37. KAPITEL
Schweigend fuhren sie zu viert nach Quantico. Nach ungefähr zehn Minuten hielt der Fahrer am Wachhäuschen an. Das Auto wurde überprüft, ihre Ausweise gecheckt, dann wurden sie durchgewinkt. Der Exerzierplatz wirkte vage vertraut, auch wenn Taylor wusste, dass das vermutlich den vielen Filmen, die sie gesehen hatte, und Baldwins Erzählungen zu verdanken war.
Der Wagen hielt vor einem vierstöckigen Bürogebäude.
„Ich dachte, ihr arbeitet unter Tage“, sagte sie.
„Du schaust zu viel fern. Die Büros befinden sich schon seit Jahren nicht mehr unter der Erde. Sie haben uns aus unseren Käfigen befreit.“
Wills und Memphis gingen vor, was Baldwin Gelegenheit gab, Taylors Hand zu drücken. „Wir fassen sie. Ich bin so beeindruckt von allem, was du erreicht hast. Ohne dich wären wir nicht einmal halb so nah dran“, flüsterte er.
„Danke. Ich will sie jetzt einfach nur noch kriegen.“
Innerhalb von fünf Minuten saßen sie am Tisch im Konferenzraum. Taylor hatte nicht viel Zeit, sich zu akklimatisieren, aber das machte nichts. Baldwin konnte sie herumführen, sobald der Fall gelöst war.
„Okay, Memphis, wo fangen wir an?“, fragte Baldwin.
Der Brite lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich habe in Oxford Anthropologie studiert. Wir haben alle möglichen Analysen über eineiige Zwillinge erstellt. Ich würde vermuten, wenn einer adoptiert wurde, dann der andere auch. Und ich erinnere mich an einen Artikel in einem meiner Kurse über eine Adoptionsagentur, die wegen unlauterer Praktiken geschlossen worden ist. Es handelte sich um eine Agentur aus New York. Sie haben eineiige Zwillinge getrennt vermittelt, was höchst unethisch ist.“
Jetzt erinnerte sich Baldwin auch wieder. Im Jurastudium hatten sie den Fall durchgenommen. Es war um die moralische Bewertung der Situation gegangen.
„Ich weiß, was Sie meinen. Ich kann mich nur nicht erinnern …“
„Oh, aber ich. Louise Wise. Meine Mutter heißt Louisa, daher konnte ich mir den Namen gut merken.“
„Louise Wise Services. Stimmt. Gut gemacht.“
Baldwin sah den Mann bewundernd an. Das war der beste Vorschlag des Tages.
Wills sagte: „Von Gavin Adler wissen wir den Geburtstag: 14. September 1980. Falls das stimmt, könnte das ein Anhaltspunkt sein, wo wir in den New Yorker Adoptionsregistern mit der Suche anfangen können. Andererseits wissen wir nicht, ob sie überhaupt in New York geboren worden sind. Und wer weiß, ob das Datum stimmt?“
„Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert“, erwiderte Memphis.
Baldwin schaute ihn an. „Okay“, sagte er schließlich. „Machen wir uns auf die Suche.“
Sie arbeiteten wie am Fließband. Taylor, Baldwin, Memphis und Wills. Taylor wollte lieber nicht wissen, wie, aber irgendwie hatte Kevin Salt ihnen Zugang zu den New Yorker Datenbanken verschafft. Ihre Aufgabe war es, die Krankenhausdaten nach Lebendgeburten durchzusuchen. Memphis würde die wiederum mit den Adoptionsregistern abgleichen. Baldwin telefonierte jeden Namen ab, den er im Zusammenhang mit der inzwischen geschlossenen Louise Wise Service Agentur in Verbindung bringen konnte, und gab die Ergebnisse an Wills weiter.
Taylor suchte seit einer Stunde online nach Geburten in New York zwischen 1979 und 1981, bei denen mehr als ein Kind lebend zur Welt gekommen war. Es war eine anstrengende, mühsame Arbeit. Für jedes männliche Zwillingspärchen, auf das sie stieß, musste sie eine neue Suchanfrage starten. Sie notierte die Daten von allen Mehrlingsgeburten, die sie fand, und reichte diese an Memphis weiter.
