9. KAPITEL

Bevor sie aus dem Haus ging, hatte Taylor sich das Dvořák-Stück auf ihren iPod geladen. Baldwin hatte alle ihre CDs auf ihren Computer überspielt und einen Adapter für ihr Autoradio besorgt, sodass sie den Nano einfach einstecken und im Auto ihre gesamte Musik hören konnte. Es war eine umfassende, vielseitige Mischung, die sich über zwei Jahrzehnte angesammelt hatte. Sie spiegelte ihren alternativen Geschmack, enthielt aber auch viele klassische Stücke, Überbleibsel ihrer frühen Tage als Mitglied eines Orchesters. Sie spielte nicht mehr, aber die Musik liebte sie immer noch.

Als sie sich hinters Lenkrad des Zivilfahrzeugs setzte, wünschte sie sich die Lautsprecher ihres Trucks. Sie steckte die Ohrstöpsel ein, drückte auf Play und verließ Downtown Nashville für eine fünfzehnminütige Fahrt zur Rechtsmedizin. Das Stück von Dvořák war beruhigend. Sie mochte das Scherzo und spulte zu der Stelle vor. Die Eröffnung war die Erkennungsmelodie für irgendetwas, aber sie wusste nicht mehr, was. Irgendein Finanzinstitut, etwas, das schnelle TV-Spots hatte, die des mitreißenden Effekts der Musik bedurften.

Sie spulte zum Allegro vor. Die Musik für Der weiße Hai musste von diesem Stück inspiriert worden sein. Der zweitönige Herzschlag, der schneller werdende Rhythmus – John Williams war offensichtlich ein Dvořák-Fan. Es war gewaltige, schonungslose Musik. Sie fragte sich, was der Mörder sich gedacht hatte, als er dieses Stück ausgesucht hatte, dann rief sie sich selbst zur Ordnung. Sie wusste nicht, ob er es ausgesucht hatte. Sie zog ihre To-do-Liste heraus und fügte, das Notizbuch auf dem Oberschenkel balancierend und mit einer Hand das Lenkrad haltend, einen Punkt hinzu. Hausbesitzer nach der CD fragen.

Weit vor Ende des Stückes kam sie an Sams Arbeitsplatz an. Sie blieb noch ein paar Minuten im Auto sitzen und ließ das Stück zu Ende spielen. Angenommen, es war die Musikauswahl des Mörders, warum hatte er die Symphonie Aus der neuen Welt gewählt? Vielleicht war das auch eine Nachricht. Wenn das derselbe Mann war, der die Morde in Italien und England begangen hatte, was tat er dann hier in Tennessee? War das für ihn die neue Welt? Das war so ein großer Sprung, ein Serienmörder, der den Atlantik überquerte, um in ihrem Hinterhof mit einem leicht anderen Modus Operandi weiter zu töten. Das war so unwahrscheinlich, doch Baldwin war von den Bildern des Tatorts erstaunt gewesen. Die Ähnlichkeiten waren unverkennbar. Sie stöhnte laut, als ihr der nächste Gedanke kam. War es ein Nachahmungstäter?

Als wenn sie noch einen davon gebrauchen könnte.

ViCAP, ViCAP, ViCAP. Das war das Erste, was sie tun würde, nachdem die Autopsie vorbei wäre. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass da noch mehr auf sie zukam. Verdammte Julia Page und ihre Vorahnungen.

Sie ließ ihren Nano und ihre Gedanken im Auto zurück und betrat das Gebäude an der Gass Street. Unwillkürlich entfuhr ihr ein Seufzen. Die Gerüche waren so vertraut, dass sie sie manchmal schon gar nicht mehr wahrnahm, aber heute fühlte sie sich, als befände sie sich im Biologielabor ihrer Highschool. Der durchdringende, künstliche Geruch von Formalin, der Geruch nach Tod. Das war mehr, als sie ertragen konnte. Sie fragte sich manchmal, wie Sam das aushielt, wie sie jeden Tag die Schwelle zu diesem Gebäude übertreten und hier arbeiten konnte. Sie ließ die Zwillinge mit einem Kindermädchen zu Hause und wurde für zehn Stunden am Tag ein anderer Mensch.

