44. KAPITEL
Tommaso war noch nie so glücklich gewesen. So erfüllt. Gavin mit dem Mädchen zu sehen, seine ganzen kleinen Tricks zu beobachten, war etwas ganz Besonderes.
Sie lagen zusammen, sie alle drei, auf einem Haufen Decken, teilten sich ein Glas Wein und redeten. Sie gingen all ihre verrückten Gemeinsamkeiten durch, die das Gerüst ihrer Leidenschaften und Sehnsüchte bildete. Es war faszinierend, es war alles, worauf Tommaso jemals hätte hoffen können. Er war der stärkere Zwilling, das wusste er. Hatte er schon immer gewusst. Seine Studien über Zwillinge sprachen über Prägung, ein Phänomen, wo eineiige Zwillinge einen Weg finden, sich in einen Alpha- und einen Beta-Zwilling zu trennen, in einen aggressiven und einen passiven Part. Tommaso war der Erstgeborene; er war der Alphazwilling. Er war ihr Führer, Gavin war der Mitläufer. Sie waren erst seit vierundzwanzig Stunden zusammen, aber es fühlte sich an, als wäre es nie anders gewesen.
Tommaso wusste, dass er ein unangenehmes Thema zur Sprache bringen musste. Er fuhr mit dem Finger über den Rücken des Mädchens, bereitete sich innerlich vor.
„Gavin, wir müssen reden“, sagte er sanft.
Gavin nickte kaum merklich. Es schien, als wüsste er, worauf Tommaso mit seinen Worten hinauswollte, bevor sie noch seinen Mund verließen.
„Darüber, wenn wir geschnappt werden“, sagte Gavin nur. „Genau. Das hier ist seit vielen Jahren mein Rückzugsort. Aber nach dem heutigen Tag könnte er auf ihrem Radar sein. Wir müssen weiterziehen. Wir können ein Auto klauen, an die Grenze fahren. Wir können die Grenze zu Fuß an einer Stelle überqueren, an der uns niemand sehen kann. Oder noch besser, wir können an den Luganersee fahren und mit einem Boot in die Schweiz übersetzen. Es gibt nur eine Sache, die uns aufhält. Das Einzige, was wir nicht gemeinsam haben.“
Gavin schaute auf seine Hand. „Unsere Fingerabdrücke.“
„Genau. Wir müssen sie auslöschen. Das ist unabdingbar. Wenn wir jemals gefasst werden, sind sie das Einzige, an dem man uns auseinanderhalten kann. Selbst unsere Stimmen können wir einander anpassen, sodass wir gleich klingen und die Polizei nicht mehr sagen kann, wer von uns wer ist.“
„Was wollen wir wegen der Fingerabdrücke tun?“
„Wir müssen sie ausbrennen.“
Gavin setzte sich auf. Er war ganz blass. „Tut das nicht weh?“
„Ja“, gab Tommaso zu. „Aber nur für einen Augenblick. Das ist aber die einzige Lösung. Ich denke schon seit Wochen darüber nach. Ich wusste, es würde eine Zeit geben, zu der wir endlich vereint wären. Wir müssen es tun, Gavin. Nur das kann uns retten. Jetzt, wo ich dich gefunden habe, will ich nie wieder von dir getrennt sein.“
Gavin legte sich wieder hin und starrte zur Decke hinauf. „Wann?“, fragte er.
„Jetzt.“
Taylor spürte, wie sich die Anspannung in ihr breit machte. Sie kundschafteten die Hütte aus, die auf den Namen von Tommasos Vater registriert war. Ein kaum instand gehaltenes, halb verfallenes Steinhäuschen, das auf den zufällig vorbeikommenden Spaziergänger verlassen wirkte. Aber eine dünne Rauchfahne erhob sich aus dem baufälligen Schornstein und zeigte an, dass jemand daheim war.
„Das Feuer ist vor ungefähr einer Stunde entzündet worden“, flüsterte Folarni ihr zu. „Der Mann, dem das angrenzende Land gehört, hat Tommaso anhand des Fotos als jemanden identifiziert, der ab und zu hier war. Das ist nicht viel, aber vielleicht reicht es.“
„Folarni, wenn wir recht haben, küsse ich sie. Ich werde für immer in Ihrer Schuld stehen.“
Der kleine Mann errötete erfreut. „Das wird meiner Frau gar nicht gefallen, Detective.“
Sie lachte leise. Baldwin kroch zu ihnen herüber, das leistungsstarke Fernglas in der Hand.
„Es gibt kaum Bewegung im Inneren, aber ich meine, vorhin einen Schatten gesehen zu haben. Könnte auch ein Tier gewesen sein, aber ich könnte schwören, einen unterdrückten Schrei gehört zu haben.“
Folarnis Funkgerät knisterte leise an seinem Gürtel. Er hielt es ans Ohr und hörte dem geflüsterten Bericht aufmerksam zu. Dann klemmte er das Funkgerät wieder fest und nickte.
