Chance hatte, etwas zu erwidern, fuhr er fort.

„Ich würde gerne ein paar grundsätzliche Regeln festlegen. Ich bin gerne über alles informiert, was meine Detectives tun, also berichten Sie regelmäßig an mich. Ich ziehe es vor, Ihre Updates zu lesen. Wenn Sie also jeden Abend einen ausführlichen Bericht über ihre Tätigkeiten des jeweiligen Tages einreichen, würde mir das meine Arbeit sehr erleichtern. Außerdem möchte ich eine komplette Übersicht, wo sie bei jedem Ihrer Fälle stehen und wie Sie planen, vorzugehen, um sie zu lösen.

Ich führe ein strenges Regiment, also erwarte ich, dass sie morgens um acht Uhr an Ihrem Schreibtisch sitzen und sich außerdem an den Dresscode halten. Jeans dulde ich bei meinen Detectives nicht. Jedes Mal, wenn Sie das Büro betreten oder verlassen, werden Sie sich ein- und austragen. Außerdem erhalten Sie eine Liste, was auf Ihrem Schreibtisch zugelassen ist und was nicht. Ich habe heute Morgen mit Detective McKenzie gesprochen; er scheint mir ein formidabler junger Mann zu sein. Sie haben entschieden mehr Erfahrung als er und ich vertraue darauf, dass Sie ihn ein wenig führen und ihm alles beibringen, was er wissen muss.“

„Natürlich.“

„Dann verstehen wir einander. Keine Überraschungen mehr an Tatorten, Detective. Das ist für den Augenblick alles. Ich erwarte den Statusbericht bis um siebzehn Uhr. Sie können jetzt gehen.“

Sie hatte Schwierigkeiten, den Mann mit seinen Worten in Übereinstimmung zu bringen. Lächelnd und freundlich heute Morgen, mit durchaus vernünftigen Ansagen, und doch mit seltsamen Anspielungen nur so um sich werfend. Die Bemerkungen bezüglich der Videofilme waren vollkommen unangebracht gewesen. Sie konnte sich richtig vorstellen, wie Elm und Delores Norris gemeinsam in ihrem verdunkelten Büro saßen, und sich Taylor in all ihrer Pracht mit ihrem toten Exliebhaber anschauten. Sie wusste nicht, auf wen sie am wütendsten war – auf Norris, Elm oder David Martin, der sie überhaupt erst in diese Situation gebracht hatte. Wenn er nicht bereits tot wäre, würde sie ihn jetzt am liebsten erwürgen.

Letzten Monat, nachdem die Videos von Martin und Taylor beim Sex auf einer Website aufgetaucht waren, von der man gegen Bezahlung geheim aufgenommene Amateurpornos herunterladen konnte, hatte sie ein paar Regeln gebrochen, um den Fall zu lösen. Für den Versuch, sich selber zu schützen, hatte sie sich eine Disziplinarstrafe eingehandelt.

Elms Regeln waren lächerlich. Schriftlich niedergelegte Pläne, wie sie ihre Fälle lösen wollte? Es würde mindestens zwei Wochen dauern, bis sie alle ihre Annahmen und Gedanken zu den gut vierzig offenen Fällen niedergeschrieben hätte, die sich in den letzten Wochen angesammelt hatten. Grundsätzliche Regeln zu etablieren war das eine, aber sie ohne ein Update zu dem neuesten Fall zu entlassen? Nachlässig. Genau, wie sie angenommen hatte, war Elm nicht hier, um Polizist zu sein. Er war ein reiner Verwalter. Wenigstens hatte er sich nicht wegen Baldwin quergestellt.

Sie sammelte sich. „Sie wollen keinen …“

Elm schüttelte vehement den Kopf.

„Ich sagte, Sie dürfen nun gehen. Ich habe heute Morgen andere Pflichten, die mich erwarten.“ Er schenkte ihr ein kleines wölfisches Grinsen und nickte in Richtung Tür.