Taylor wünschte sich, das auch zu können. Einfach zu morphen, jemand anderer zu werden, jemand, der nicht die ganze Zeit an den Tod denken musste. Sie wusste, das würde nie passieren. Sie würde ihre Vorstellung von der Arbeit bei der Polizei gegen nichts austauschen wollen. Es war ihr wichtig, die zu sein, die sie wirklich war, die Person, die sie von Anfang an hatte sein wollen. Vier Tote auf ihrem Gewissen, alle vorsätzlich erschossen, aber alle gerechtfertigt. Sie war Polizistin. Es war ihr Job. Das waren die Dinge, die sie tun musste, um zu überleben und die Sicherheit der Leute um sich herum, die der Fremden, die derjenigen, die sie liebte, zu gewährleisten.

Am Empfang saß Kris, ein lächelndes Mädchen mit butterblonden Haaren und zu großen Brustimplantaten. Sie hatte sie erst kürzlich machen lassen, und noch waren sie nicht gesackt; sie standen hervor wie zwei mit Wasser gefüllte Ballons. Sie winkte Taylor, wobei ihre Brüste fröhlich hüpften. Taylor winkte zurück und ging zu der Tür, die zu der Luftschleuse führte, die den Verwaltungstrakt von dem Bereich trennte, in dem die eigentliche Arbeit erledigt wurde. Sie zog ihre Karte durch, und das Schloss öffnete sich.

Die Umkleidekabine war leer. Taylor zog sich einen sterilen Kittel über ihre Kleidung, schlüpfte in blaue Plastikclogs und ging durch die kleine Schleuse in den Autopsiesaal. Renn McKenzie saß auf einem Hocker und schaute überall hin, nur nicht dahin, wo er hinschauen sollte. Sonnenlicht fiel aus dem Deckenfenster auf sein Haar und ließ die blonden Strähnen an seinen Schläfen silbern aufblitzen.

Sam wusch die Leiche eines Teenagers. Sie tat es langsam und mit einer gewissen Ehrfurcht. Taylor spürte ihre Intensität, die Sehnsucht, das an diesem jungen Mann begangene Unrecht wiedergutzumachen. Es war herzzerreißend mit anzusehen, wie sie ihm das Haar aus der Stirn strich, eine braune Tolle, die von einer karamellfarbenen Strähne durchzogen wurde, als wäre er tagelang in der Sonne gewesen. Beim näheren Hinsehen erkannte Taylor, dass sein Kopf flach auf dem Plastiktablett lag. Nein, das stimmte nicht. Es war nur sein Gesicht, direkt auf dem Tisch. Seinen Hinterkopf gab es nicht mehr, er war praktisch zweidimensional.

„Was ist ihm zugestoßen?“

Sam erschreckte sich und schaute Taylor dann schuldbewusst an. Sie war dabei ertappt worden, wie das Schicksal ihres Kunden sie berührte. Als sie erkannte, dass es nur Taylor war, entspannte sie sich und fuhr fort, das Haar des Jungen zurückzustreichen. Erst da sah Taylor, dass sie dazu einen sehr feinzahnigen Kamm benutzte, um Spuren zu sichern.

„Erinnerst du dich an Alex aus der Schule? Meinen Französischnachhilfelehrer?“, fragte Sam.

Taylor erinnerte sich. Wie könnte sie ihn je vergessen? „Ja, klar.“

„Unser Junge hier hat sich eine Flinte in den Mund gesteckt und den Abzug gedrückt. Er hat es selber getan. Der Dummkopf. Genau wie Alex.“

Sams Stimme war belegt. Sie hatte in Alex immer mehr als nur einen Nachhilfelehrer gesehen. Sam war jahrelang höllisch in ihn verknallt gewesen, doch Alex hatte ihre Schwärmerei nicht erwidert. Er war ein trauriger Junge. Tiefschwarzes Haar und dazu passende Augen, verborgene Narben innerhalb der Iris.