„Wir sind bereit, wenn Sie es sind, Baldwin. DI Highsmythe ist mit zwei meiner Männer hinter dem Haus. Er sagt, er sieht Bewegungen. Ich denke, es ist an der Zeit.“
„Ich auch. Wir gehen bei drei.“
Baldwin zählte rückwärts und machte sich dann auf den Weg zur Hütte. Sie hielten sich nah am Boden für den Fall, dass jemand aus dem Fenster schaute. Taylor sah zu, wie Polizisten aus allen Richtungen auf die Hütte zugingen; die Männer hatten ihre Waffen gezogen, die Wiese war bedeckt mit Sommerwicken und Polizisten. Zugriff war Zugriff, egal, welche Sprache man sprach.
Folarni hatte die Ehre, die Eingangstür einzutreten. Alle drängten in den kleinen Raum.
„Arresto, arresto! Non si muova. Polizia!“
Sofort brach Chaos aus. Taylor folgte Folarni und Baldwin durch die Vordertür. Sie erhaschte einen Blick auf die Szene vor sich. Ein Mann lag auf dem Boden – sie wusste nicht, ob er angeschossen worden war, konnte sich aber nicht erinnern, Schüsse gehört zu haben. Der beißende Geruch nach verbranntem Fleisch stieg ihr in die Nase. Sie hatte keine Ahnung, woher er stammte. Neben der Feuerstelle lag ein Haufen Lappen. Taylor sah einen kleinen Fuß herausschauen. Und da war ein Mann, der vor dem Feuer stand. Il Macellaio. Kahl rasiert und eine unglaubliche Wut ausstrahlend. Er hielt etwas in die Flammen. Es sah aus wie eine Bratpfanne.
„Smetta di muoversi!“, rief Folarni. Keine Bewegung.
Der Mann – Taylor wusste nicht, ob es Gavin oder Tommaso war – drehte sich langsam um und tat so, als wolle er seine Hände heben. Er hielt immer noch die Pfanne in der Hand. Taylor sah, dass sie rot glühte. Eine hervorragende Waffe, sollten sie versuchen, ihm näherzukommen, ohne ihn vorher außer Gefecht zu setzen. Unter dem Gebrüll von Folarni und den anderen Polizisten wandte er sich langsam vom Feuer ab, beugte sich vor und stellte die Pfanne mit der offenen Seite nach unten auf den grob behauenen Steinfußboden.
Er schaute Taylor an, schaute ihr direkt in die Augen und behielt den Augenkontakt bei, als er beide Hände auf die glühende Platte der Pfanne presste. Er schrie markerschütternd auf, doch sein Blick blieb stur auf sie gerichtet. Sie sah, dass er gleich ohnmächtig würde. Niemand konnte so einen Schmerz aushalten. Sein Gesicht war rot und verschwitzt, die Augen rollten in seinen Kopf zurück, und er brach zusammen. Das verbrannte Fleisch auf dem Pfannenboden qualmte noch. Der Mann fiel so nah neben der Pfanne zu Boden, dass sein Hemd Feuer fing.
„Aqua, aqua“, rief Folarni, aber Memphis hatte sich bereits eine offene Flasche Wein geschnappt und leerte sie über dem T-Shirt des Mannes aus. Der Wein löschte das Feuer und breitete sich wie ein Blutfleck auf dem weißen Hemd aus, bis es am Rande hinuntertropfte.
„Was zum Teufel machen die beiden da?“, fragte Memphis.
Baldwin steckte seine Waffe ein und lehnte sich gegen die mit bröckelndem Gips verputzte Wand.
„Mein Gott. Sie haben sich ihre Fingerabdrücke weggebrannt, damit wir sie nicht mehr auseinanderhalten können.“
Folarni wühlte fluchend durch den Lumpenhaufen, in dem das tote Mädchen lag. Er schlug die letzte Schicht Laken zurück, flüsterte ein Gebet über ihrem toten Körper und bekreuzigte sich.
Die Brüder waren an der gegenüberliegenden Wand zusammengesackt. Sie waren beide bewusstlos, aber einer regte sich ein wenig. Taylor unterdrückte den Drang, ihm in die Eier zu treten. Der Geruch im Raum war fürchterlich, der saure Gestank der Angst gepaart mit Urin und verbranntem Fleisch, dazu die unterschwellige Note der Verwesung. Das Mädchen war schon einige Zeit lang tot. Einer von Folarnis Männern vermutete, dass es mindestens einige Tage sein mussten. Sie gaben ihr Bestes, um herauszufinden, wer sie war.