Den Computer nutzen zu müssen war Segen und Fluch zugleich. Es war einfacher, die verschiedenen Daten miteinander abzugleichen, aber langsam wurde Taylors Handgelenk lahm.
Außerdem war es so schwer zu sagen, ob sie etwas übersahen oder nicht. Am Bildschirm zu lesen war nicht gerade Taylors Stärke. Mit Papierausdrucken kam sie wesentlich besser zurecht.
Es war kurz vor drei Uhr nachts und sie machten nur wenig Fortschritte. Baldwin ging in die Küche, um noch mehr Kaffee zu kochen. Wills entschuldigte sich ebenfalls kurz.
In der Sekunde, in der die Tür hinter ihnen zufiel, sagte Memphis: „Ich glaube, ich habe hier etwas.“ Taylor hörte die Aufregung in seiner Stimme.
„Was denn?“, fragte sie.
Memphis lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und streckte sich. Sein Hemd schmiegte sich an seine Brust. Taylor zwang sich, wegzuschauen. Sie fragte sich, ob das Timing wirklich Zufall war – Baldwin geht hinaus, und Memphis findet etwas.
„Ernsthaft, Memphis, was haben Sie? Die Zeit drängt. Tick-Tack.“
Memphis warf ihr einen Blick zu. „Wissen Sie, Jackson, Sie sind wie eine Amazone.“
Sie beäugte ihn misstrauisch. Wenn Sie einen Dollar für jeden Mann bekommen würde, der diesen Satz zu ihre sagte … „Ja, wie auch immer, ich glaube nicht, dass ich mir meine rechte Brust abschneiden werde, damit ich meine Waffe schneller ziehen kann, aber danke für den Gedanken.“
Er stand auf und kam auf ihre Seite des Konferenztisches. Unwillkürlich setzte sie sich aufrechter hin. Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich sehr nah neben sie. Dann streckte er die Hand aus, um eine ihrer Haarsträhnen zu berühren. „Ich sehe es förmlich vor mir. Sie würden ein Schwert tragen, ein Breitschwert, und alle Männer auf Ihrem Weg erschlagen. Würden Sie mich auch niederschlagen, was meinen Sie?“
„Flirten Sie etwa mit mir?“ Sie stieß ein unsicheres Lachen aus und zog sich ein Stück von ihm zurück. Er war gefährlich. Süß, lustig, mit drolligem Akzent, einem knackigen Hintern, aber all das war ihr egal. Memphis Highsmythe war ein Spieler, gar keine Frage. Und das letzte Mal, als sie sich mit einem Mann eingelassen hatte, der nur nach Sex suchte, hatte sie sich verdammte Schwierigkeiten eingehandelt.
„Was haben Sie gefunden“, versuchte sie, wieder aufs Thema zurückzukommen.
„Ich habe Sie gefunden.“ Er wollte sich ihr weiter nähern, doch sie stand auf und stieß in der Eile den Stuhl um. Sie trat drei Schritte zurück und drehte sich dann zu ihm um. Er sah verwirrt aus. Sie drohte ihm mit dem Finger und fühlte sich wie eine alte Matrone.
„Hören Sie auf damit. Sofort. Weder bin ich zu haben, noch möchte ich es sein. Ich bin mit dem Mann verlobt, den Sie um Hilfe gebeten haben, um Himmels willen. Wir haben Arbeit zu erledigen. Ich weigere mich, hier zu sitzen und mich von Ihnen … was auch immer Sie da tun. Hören Sie auf damit. Verstanden?“
Er war klug genug, nicht näher zu kommen, sondern begnügte sich damit, sie misstrauisch anzuschauen, als könne sie jederzeit explodieren.