Als sie in der zehnten Klasse waren, ertrug Alex die Qualen des Lebens nicht mehr länger. Er schrieb einen langen Abschiedsbrief, erklärte seine Handlung, lud das Jagdgewehr seines Vaters, schob sich den Lauf zwischen die Lippen und erschoss sich. Den Abzug hatte er mit dem großen Zeh betätigt.

Damals war es für sie unbegreiflich gewesen. Wie betäubt hatten sie bei Freunden zu Hause zusammengesessen, Bier getrunken, geraucht und gegrübelt. Was im Leben eines Fünfzehnjährigen konnte so schlimm sein? Wie war seine Welt so zerstört worden, dass er keinen anderen Ausweg gesehen hatte, als sich das Leben zu nehmen? Sein Brief erklärte seine Gründe, die Kälte seines Vaters, seine Unfähigkeit, etwas richtig zu machen. Taylor hatte immer vermutet, dass noch mehr dahintersteckte, aber nie einen Beweis dafür gehabt.

Traurigkeit überwältigte sie. Sie schaute den jungen Mann auf dem Tisch an und fragte sich, was ihn in diese Verzweiflungstat getrieben hatte.

„Weißt du, warum?“, fragte Taylor. „Was ihn dazu gebracht hat? Gab es einen Abschiedsbrief?“

„Nein, den gab es nicht. Aber eine ganze Menge analer Risse. Es ist ziemlich offensichtlich, dass er über einen längeren Zeitraum sexuell missbraucht worden ist. Ich bin mir nicht sicher, wie seine Geschichte sich genau anhört, aber er hat in diesem Staat keine biologischen Eltern. Er lebte in einer Pflegefamilie.“

Taylor spürte, wie in ihrer Seele die Wut hochkochte. „Also haben wir es inzwischen mit Pflegekindern zu tun, die vergewaltigt werden und sich dann selber erschießen. Mein Güte, Sam.“

McKenzie drehte sich auf seinem Hocker herum und schaute sie an. „Ich hatte eine Freundin, die sich umgebracht hat. Das war fürchterlich.“ Er drehte sich wieder weg, und Taylors und Sams Blicke trafen sich. Dieses Gefühl kannten sie nur zu gut.

Sam gab einem ihrer Assistenten ein Zeichen. „Könntest du das hier für mich zu Ende machen? Er ist dann gleich als Nächstes mit der Autopsie dran.“

Sie ging zwei Tische weiter zu dem aufgebahrten Leichnam des Opfers von letzter Nacht, zog ihre Handschuhe aus und ersetzte sie durch ein frisches Paar.

McKenzie folgte ihnen nur widerstrebend. „Die Fingerabdrücke sind zurück. Ihr Name ist Allegra Johnson.“

Taylor schaute das Mädchen an, das so durchscheinend und zerbrechlich wirkte. Der Edelstahltisch ließ sie noch kleiner aussehen, als wäre sie noch ein Kind. Der Wundkanal, den das tief in ihre Brust gesteckte Messer hinterlassen hatte, glitzerte unter dem grellen Licht, ein wütender Schlitz.

„Sie war im System?“

„Ja. Anbahnung zur Prostitution. Schockierend. So ein dünnes Mädchen wie sie – da habe ich gleich an Drogen und Prostitution gedacht“, sagte er.

Sam und Taylor tauschten erneut einen Blick. Taylor atmete tief ein. „McKenzie, lass den Sarkasmus sein. Wenn es um ein Opfer geht, darfst du niemals etwas annehmen oder voraussetzen. Damit pflanzt du dir nur Ideen in den Kopf und versuchst dann, den Tatort und die Beweise so zu interpretieren, dass sie einen Sinn ergeben. Es könnte tausend andere Erklärungen für ihre körperliche Verfassung geben. Sie könnte krank sein, obdachlos, nicht in der Lage, sich selber mit Essen zu versorgen. Sie könnte ein rein zufälliges Opfer sein. Wir wissen nicht, warum sie ausgewählt wurde. Und wir werden es auch erst erfahren, wenn wir eine ausführliche Viktimologie erstellt haben, okay?“

McKenzie runzelte kurz die Stirn und dachte darüber nach. Was sie gesagt hatte, schien für ihn einen Sinn zu ergeben, denn seine Stirn glättete sich und er nickte. „Okay“, sagte er. Vielleicht war ihn auszubilden doch nicht so schlimm, wie sie gedacht hatte.

