5. KAPITEL
Das Haus sah tot aus, als sie in die Einfahrt bog. Sie hatte vergessen, die Außenbeleuchtung anzumachen – sie hatte ja auch erwartet, schon vor Stunden wieder daheim zu sein. Baldwin war auf der Fahrt wieder eingeschlafen; sie hasste es, ihn wecken zu müssen, aber sie hatte keine andere Wahl. Sie schüttelte ihn sanft, und er öffnete gähnend die Augen.
„Tut mir leid, Babe. Wir müssen durch die Haustür rein. Ich habe keinen Garagentoröffner dabei, der liegt in meinem Truck. Ich hasse es, das Zivilfahrzeug mit nach Hause zu nehmen.“
„Okay, ja“, murmelte er.
Sie gingen ins Haus. Taylor hatte mal wieder vergessen, die Alarmanlage anzuschalten, und Baldwin bedachte sie mit einem strafenden Blick, nachdem er die Tür geschlossen und die Anlage scharf geschaltet hatte.
Es war schon nach drei Uhr nachts. Baldwin konnte ausschlafen, Taylor musste jedoch in ein paar Stunden aufstehen. Ihr neuer degradierter Status bedeutete, dass sie weit weniger Freiheit hatte, ihre Arbeitszeiten zu bestimmen, was für sie mit das größte Ärgernis an allem war. Sie wurde um acht Uhr morgens im Büro erwartet und musste bis drei Uhr nachmittags arbeiten, aber bisher hatte sie noch keinen einzigen Tag verbracht, der so gelaufen wäre.
Für einen Detective der Mordkommission Arbeitszeiten festzulegen, war vollkommen unsinnig. Wenn man einen Mörder nachts um Viertel vor drei fing, dann war man so lange im Dienst, bis der Tatort gesichert und der Papierkram erledigt war. Als Lieutenant hatte sie den Luxus gehabt, dass andere Leute die Arbeit taten und ihr dann Bericht erstatteten. Dieser Teil ihrer Karriere war nun erst einmal auf Eis gelegt.
Baldwin stützte sich auf ihre Schulter; er schlief beinahe im Stehen. Sie hauchte einen Kuss auf seine Lippen und schickte ihn ins Bett.
Elm. Wie um alles in der Welt hatte Mortimer es geschafft, Lieutenant zu werden? Es würde schwer werden, mit ihm klarzukommen, das sah sie so klar wie den neuen Tag. Unleidlich, gemein, wie ein schlecht gelaunter, kläffender kleiner Hund. Gehorsamsverweigerung. Ja, vielleicht hätte sie sich den letzten Kommentar ersparen sollen, aber mal ehrlich, ein wie großer Idiot konnte man wohl bitte sein? Die Officer der Metro Police erhielten unzählige Trainings. Mein Gott, sogar der amateurhafteste Forensikfan, der sein Wissen nur aus dem Fernsehen und aus Büchern hatte, würde keine solchen Anfängerfehler begehen.
Sie legte ihre Waffe und ihre Marke auf den Tresen in der Küche, löste ihren Pferdeschwanz und schüttelte ihr Haar, sodass es ihr über den Rücken wallte. Dann öffnete sie den Weinkühlschrank und nahm eine Flasche Masciarelli Montepulciano d’Abruzzo heraus. Sie goss sich ein Glas ein, stellte die Flasche ebenfalls auf den Tresen, nahm sich eine Handvoll Weintrauben aus dem Obstkorb, aß ein paar und spülte sie mit einem ordentlichen Schluck Wein hinunter. Das Licht auf dem Anrufbeantworter blinkte und zeigte ihr, dass sie vier neue Nachrichten hatte. Sie drückte auf Abspielen, stützte den linken Arm gegen die Wand, legte ihren Kopf darauf, hielt das Weinglas mit der anderen Hand und hörte zu.
Eine politische Umfrage. Löschen.
Eine Erinnerung, dass sie nächste Woche einen Zahnarzttermin hatte. Die Nachricht ließ sie stehen, nur für den Fall, dass sie es vergaß.
Baldwin. Seine tiefe Stimme füllte den Raum. Er wollte sie nur wissen lassen, dass er früh kommen würde, dass er sie liebte und vorhatte, sofort über sie herzufallen, sobald er zu Hause wäre. Tja, die Chance hatte sie wohl verpasst.
Sie spielte die Nachricht noch zwei Mal ab; ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Sie trank einen Schluck Wein und wartete auf die nächste Nachricht.
Erst Schweigen, dann Statik. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie stellte sich gerader hin. Dann eine hohe Stimme, beinahe wie ein Kind. „Nicht. Ich.“
Das Klicken, das folgte, ließ sie zusammenzucken. Ihr Herz raste.
Sie stellte ihr Weinglas auf den Tresen. Die Anruferkennung listete den letzten Anrufer als Unbekannter Name, Unbekannte Nummer auf. Sie drückte Stern neunundsechzig für einen automatischen Rückruf, aber das schnelle Piepen verriet ihr, dass das ohne die richtige Vorwahl nicht funktionierte.