„Sie glauben, ich habe es nur auf einen kleinen Fick abgesehen, oder?“
„Kleiner Fick … oh, ich verstehe.“ Verdammte britische Offenheit. So wie er das mit seinem Akzent aussprach, klang es gar nicht so schlimm, wie es klingen sollte. Sie hätte schreien mögen. „Haben Sie nicht? Glauben Sie mir, mein Freund, ich bin nicht die Frau, die Sie wollen. Da draußen schwimmen noch genügend Fische für Sie herum. Ich bin sicher, zu Hause warten genügend Damen der feinen Londoner Gesellschaft auf Sie. Aber ich bin nicht verfügbar. Vergessen Sie das nie wieder.“ Sie atmete schwer und war ohne wirklichen Grund wütend. Meine Güte, Taylor. Warum regst du dich so auf? Er hat doch nur versucht, dich anzumachen. Ist doch nichts passiert, oder?
Memphis fing an zu lachen. Sie war versucht, einzufallen, aber beim Anblick seines selbstgefälligen Lächelns hätte sie ihn am liebsten geohrfeigt. Oder geküsst. Wow, Mädchen, wo zum Teufel kam der Gedanke denn her? Für eine Sekunde schloss sie ihre Augen und richtete sich dann kerzengerade auf.
„Woher kennt sich ein Detective der Mordkommission in Nashville mit den Damen der englischen Oberklasse aus?“, fragte Memphis.
„Ich bin auf eine Privatschule gegangen, und wir hatten eine Austauschschülerin aus London, die davon erzählt hat.“
„Wissen Sie, Sie haben mir nie auf meine Frage geantwortet. Was – abgesehen von den Komplexen wegen des großen, bösen Daddys – treibt eine Absolventin einer Nashviller Privatschule dazu, das Leben eines Detectives zu führen? Ihnen gefällt es, eine Waffe zu tragen, oder?“
„Was tut ein Viscount bei der Met?“, schoss sie zurück.
„Oh, touché. Wir haben mehr gemeinsam, als Sie denken. Beide sind wir mit dem sprichwörtlichen silbernen Löffel im Mund geboren worden.“
„Das tut überhaupt nichts zur Sache.“ Sie wurde ein wenig weicher. „Sie kennen mich nicht, Memphis. Sie wissen überhaupt nichts über mich. Und ich würde es gerne dabei belassen. Ich habe Dinge zu tun. Wir sprechen uns später.“ Sie ließ ihn allein im Konferenzraum zurück und ging zur Damentoilette, die sich auf der genau entgegensetzten Seite des Gebäudes wie Baldwins Büro befand. Ihm wollte sie jetzt weiß Gott nicht über den Weg laufen.
Sie schloss die Tür hinter sich und trat ans Waschbecken. Nachdem sie sich ein wenig Wasser ins Gesicht gespritzt hatte, umfasste sie den Rand des Beckens mit beiden Händen und schaute sich im Spiegel an. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Pupillen geweitet. Und warum? Wegen wem? Wegen irgendeines Kerls, den sie nicht kannte, den sie nicht kennenlernen wollte. Er schaute sie immer an, als wäre sie ein Steak. Dämliches blutleeres Arschloch.
Warum also reagierte sie so stark auf ihn? Sie hatte es gespürt, dieses leichte Flattern im Magen, und sie wusste, dass er es wahrgenommen hatte. Beinahe als wenn er riechen könnte, dass sie sich von ihm angezogen fühlte.
„Bah!“, schrie sie ihr Spiegelbild an. Sie ließ zu, dass er sie aufregte. Wieder einmal. Das musste aufhören.
Als sie in den Konferenzraum zurückkehrte, beugten sich alle drei Männer gerade über etwas, das auf dem Tisch lag. Baldwin drehte sich bei ihrem Eintreten zu ihr um. Sein Gesicht war eine undurchdringliche Maske, aber in seinen Augen sah sie die Aufregung aufblitzen.
„Oh, gut, dass du da bist. Memphis hat sie vielleicht gefunden.“ Memphis schaute sie an. Sie riskierte einen Blick und sah nichts Bedrohliches. Er war nicht dumm. Baldwin war in der Nähe, also benahm er sich wieder ganz neutral. Sie musste dafür sorgen, dass das so blieb. Vielleicht würden sie jetzt endlich mit ihrer Arbeit vorankommen.
„Schießt los“, sagte sie.
