15. KAPITEL
Taylor war ganz aufgeregt. Durchbrüche waren immer eine gute Sache.
„Mr Bangor, haben Sie ein Telefonbuch?“
„Natürlich. Ich hole es eben.“
„Willst du im Buchladen anrufen?“, fragte Baldwin.
„Oh ja. Irgendeiner sollte noch geöffnet haben, es ist erst halb zehn. Mit etwas Glück hat einer der Läden Downtown das Buch auf Lager. Drück die Daumen.“
Sie nahm ihr Notizbuch heraus und schrieb den Titel des Buchs ab. Bangor brachte ihr die Gelben Seiten, und sie schlug sie bei B auf.
„Buchladen, Buchladen … okay. Borders in West End und Davis-Kidd in Green Hills sind am nächsten. Mr Bangor, was meinen Sie?“
„Rufen Sie Davis-Kidd an. Die haben eine großartige Kunstabteilung. Und bitte, nennen Sie mich doch Hugh.“
„Okay, Hugh. Dann also Davis-Kidd.“
Sie wählte die Nummer, erreichte aber nur einen Anrufbeantworter. Sie legte auf und wählte erneut. Dieses Mal wurde sie von einer barschen Stimme begrüßt.
Sie erklärte, wonach sie suchte. Der Verkäufer legte den Hörer einen Moment beiseite und kam kurz darauf wieder, um zu sagen, dass sie eine Ausgabe des Buchs da hätten und ob er es ihr zurücklegen solle.
Sie sagte ja, gab ihm ihren Namen und legte auf.
„Sollen wir?“, wandte sie sich an Baldwin.
Bangor begleitete sie zur Tür.
„Detective, darf ich Sie um einen Gefallen bitten?“, fragte er.
„Das dürfen Sie. Ob ich Ihnen den allerdings erfüllen kann, ist eine andere Geschichte.“
„Müssen Sie Detective McKenzie von Arnold erzählen?“
„Ich fürchte ja. Warum?“
Bangor schaute betrübt drein. „Oh. Das ist zu schade. Ich wollte meinen Eindruck bei ihm nicht trüben. Er schien mir ein sehr netter junger Mann zu sein.“
Es war beinahe zehn Uhr nachts, als sie endlich bei Davis-Kidd ankamen. Alle Ampeln hatten auf Rot gestanden, die Ampelanlagen auf der Hillsboro Road waren nicht richtig getaktet gewesen – ein Problem, dem die Baubehörde konstant auf der Spur war. Taylor war kurz davor, ihr Blaulicht herauszuholen, als das Signal an der Woodmont endlich grün wurde. Sie bogen zur Green Hills Mall ab und fanden einen Parkplatz direkt vor dem Buchladen. Um diese Zeit waren die meisten Besucher der Mall schon zu Hause. Es war angenehm leer.
Sie liefen eilig zur Tür und kamen gerade an, als ein Angestellter zuschließen wollte. Er schüttelte bedauernd den Kopf, doch Taylor drückte ihre Marke gegen die Scheibe, was ihn dazu brachte, die Tür doch noch einmal aufzumachen.
„Ich bin Detective Jackson. Ich habe eben wegen der Picasso-Monografien angerufen. Pablo Picassos komplettes Werk und Picasso – die frühen Jahre.“
„Oh, ja. Sicher. Folgen Sie mir. Ich habe das Komplette Werk an der Kasse liegen. Ich dachte nicht, dass Sie es noch rechtzeitig schaffen.“
Er ging hinter den Tresen. Taylor und Baldwin warteten. Und warteten. Schließlich tauchte der Kopf des Verkäufers wieder auf. Der Junge schob ihnen ein dickes Buch zu. Taylor nahm es und spürte sofort, wie ihre Begeisterung sich in Luft auflöste.
„Mist. Das ist nicht das Gleiche. Gleicher Titel, aber nicht das gleiche Buch.“
„Oh“, sagte der Verkäufer. „Das tut mir leid. Das ist das Einzige, was wir haben. Wissen Sie den Verlag, in dem das andere Buch erschienen ist? Dann könnte ich versuchen, es für Sie zu bestellen.“
„Ich weiß nur, wie es aussieht. Es gibt auch noch einen zweiten Titel.“ Sie reichte ihm ihr aufgeschlagenes Notizbuch. „Können Sie diese Bücher heraussuchen und uns einen Blick auf die Cover werfen lassen?“
Der Junge schaute auf seine Uhr. „Ja. Wir müssen uns aber beeilen. Ich muss zuschließen und meine Tochter vom Babysitter abholen. Meine Frau ist heute nicht in der Stadt, müssen Sie wissen.“
Er bedeutete ihnen, zu ihm hinter den Tresen zu kommen, dann gab er den Titel in die Datenbank ein.
Erstaunlich. Es gab mindestens zwanzig Catalogues raisonnés mit passenden Titeln. Aber auf der Hälfte der Seite sah Taylor die richtigen.
„Da“, sagte Baldwin in dem Augenblick, in dem Taylor auf den Monitor zeigte.
Der Verkäufer klickte das Cover an. „Oh. Schlechte Neuigkeiten. Die sind beide schon seit gut einem Jahr vergriffen.“
Taylor unterdrückte den Frust, der sich in ihr aufbauen wollte. „Irgendeine Idee, wo wir noch ein Exemplar bekommen könnten? Wir brauchen nur eine Seite davon. Und zwar dringend.“
Er las eine Minute etwas am Bildschirm. „Hier steht, der Herausgeber ist eine speziell auf Kunst spezialisierte Druckerei in New York. Sie ist sehr bekannt und hat einen guten Namen. Ich wette, die Kataloge wurden als Teil einer Ausstellung hergestellt. Vielleicht versuchen Sie mal, direkt mit denen Kontakt aufzunehmen oder die Museen in der Gegend anzurufen.“ Er schaute erneut auf seine Uhr. Sie verstanden den Hinweis.