Der Bruder, der sich geregt hatte, öffnete die Augen. Es war derjenige, der bei ihrem Eintreffen bereits verbrannt und bewusstlos gewesen war. Er nahm das Bild, das sich seinen Augen bot, in sich auf und musterte sie alle unter hängenden Lidern.
Seine Hände waren verstümmelt. Die Haut hing herunter wie Blätter an einem Baum im Winter. Er war totenbleich im Gesicht, ganz offensichtlich litt er große Schmerzen. Er schaute Taylor an, drehte den Kopf nach rechts und sah seinen bewusstlosen Bruder, dessen Hemd vom Wein ganz rot war.
Dann wandte er den Kopf wieder Taylor zu und starrte sie an.
Und fing an zu lachen.
Die Abwicklung des Tatorts kam langsam zu einem Ende. Die Italiener arbeiteten effizient und gut. Sie hatten die Brüder abtransportiert, sich um die Leiche gekümmert und führten gerade eine gründliche forensische Untersuchung des Hauses und der Umgebung durch. Tommasos Auto hatte man auch gefunden. Es war eine wahre Schatztruhe an Beweisen. Taylor beobachtet die Carabinieri und wünschte sich, sie könnte mehr tun, um zu helfen. Stattdessen beschied sie sich damit, sich Notizen für ihren eigenen Bericht zu machen. Dabei konnte sie ein Lächeln nicht unterdrücken. Sie hatten gerade einen riesigen Coup gelandet. Zwei Serienmörder, zwei Kontinente, vier Zuständigkeitsbereiche, unzählige Leben, die betroffen waren. Wenn das nicht half, ihr Ansehen bei ihren Vorgesetzten wiederherzustellen, was dann?
Memphis und Baldwin standen in einer Ecke und unterhielten sich. Memphis warf Taylor einen Blick zu. Seine blauen Augen wirkten dunkel und gefährlich, und sie spürte wieder dieses verrückte Ziehen in ihrem Magen. Sie fragte sich, worüber die Männer sich unterhielten, schob den Gedanken dann aber beiseite. Es gab im Moment Wichtigeres. Zum Beispiel, diese Ermittlung zu einem Abschluss zu bringen. Die Verdächtigen zu fassen war erst der Anfang gewesen.
Baldwin und Memphis beendeten ihre Unterhaltung. Baldwin warf ihr im Hinausgehen einen Blick zu. Memphis kam mit lässigem Schritt zu ihr herüber. Sie nickte ihm nur zu, weil sie ihn nicht zu sehr ermutigen wollte. Aber dieses Mal hatte Memphis ausnahmsweise mal etwas anderes im Sinn.
„Guter Job, Miss Jackson“, sagte er leise. „Ohne deine Erkenntnisse hätten wir sie nie geschnappt.“
Sie nahm das Kompliment anmutig an. „Es war Teamarbeit. Wir haben alle unseren Teil dazu beigetragen.“
„Gut gesagt. Unglücklicherweise sieht es so aus, als wenn unsere gemeinsame Zeit sich dem Ende neigt. Ich bin nach London zurückbeordert worden. Ich soll noch heute spätabends abreisen, aber ich versuche, ein wenig mehr Zeit herauszuschinden.“
„Oh. Kein Problem, den Rest schaffen wir hier auch alleine. Die Untersuchung fängt ja gerade erst an. Es gibt noch so viel zu tun, vor allem bezüglich der Auslieferung. Wir werden noch eine Weile bis über beide Ohren in dem Fall stecken.“
„Dessen bin ich mir wohl bewusst.“ In seinen Augen blitzte Verärgerung auf.
„Hey, nicht auf mich wütend werden. Das ist nicht meine Schuld.“
„Ich bin nicht wütend auf dich. Ich habe mehrere offene Fälle, die meiner Aufmerksamkeit bedürfen.“ Er berührte kurz ihren Arm, damit sie ihm in die Augen sah. „Und ich denke, es ist eine gute Idee, nach Hause zu fahren.“
Sie verstand genau, wovon er sprach.
„Ja. Das glaube ich auch.“ Sie räusperte sich. „Und mach dir keine Sorgen. Wir leiten dir alle Informationen weiter.“
„Danke. Und jetzt brauch ich glaube ich ein wenig frische Luft.“ Er drehte sich um und verließ die Hütte. Die Lücke, die er hinterließ, war beinahe mit den Händen greifbar und brachte Taylor zu der Frage, was genau sie eigentlich für ihn empfand.
Sie musste sich Memphis aus dem Kopf schlagen. Sie musste sich auf den Fall konzentrieren, darauf, wieder nach Hause zurückzukehren, ihre Karriere auf den richtigen Weg zu bringen, zu heiraten. Und das funktionierte am besten, wenn sie sich kopfüber in die Arbeit stürzte.