Verdammt. Sie spielte die Nachricht drei Mal ab, und jedes Mal lief ihr erneut ein Schauer über den Rücken. Ein Teil von ihr wollte es nicht ernst nehmen, wollte annehmen, dass sich einfach jemand verwählt hatte. Aber ihr Instinkt war geweckt. Sie hatte die Stimme noch nie zuvor gehört, aber sie wusste genau, wer das war und was die Nachricht zu bedeuten hatte.
Er nannte sich selber der Pretender, der Thronfolger. Er war der Lehrling eines Serienmörders aus Nashville gewesen, den man unter dem Namen Schneewittchenmörder kannte. Um Schneewittchen hatte man sich gekümmert, aber der Pretender war durchs Netz geschlüpft. Ab und zu meldete er sich bei ihr. Erst letzten Monat hatte er seine Anwesenheit in Nashville kundgetan, indem er sich um eine nervtötende Bedrohung für ihre Sicherheit gekümmert hatte. Und zwar auf eine erschreckend grausame Weise. Er hatte das, was Baldwin einen „Liebesbrief“ nannte, an die Brust des toten Mannes geheftet hinterlassen.
Wie dreist, bei ihr zu Hause anzurufen. Der Pretender war nicht unvorsichtig, so viel wusste sie. Vor ein paar Monaten hatte man eine Fangschaltung bei ihr installiert, aber es brauchte mehr als einen dreisekündigen Anruf, um ihn zurückverfolgen zu können.
Die Nachricht machte sie auf zwei verschiedenen Ebenen wahnsinnig. Zum einen sorgte die simple Tatsache, dass er sie immer noch beobachtete, dafür, dass sich ihr die Zehennägel aufrollten. Er war nah genug, um von dem Leichenfund heute Abend zu wissen, und das war extrem beunruhigend.
Zum anderen hatten ihre Instinkte bezüglich des heutigen Mordes sie nicht betrogen. Die ritualisierte Pose, der Fundort, der nicht Tatort war – das alles deutete auf einen organisierten Täter hin, der so etwas schon zuvor getan hatte und es vermutlich auch wieder tun würde.
Baldwin musste davon erfahren. Nach ihrer Begegnung mit dem Angreifer, den der Pretender kurzerhand umgebracht hatte, zögerte sie nicht. Sie rannte die Treppe hinauf und warf sich aufs Bett. Baldwin zuckte zusammen.
„Ich bin nicht vollkommen weggetreten von dieser Welt, Lady. Ich dachte, du würdest nie mehr ins Bett kommen. Komm her und lass mich …“
„Er hat angerufen.“
Baldwin erstarrte in der Bewegung, seine Hand lag regungslos auf Taylors Oberschenkel. „Was?“
„Unser spezieller Freund. Er hat auf diesem Anschluss angerufen und mich wissen lassen, dass der Mord von heute Abend nicht sein Werk war.“
Mehr musste sie nicht erklären. Baldwin wusste, dass der Pretender da draußen war und nur auf eine Gelegenheit wartete, zuzuschlagen, sie in einem unbewachten Augenblick zu überrumpeln. Jeder Mord, an dem sie arbeiteten, zwang sie irgendwann, innezuhalten und an ihn zu denken. Er ließ ihre Gedanken nicht los.
Baldwins Zorn war tödlich und mit den Händen greifbar. Sie löschte jegliche Spuren seiner Müdigkeit. Je mehr er seine Stimme kontrollierte, desto verärgerter war er. Jetzt war seine Stimme so angespannt, wie Taylor sie noch nie gehört hatte. „Er hat hier angerufen.“
Sie wusste nicht, was ihr mehr Angst machte, ihre sich stetig weiterentwickelnde Beziehung zu einem Massenmörder oder die starre Wut in Baldwins Stimme.
„Ja. Zumindest nehme ich an, dass er es war. Er hat eine Nachricht hinterlassen. Sie lautet: ‚Nicht ich.‘“
Sie hörte, wie Baldwin tief einatmete, um seine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. „Hurensohn. Ich will die Nachricht selber hören.“
Gemeinsam gingen sie nach unten. „Ich würde mir keine zu großen Sorgen machen“, sagte sie. „Sie klang nicht besonders bedrohlich. Ich denke, wenn er zuschlagen wollte, wird er sich einen Mordsspaß daraus machen, seinen großen Auftritt vorzubereiten.“
„Genau davor habe ich Angst. Und lass mich das bitte selber beurteilen. Du musst aufhören, das herunterzuspielen. Er ist gefährlich.“
Er klang so besitzergreifend, so eindringlich, dass es sich anfühlte, als wäre er mitten auf der Treppe stehen geblieben und hätte seine Arme um ihren Körper geschlungen. Erstaunlich, wie beschützt sie sich alleine durch den Klang seiner Stimme fühlte. Nicht, dass sie Schutz brauchte, natürlich nicht, aber es ist nett zu wissen, dass ihr jemand den Rücken stärkte.