Sam räusperte sich und ein anderer Assistent, ein stiller Mann namens Stuart Charisse, dessen fröhlich krause Haare so gar nicht zu ihm passen wollten, trat an den Tisch, um ihr zu helfen. Er fing an, Fotos zu machen, während Sam das Mikrofon einschaltete, das an ihrer Stirnlampe befestigt war, und anfing, zu diktieren. Taylor hörte nur mit halbem Ohr zu, als Sam die Einzelheiten aufnahm – Datum, Zeit, wer anwesend war, all die Kleinigkeiten, die für einen formellen Autopsieprozess notwendig waren. McKenzie stand neben ihr und nickte im Takt mit Sams leidenschaftslosem Vortrag mit dem Kopf.

Allegras Leiche war ein Häufchen Erbärmlichkeit. Jeder Knochen war klar definiert; Taylor konnte jede einzelne Rippe zählen. Das Mädchen sah aus, als wäre sie wortwörtlich dahingesiecht.

Sam fing mit der Untersuchung an. „Der Körper ist der einer unterernährten einundzwanzig Jahre alten Afroamerikanerin, die jünger aussieht als ihr verzeichnetes Alter. Zugestellt wurde die Leiche der Gerichtsmedizin nackt, mit feinem Faden an einen Holzpfosten gebunden, der zwei Meter lang und je vierundzwanzig Zentimeter breit und tief ist. Der Faden war um die Stirn gewickelt, um die Handgelenke, den Oberkörper, Taille, Hüfte, Oberschenkel und die Füße des Opfers.“ Sam schaltete das Mikrofon aus.

„Es war ein ganz schöner Akt, sie von dem Pfosten loszukriegen. Das Messer steckte fünf Zentimeter tief im Holz. Wir haben das Ganze mit Videoaufnahmen und Fotos dokumentiert. Das wird ein guter Lehrfall. Ich denke nicht, dass ich schon einmal etwas so Bizarres gesehen habe.“

Taylor nickte. „Gut. Das sind die Sachen, die A.D.A. Page liebt. Das hilft, wenn wir den Kerl schnappen und Anklage erheben. War der Faden, mit dem sie an der Säule festgebunden war, wirklich Angelsehne?“

„Ich glaube schon. Eine genauere Untersuchung wird uns Näheres verraten. Vielleicht haben wir ja Glück und er ist irgendein berühmter Barsch-Liebhaber, und wir können die Schnur bis in seine Angelbox zurückverfolgen.“

„Wäre das nicht schön?“

Sam schaltete das Mikro wieder ein und beugte sich über ihre Arbeit. „Die Leiche ist 1,55 Meter groß und wiegt 31,2 Kilogramm. Der Bodymassindex beträgt 13,4. Die Leiche ist kachektisch und ausgezehrt, die Knochen stehen sichtbar hervor, das Abdomen ist eingefallen. Blasse orale Schleimhäute, blasse Bindehaut mit kleineren petechialen Einblutungen. Der Flüssigkeitslevel im Glaskörper wird untersucht.“

Taylor sah zu McKenzie in der Erwartung, dass es ihm den Magen umdrehte, aber er war tapfer und schaute weiter zu. Gut, er härtete langsam ab.

Sam hob die Hand des Opfers, nahm eine Hautfalte zwischen ihren behandschuhten Daumen und Zeigefinger und zog ein wenig daran. Die Haut blieb stehen, nachdem sie losgelassen hatte. Der schweigende Assistent machte ein Foto. Sam ging weiter zu Allegras Abdomen und wiederholte die Prozedur mit dem gleichen Ergebnis.