Sie stand auf und biss sich auf die Lippe, um die Beleidigungen zurückzuhalten, die ihr auf der Zunge lagen.

„Schließen Sie dann bitte die Tür hinter sich“, sagte er.

Sie zog die Tür ein wenig fester als nötig ins Schloss und ging zu ihrem Schreibtisch. Auf dem lag ein Blatt Papier, farblich gekennzeichnet, einige Wörter hervorgehoben. Die Angemessenheitsliste, nahm sie an. Sie knüllte es zusammen und warf es ungelesen in den Papierkorb.

Dann ließ sie sich auf ihren Stuhl fallen, zerrte das Haarband aus ihrem Zopf, fuhr sich mit den Fingern durch die Locken und massierte sich kurz die Schläfen. Elm war unzurechnungsfähig. Eines nach dem anderen, sagte sie sich. Konzentrier dich. Konzentrier dich auf den Fall.

Wenn sie ihren alten Job zurückhaben wollte, hatte es oberste Priorität, diesen Fall zu lösen und dabei Elms Inkompetenz zu zeigen.

Sie band ihr Haar wieder zusammen, atmete tief durch, holte ein Notizbuch heraus und fing an, eine Liste zu machen. Es gab mehrere Dinge, die sie heute erledigen musste, und sie hatte nicht vor, sich von dem Krötenkönig davon abhalten zu lassen.

Die Liste war ganz einfach. Noch einmal mit der Nachbarin reden. Mit dem Hausbesitzer sprechen. Den Fall aus Manchester erneut lesen. Die ViCAP-Updates anschauen. iAFIS nach Fingerabdrücken und dem Handabdruck suchen lassen. Die Tatortberichte von den Streifenbeamten einsammeln. Die Untersuchungsakte anlegen. An Page berichten. Während sie schrieb, lösten sich ihre Gedanken langsam von Elm und wandten sich ihrem noch nicht identifizierten Opfer zu.

„Du bist ja ganz in Gedanken verloren.“

Taylor zuckte zusammen. Assistant District Attorney Page stand neben ihrem linken Ellbogen. Sie hatte sie nicht hereinkommen hören.

Verloren ist hier das Hauptwort. Wie geht es dir, Julia?“

„Ich bin neugierig, wieso du mich nicht gleich angerufen hast, nachdem du heute Morgen aufgewacht bist. Der Love-Hill-Fall? Du weißt doch, dass ich einen guten Serienmörder zum Frühstück durchaus zu schätzen weiß.“

„Jesus, sag nicht so was. Es laut auszusprechen machte es womöglich wahr.“ Taylor zeigte ihr die Liste, die sie gerade geschrieben hatte. „Ich habe mir ein paar Notizen gemacht, was heute an dem Fall zu tun ist. Du stehst quasi ganz oben, siehst du?“

„Gut. Dann bring mich doch einfach jetzt auf den neuesten Stand anstatt später.“

„Im Moment hab ich noch nicht viel. Wir haben ein paar Spuren, einige Fingerabdrücke, aber mehr werde ich erst nach der Autopsie wissen.“

„Die Presse behauptet, das ist der Anfang eines Serienmörders. Sie nennen ihn den Dirigenten. Ich will deine ehrliche Meinung. Glaubst du, dass es sich um jemanden handelt, der noch einmal zuschlagen wird?“

Taylor bemerkte, dass Pages rechtes Auge tief in der braunen Iris einen blauen Fleck hatte. Sie kannte die stellvertretende Staatsanwältin seit Jahren, wie hatte ihr das entgehen können? Sie versuchte, der Antwort auszuweichen. Page verschränkte die Arme vor der Brust, als wappne sie sich für das, was Taylor als Nächstes sagen würde.

„Ja“, sagte Taylor.

Pages kastanienfarbene Locken hüpften, als sie sich gegen Taylors Tisch lehnte. Sie war eine kleine Frau – und so an den Tisch gelehnt befand sie sich mit der sitzenden Taylor auf Augenhöhe. Neben ihr fühlte Taylor sich immer riesig.