Taylor schrieb sich Namen und Telefonnummer des Herausgebers auf. Bangor hatte eine der Monografien in New York gekauft, das passte also. Unglücklicherweise war es kurz nach elf Uhr abends östliche Zeit. Keine Chance, dass da noch jemand ans Telefon gehen würde. Hier war es auch schon nach zehn, sodass Borders und alle anderen Buchläden ebenfalls bereits geschlossen hatten. Sie musste eine Entscheidung treffen. Buchhändler aufscheuchen und in ihren Beständen nach einem Buch suchen, das schon mindestens seit einem Jahr vergriffen war? Oder sich eine Mütze voll dringend benötigtem Schlaf gönnen und morgen früh ganz frisch neu anfangen? Der Schlaf gewann, auch wenn Taylor ihre Enttäuschung nicht ganz verhehlen konnte.
„Das ist keine Niederlage“, versuchte Baldwin, der ihre Stimmung spürte, sie zu trösten. Das war ein ganz besonderes Talent von ihm, ihre Gedanken zu erraten. Sie wünschte, sie wäre genauso talentiert darin, seine Gefühle zu lesen. Das kommt noch mit der Zeit, sagte sie sich.
Sie lehnte sich gegen ihr Auto. „Ich dachte, wir hätten es. Wir waren so verdammt nah dran.“
„Es hat keine Eile. Ein Subjekt wie dieses wird nicht so schnell mit einer neuen Leiche auftauchen. Er lässt sich Zeit. Macht Pläne. Führt sie sorgfältig aus. Da ist nichts gehetzt. Unglücklicherweise dauert es eine Weile, bis seine Opfer den richtigen Zeitpunkt erreichen. Und er denkt, dass er keine Fehler macht. Es war verdammtes Glück, dass wir über die herausgetrennte Seite gestolpert sind. Tim Davis sollte dafür eine Gehaltserhöhung bekommen.“
„Da hast du recht. Etwas so Subtiles zu entdecken hätte uns auch Wochen oder Monate kosten können. Gut, dass Bangor was mit einem Kriminellen hatte, ansonsten hätten wir die Verbindung vielleicht nicht so schnell hergestellt. Das war ein sehr glücklicher Zufall. Und jetzt hol diesen Detective Highsmythe vom Flughafen ab, bring ihn zu seinem Hotel und komm schnell heim. Ich fahre schon mal vor und gucke mich im Internet um, wo man das Buch vielleicht sonst noch bekommen könnte.“
Er gab ihr einen zarten Kuss. „Okay. Wir treffen uns zu Hause.“
Baldwin hielt den Blick auf den Strom ankommender Passagiere geheftet, der sich aus den Tiefen des Flughafens in die Ankunftshalle ergoss, bis er die einzig mögliche Option erblickte – einen Mann, der wie ein Cop aussah. Er war kleiner als Baldwin, blond und durchtrainiert. Baldwin trat vor, um ihn zu begrüßen.
„Sie müssen Highsmythe sein.“
Der Angesprochene sah müde aus und brachte nicht einmal ein Lächeln zustande. „Ja, der bin ich. Sind Sie John Baldwin?“
„Ja.“
„Schön, Sie zu treffen, John.“
„Nennen Sie mich Baldwin, das macht jeder.“
„Okay, dann also Baldwin. Mich können Sie Memphis nennen.“
„Haben Sie Gepäck?“
Highsmythe zeigte auf sein Handgepäck. „Das ist alles.“
„Gut.“ Baldwin machte sich auf den Weg zum Ausgang, Highsmythe folgte ihm. „Ich habe Ihnen ein Zimmer im Loews Vanderbilt reserviert. Ich denke, dass es Ihnen dort gefallen wird. Ich weiß, dass Sie müde sein müssen, also lasse ich Sie da nur kurz raus. Morgen früh können wir uns dann frisch erholt ans Werk machen.“
Auf der Fahrt nach Downtown unterhielten sie sich ein wenig. Schon bald hielt Baldwin vor dem Hotel. Er begleitete Highsmythe noch hinein. Wie sich herausstellte, hatte das Hotel einen Fehler bei der Reservierung gemacht. Da es bereits nach Mitternacht war, war das Zimmer erst für den nächsten Tag reserviert. Da derzeit eine Konferenz stattfand, hatte das Hotel auch kein anderes freies Zimmer mehr, woran Baldwin auch durch das Zücken seiner FBI-Marke nichts ändern konnte. Der Manager kam heraus und bot ihnen an, sie zu einem anderen Hotel zu begleiten, in dem sie ein Upgrade bekommen würden. Aber Baldwin sah, dass Highsmythe schon beinahe im Stehen einschlief.
„Wie wäre es, wenn ich Sie mit zu mir nehme und wir Sie morgen früh hier einchecken?“, schlug er vor.
Highsmythe nickte dankbar. „Das wäre mir sehr recht. Vielen Dank.“
Sie verließen das Hotel und stiegen wieder ins Auto. Highsmythe lehnte den Kopf gegen die Fensterscheibe und schloss die Augen. Baldwin wählte Taylors Handynummer, aber sie ging nicht ran.
Er legte auf und fuhr in die Nacht hinein, durch das West End und in die im Tiefschlaf liegenden Vororte. Er hoffte, dass Taylor noch wach war, damit er sie wegen ihres Gastes vorwarnen konnte.