„Die Haut ist fahl und hat extrem wenig Spannung. Niemand kann behaupten, dass dieses Mädchen einfach nur sehr dünn war. Ich sehe zum Beispiel Anzeichen für eine schwerwiegende Dehydrierung“, sagte Sam.

Taylor nickte. „Was das angeht, da hat Baldwin letzte Nacht etwas erwähnt. Er ist gerade mit einem Serienmörder in Italien beschäftigt.“

Ein Strahlen breitete sich über McKenzies Gesicht. „Il Macellaio oder Il Mostro?“

„Woher kennst du die?“, wollte Taylor wissen.

„Oh, ich verfolge die Fälle von Serienmördern. Ich finde sie faszinierend.“

Ha. McKenzie hatte ja keine Ahnung, wie es war, in echt einem Serienmörder zu folgen. Da wäre er nicht mal mehr ansatzweise so enthusiastisch.

„Es ist Il Macellaio. Erzähl mir, was du über ihn weißt“, sagte sie. „Äh“, fing McKenzie an und wurde nun, da er auf einmal im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, ganz rot.

Das musste sie ihm schnellstens abgewöhnen. Wenn er, sobald A.D.A. Page, die süß wie ein Kätzchen und bissig wie ein Hai war, ihn in den Zeugenstand rief und befragte, rot wurde, würde die Jury sofort annehmen, dass er log.

„Entspann dich“, sagte sie. „Ich bin nur neugierig.“

Er errötete noch mehr, nickte jedoch. „Il Macellaio mag es, Sex mit toten Mädchen zu haben“, stieß er aus.

„Igitt“, sagte Sam, aber Taylor nickte zustimmend.

„Eigentlich ist es ein wenig komplizierter als das, McKenzie, aber du hast recht. Er ist ein Nekrosadist, ein Mörder, der mordet, um Sex mit seinem toten Opfer haben zu können. Sehr selten, so was. Und nachdem er mit ihnen fertig ist, hinterlässt er seine Opfer in Posen, die berühmte Gemälde nachahmen. Und genau darauf wollte ich hinaus. Baldwin sagt, dass die Todesursache der Mädchen in vielen der frühen Fälle Verhungern war, doch Il Macellaio ist jetzt dazu übergegangen, seine Opfer zu strangulieren. Ich schätze, er hatte keine Lust mehr, darauf zu warten, dass sie sterben.“

Sam war zur nächsten Phase ihrer Untersuchung übergegangen. Die Beine des Mädchens lagen jetzt in Bügeln und sie stand zwischen den Knien des Mädchens und nahm verschiedene Abstriche. „Hey, wir haben hier Gleitmittel. Verhungern und Nekrophilie, hm? Klingt wie ein richtig netter Kerl. Falls das auch bei Ms Johnson der Fall gewesen sein sollte – und das kann ich erst sagen, wenn ich die Autopsie abgeschlossen habe –, dann hat er vermutlich etwas Gleitmittel benötigt, um die Dinge an die richtige Stelle zu kriegen, wenn ihr versteht, was ich meine.“

„Warum?“, fragte McKenzie.

Sam arbeitete weiter, sprach aber über ihre Schulter zu ihm. „Wenn man ernsthaft dehydriert ist, trocknen alle Körperflüssigkeiten aus. Alle. Das Blut wird dicker, der Blutdruck sinkt dramatisch, man fühlt sich müde und schwindlig und ist nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen. Ohne jegliche Ernährung würde es nicht lange dauern, bis man so trocken wie abgelagertes Kaminholz ist. Deshalb wirft ihre Haut die zeltartigen Falten. Sie hat keine Flüssigkeit mehr im Körper, die der Haut helfen kann, in ihre normale Position zurückzukehren. Es wäre sehr unangenehm für ihn. Somit ist das hier ein wichtiger Beweis. Stuart, kannst du mir helfen, sie umzudrehen? Ganz vorsichtig. Jetzt.“

Es bedurfte keiner großen Anstrengung, das Mädchen auf den Bauch zu drehen. Taylor sah das Muster auf ihrem Rücken und keuchte auf.