„Ernsthaft?“

„Ernsthaft. Nach der Autopsie lasse ich eine ViCAP-Suche laufen, um zu sehen, ob wir irgendwo da draußen einen ähnlichen Fall finden. Das hier war schon ganz schön ausgeklügelt. Entweder versucht er, die Aufmerksamkeit der Presse auf sich zu ziehen, oder er will uns zeigen, wie brillant er ist. Aber der Dirigent? Wie kommen die denn auf den Namen?“

Page deutete in Richtung von Elms Büro. „Der Neue hat ihnen erzählt, dass eine CD mit klassischer Musik lief.“

Taylor schüttelte den Kopf und drückte ihren Nasenrücken mit Daumen und Zeigefinger. Verdammt. Das war ein Detail, das sie für sich behalten wollte. „Du machst Witze“, murmelte sie.

„Nein.“ Page beugte sich ein wenig weiter vor. „Geht es dir gut? Ich weiß, dass es schwer für dich ist.“

Taylor richtete sich auf und seufzte. „Süß von dir, dass du fragst. Mir geht es gut. Das hier geht auch wieder vorbei. Ich mag es, mir die Hände schmutzig zu machen. Ich habe so viel Zeit auf dieser Seite des Schreibtisches verbracht, da fühlt es sich ein wenig an, wie nach Hause zu kommen. Mir hat die investigative Seite meiner Arbeit schon immer Spaß gemacht; der administrative Kram war es, den ich nicht so mochte. Also ist das hier die beste aller gerade möglichen Welten – ich kann Spuren nachgehen, die Laufarbeit machen und den Fall hoffentlich schnell lösen. Das war ja auch der Grund, warum ich überhaupt Polizistin geworden bin. Begangenes Unrecht wiedergutmachen und so, du weißt schon.“

Page starrte Taylor einen Moment lang an, dann klopfte sie ihr auf die Schulter. „Du bist eine erstaunliche Frau, Taylor. Wir sehen uns später, ich muss zu Gericht.“

„Schließ die bösen Jungs weg, Julia. Wir zählen auf dich.“

„Pah“, sagte Page, grinste aber dabei.

Als sie weg war, schaute Taylor auf ihre Uhr. 9:30 Uhr. Perfektes Timing. Zur Rechtsmedizin würde sie fünfzehn Minuten brauchen. Sie schloss ihr Notizbuch, steckte es in ihre hintere Hosentasche und verließ das Büro. Sie hatte Page gegenüber nicht gelogen; sie verspürte tatsächlich ein gewisses nostalgisches Gefühl. Sogar als Lieutenant hatte sie es gemocht, mit ihren Leuten an vorderster Front zu stehen, sie vor Ort anzuleiten und zu führen, anstatt von ihrem Büro aus.

Und ehrlich gesagt war sie ein hervorragender Detective gewesen, was zugleich Segen und Fluch war. Wenn man seine Arbeit zu gut macht, wird man mit all dem dazugehörigen Kopfzerbrechen befördert. Sie konnte nicht bestreiten, dass sie es vermisste, das Kommando über das Morddezernat zu haben, aber sie würde es überleben. Sie war immer noch eine Polizistin, die einen Job zu erledigen hatte.

Sie suchte sich ihren Weg durch den Kaninchenbau zum Ausgang und sah links neben der Tür ein weißes Brett an der Wand – die Liste zum Ein- und Austragen ihres Kommens und Gehens. Erst wollte sie es ignorieren, dann jedoch schob sie ihren Magneten auf „Aus dem Haus“, schrieb „Rechtsmedizin“ in die Spalte neben ihrem säuberlich in Druckbuchstaben geschriebenen Namen und ging durch die Tür. Eines hatte sie während ihrer dreizehn Jahre bei der Polizei gelernt. Manchmal suchte man sich seine Schlachten selber aus.