In der Küche spielte Baldwin die Nachricht ein paarmal ab. Dann tätigte er einen Anruf – nach Quantico, wie sie annahm, um zu hören, ob die Fangschaltung etwas ergeben hatte. Sie nahm ihren Wein und ging ins Wohnzimmer, fuhr den Laptop hoch, holte das Kabel für die Kamera und übertrug die Bilder vom Tatort am Love Hill. Sie beschäftigte sich mit Arbeit, um ihre Gedanken von der Stimme abzulenken, von dem schleichenden Terror, der in ihre Sinne eindrang. Sollte Baldwin glauben, was er wollte, sie nahm den Pretender sehr ernst. Sie träumte von ihm. Sie ertappte sich dabei, über ihre Schulter zu sehen und sich zu fragen, ob er sie beobachtete. Sie hatte ihre täglichen Abläufe ein wenig verändert, um ihn abzulenken und zu verwirren, aber wenn er ihr weiter Briefe schrieb und bei ihr zu Hause anrief, nützte das auch nichts. Er wusste immer, wo sie war. Er wusste, wann sie schlief, wann sie am verletzlichsten war. Kurz verspürte sie den Drang, vorzuschlagen, dass sie umzögen, aber das würde auch nichts ändern. Der Pretender war gerissener, als gut für ihn war.
„Verdammt“, flüsterte sie. Sie nahm einen Schluck Masciarelli und zwang ihren Magen, ruhig zu bleiben. Sie brauchte eine Ablenkung, und der Computer war jetzt bereit. Baldwin hatte direkt in ihrem Fotoprogramm einen E-Mail-Client installiert. Sie wählte um die zwanzig Bilder aus, die sie gemacht hatte, und schickte sie an ihre Arbeitsadresse, damit sie sie dort gleich morgen früh hätte.
Als die Fotos hochgeladen waren, öffnete sie die Slideshow und scrollte sie ganz langsam durch, um das Gefühl für den Tatort in ihrem Kopf noch einmal nachzuvollziehen. Die Musik. Angelsehnen. Das Buch über Picasso. Eine sehr aufwendig arrangierte Leiche.
Nicht. Ich.
Sie schüttelte die Stimme ab, zwang sie, aus ihrem Kopf zu verschwinden. Die Tatortbilder waren in Farbe, aber sie konnten trotzdem nicht die Intensität einfangen, die sie vor Ort verspürt hatte. Dieser Mörder schickte ihnen eine sehr klare Nachricht. Wenn es ihr nur gelänge, sie zu entschlüsseln, bevor er sich genötigt fühlte, es ihnen noch einmal zu sagen.
Baldwin kam und setzte sich neben sie. Er rieb ihr Bein durch die Jeans, schob dann seine Hand von unten unter den Stoff und strich mit warmen Fingern über ihren Unterschenkel. Ein Schauer überlief sie.
„Jetzt wo du wach bist … du hast die Postkarten erwähnt, die an den Macellaio-Tatorten hinterlassen worden sind? Ich habe eine Picasso-Monografie eingepackt, die auf dem Wohnzimmertisch lag. Ich werde den Hausbesitzer fragen, ob sie ihm gehört – vielleicht ist sie von unserem Verdächtigen dagelassen worden.“
„Das ist ein großartiger Gedanke.“ Er verstummte. „Tut mir leid“, sagte er.
„Was?“
„Dass ich dich nicht vor ihm beschützen kann.“
Sie seufzte. „Das tust du jedes Mal, wenn du mich anschaust, Baldwin. Und vergiss das ja nicht.“ Sie küsste ihn, und ihr Herz pochte nun auf eine weit verführerische Weise. Er öffnete den Knopf an ihrer Jeans und zog ihr das T-Shirt aus. Sie schlang ihre Arme um seinen Körper. Es dauerte nicht lange. Für sie beide war es eine ganze Weile her, und sie waren erpicht darauf, die Verbindung wiederherzustellen. Es gäbe noch ausreichend Zeit für Kerzen und Musik; im Moment wollte sie jedoch nur Baldwin in sich spüren, daran erinnert werden, dass sie lebte. Sein Bart kratzte an der Innenseite ihrer Schenkel und reizte die Haut, doch sie ließ sich von der Leidenschaft davontragen und zerkratzte Baldwin mit ihren Fingernägeln den Rücken. Die Tiefe ihrer Gefühle für ihn überraschte sie immer wieder. Sie hatte sich noch nie so total und komplett gleichzeitig voller Lust und Liebe gefühlt.
Heftig atmend sanken sie einander auf der Couch in die Arme. Baldwin schlief beinahe sofort ein, und sie versteckte ein Lächeln in seinen dunklen Haaren. Gott, es war so gut, ihn wieder zu Hause zu haben.
Sie streckte eine Hand aus und schaffte es, ihr Weinglas zu greifen. Während sie trank, diskutierte sie mit sich, ob sie hinauf in ihr Billardzimmer schleichen sollte, um eine Runde zu spielen und die Ereignisse des Abends noch einmal durchzugehen. Sie würde sowieso in ein paar Stunden aufstehen müssen. Beinahe widerwillig stellte sie das Glas beiseite und schloss die Augen. Sie ließ ihren Atem ruhiger und tiefer werden und nahm Baldwins Rhythmus auf. Morgen früh gäbe es noch ausreichend Zeit, sich mit den Monstern zu beschäftigen.