Sam fuhr die Spuren mit ihrem Finger nach. „Ja. Ziemlich übel, was?“

McKenzie legte den Kopf schief. „Sind das Leichenflecke?“ Sam schüttelte den Kopf. „Ein paar vielleicht, aber dem, was dieses Muster verursacht hat, muss sie länger ausgesetzt gewesen sein.“

„Verbrennungen?“, fragte Taylor.

„Nein. Ich denke, es war etwas, worauf sie gelegen hat. Und zwar eine ganze Weile. Es hat massive Eindrücke in der Haut verursacht, und nachdem sie gestorben ist, haben sich dort die Leichenflecke gebildet. Das ist der einzige Grund, warum wir das Muster überhaupt noch sehen. Sie ist jetzt schon ein paar Tage tot, das erkennt man an dem Grad der Verwesung. Die Hautverfärbung hätte inzwischen schon längst wieder verschwunden sein müssen.“

Taylor schaute McKenzie an. „Um wie viel Uhr hatte die Nachbarin angerufen?“

Er sah in seinem Notizbuch nach. „Halb sechs abends. Sie sagte, als sie morgens da gewesen war, hätte die Leiche noch nicht dort gehangen.“

Der Labortechniker dokumentierte die Spuren, und Taylor trat einen Schritt näher, um besser sehen zu können. Die sich postmortal bildenden Leichenflecke waren die primären Anhaltspunkte für einen Cop, um zu bestimmen, ob die Leiche bewegt worden war oder nicht. Der gesamte Rücken des Mädchens, inklusive ihrer Arme und Beine, war von einem düsteren Schwarz, viel dunkler als ihre Haut, mit perfekt runden, in gleichmäßigen Abständen sitzenden kakaofarbenen Kreisen übersät, die sich über ihren gesamten Körper zogen. Die Kreise hatten einen Durchmesser von nur zwei bis drei Zentimetern. Am Fundort hatte man das nicht gleich sehen können, aber hier erkannte man deutlich, dass ihr linker Arm an der Außenseite so etwas wie eine Naht hatte, als wenn er gegen etwas Scharfkantiges gedrückt worden war. Das ging weit über Leichenflecke hinaus. Es war beinahe gruselig.

Taylor hatte so etwas noch nie gesehen. „Das sieht aus, als hätte sie Polka-Dots. Was um alles in der Welt verursacht so ein Muster?“

„Das ist deine Aufgabe, herauszufinden. Sie lag auf jeden Fall über einen längeren Zeitraum auf dem Rücken, als sie noch gelebt hat. Und das, worauf sie gelegen hat, hatte diese Löcher.“ Sam nickte dem Techniker zu, und gemeinsam drehten sie das Mädchen wieder auf den Rücken.

„Warum ist das Muster nicht auf ihren Unterarmen zu sehen?“, fragte McKenzie.

„Gute Frage. Sie war irgendwo eingequetscht, das zeigt die Linie an ihrem Arm. Vielleicht lagen die Unterarme verschränkt auf dem Bauch? Ich weiß es nicht.“

Taylor ging einmal um den Tisch herum und schaute genauer hin. Die Angelsehne hatte sich in die Haut des Mädchens eingeschnitten, die Spuren waren deutlich sichtbar, konzentrische Kreise, die sich über ihren gesamten Körper zogen. „Also war das Messer in der Brust nur ein totaler Overkill? Das hat nicht zu ihrem Tod geführt? Was ist mit dem Mangel an Blut?“

„Das Messer hat als Fixpunkt gedient. Es half, den Körper aufrecht zu halten. Zu dem Zeitpunkt gab es kein Blut mehr zu vergießen; es war geronnen, und ihr Herz hatte bereits aufgehört zu schlagen.“