Memphis richtete sich auf. „Vorausgesetzt, unsere Annahme, dass wir es mit Louise Wise Services zu tun haben, ist korrekt, dann gibt es einen Eintrag von Zwillingsjungen, die am 14. Juni 1980 in Manhattan von einer Lucinda Sheppard zu Welt gebracht worden sind. Sie war mit einem Kerl namens Michael Rickards verheiratet. Sie war weiß, er war afrokaribischer Abstammung.“
„Das passt schon mal. Ist ein Grund angegeben, warum sie die Zwillinge zur Adoption freigegeben haben?“
„Das haben die Eltern gar nicht. Die Jungen sind verwaist. Lucinda hat ihren Ehemann umgebracht und sich danach das Leben genommen. Sie war paranoid-schizophren und hatte einen psychotischen Zusammenbruch.“
„Wills hat die Geschichte in den Zeitungen gefunden. Es war überall in der Presse. Die Jungen waren über vierundzwanzig Stunden mit den beiden Leichen allein in der Wohnung. Sie lagen in ihren Bettchen mit freiem Blick auf das Blutbad.“
Taylor verspürte dieses seltsame Gefühl der Bestätigung, das sie oft fühlte, wenn das Motiv eines Mörders klar wurde.
„Die armen Kinder“, sagte sie. Dann dachte sie daran, dass diese armen Kinder zu grausamen Mördern herangewachsen waren, und alles Mitgefühl schwand.
Wills blätterte durch ein paar Seiten, die er ausgedruckt hatte. „Okay, hier ist die Akte von Louise Wise über sie. Danach wollte niemand aus der direkten Verwandtschaft die Babys zu sich nehmen, weil sie gemischtrassig waren – abgesehen von ihrer unterschiedlichen Abstammung war Sheppard auch noch Jüdin. Die Jungen kamen in eine Pflegefamilie und wurden dann bald von Louise Wise übernommen. Im Alter von vier Monaten waren sie bereits vermittelt worden.“
Baldwin las über Wills Schulter mit. „Sie sind bei verschiedenen Eltern untergebracht worden. Man hat sie getrennt. Louise Wise war die jüdische Adoptionsagentur. In den Siebzigern sind ihr bahnbrechende Adoptionsvermittlungen gelungen. Sie hat nicht nur jüdische Kinder, sondern auch indianische und afroamerikanische Kinder vermittelt und Studien über die Kinder von Eltern mit Geisteskrankheiten durchgeführt. Die Jungen sind getrennt worden; etwas, das zu der damaligen Zeit nur von Louise Wise praktiziert wurde. Der leitende Psychiater bei Louise Wise behauptete, eine Familie um die Adoption von Zwillingen zu bitten sei zu viel verlangt. Heute würde man sie dafür federn und teeren, vor allem, wenn es sich um eineiige Zwillinge handelt. Aber damals wurde es als großes soziales Experiment betrachtet. Ich habe während des Medizinstudiums darüber gelesen. Es ist wirklich grausam, was sie getan haben, aber es passt zum Profil.“
„Wir wissen also, dass einer von ihnen Gavin Adler ist. Aber wer ist der andere?“, wollte Taylor wissen.
Memphis nahm Wills das Blatt aus der Hand. „Thomas Fielding. Er ist der Faszinierende von beiden. Die Jungen sind halb schwarz und halb weiß, richtig? Gavin ist in eine schwarze Familie gekommen, die nach Tennessee gezogen ist. Thomas wurde in eine weiße Familie gegeben und ist innerhalb eines Jahres nach der Adoption nach Italien gezogen. Sein Vater war Mechaniker auf der Aviano Airbase, seine Mutter war Ärztin.“
„Ärztin, hm? Das ist interessant. Also ist Thomas so nach Italien gelangt. Woher wissen wir, dass er dort geblieben ist?“
Will schüttelte den Kopf. „Wenn er immer noch da ist, wird Kevin ihn finden. Ich sage ihm eben Bescheid.“
Baldwin klopfte Memphis auf die Schulter. „Gut gemacht. Ihr alle. Nun ist es an der Zeit, dass wir ein wenig Schlaf kriegen. In drei Stunden reisen wir nach Italien ab.“