Taylor nickte. „Okay. Ich bin damit einverstanden, davon auszugehen, dass Love Circle nur der Fundort war. Auf gar keinen Fall hätte die Nachbarin die Leiche übersehen, wenn sie am Morgen schon im Haus gewesen wäre. Sie kommt mir vor wie der Typ, der gerne mal ein paar Schränke und Schubladen aufmacht, wenn du verstehst, was ich meine. Also ist Allegra irgendwo anders getötet und dann an die Säule gehängt worden. Aber warum macht man das in einem fremden Haus? Ich muss mit dem Besitzer sprechen. Das kommt mir alles nicht koscher vor.“

Sam nahm sich mit der rechten Hand das Skalpell von dem Tablett neben dem Autopsietisch. Sie benutzte das stumpfe Ende, um die Schnittwunde auseinanderzuhalten. Dann zeigte sie mit ihrem Finger auf die magere gelbe Schicht direkt unter der Haut. „Dieses Mädchen hat null subkutanes Fett. Ich meine, das sind weniger als 0,4 Zentimeter. Das könnte durchaus die Folge von Verhungern sein. Was hat Baldwin sonst noch über diesen Matsch-Typen gesagt?“

McKenzie wurde hellhörig. „Il Macellaio. Der Schlachter. Man spricht es ‚Matschellajo‘ aus, mit der Betonung auf dem a von ‚lajo‘. Allerdings ist es mir vollkommen unverständlich, warum sie ihn so nennen. Er schlitzt sie ja nicht auf oder so.“

Taylor gab ihm einen Punkt dafür, dass er den Namen richtig aussprechen konnte.

Sam öffnete den Torso, und McKenzie starrte fasziniert auf die ausgedörrten Organe des toten Mädchens. „Sollen die so grau sein?“, fragte er.

„Ehrlich gesagt, nein. Und sie sind atrophiert, weshalb sie so klein aussehen.“ Sam fuhr mit ihrer Arbeit fort; sie sezierte, beobachtete, nahm Proben und machte sich Notizen. Die ganze Zeit über sprach sie mit McKenzie. Sie erklärte, wie Verhungern vonstattenging, dass der Körper Proteine, Kohlenhydrate und Fette in verschiedene Sequenzen herunterbricht, dass als Erstes die Kohlenhydrate verbrannt werden, dann das Fett, dann die Proteine. Wenn der Körper anfängt, sich selber von den Proteinen zu ernähren – oder von Muskelmasse – tritt der Tod ein. Bei jemand so Schmächtigem wie Allegra käme er schneller als bei einer ausgewachsenen, gut ernährten und gesunden Frau. Ohne Wasser und Nahrung konnte das Sterben innerhalb einer Woche erfolgen.

Sam widmete sich dem Kopf des Mädchens. Taylor drehte sich weg und ließ ihre Gedanken absichtlich abschweifen, als die Knochensäge angeschaltet wurde. Sie kehrte in Gedanken an den Fundort zurück. Warum wählte man ein Haus, das einem nicht gehört? Um eine Nachricht zu schicken. Um jemandem etwas anzuhängen. Um die wahre Bedeutung zu verschleiern.

„Das Gehirn weist keine Auffälligkeiten auf“, rief Sam.

„Würde das Gehirn nicht genau wie die restlichen Organe zusammenschrumpfen?“, wollte McKenzie wissen.

„Das würde man meinen, aber nein. Unsere Gewebeaufnahmen sollten relativ normal aussehen.“

„Was ist das für ein Gefühl, zu verhungern?“ McKenzie sah traurig aus, und Taylor wusste, dass er einer von ihnen war. Sie hatte sich gefragt, was für eine Art Detective er werden würde – stürmisch und sarkastisch, jemand, der das tägliche Grauen mit scharfen Worten in Schach hielt, oder fürsorglich und voller Mitgefühl. Ein guter Detective musste die Balance zwischen Wirklichkeit und Mitgefühl finden. Wenn man sich zu sehr einbrachte, brannte man schnell aus. War man zu zynisch, konnte man nicht mit den Opfern mitfühlen und ihre Mörder nicht finden. Die Mitte zu finden war etwas, das man niemandem beibringen konnte, aber der Ausdruck auf McKenzies Gesicht sagte alles. Er würde das sehr gut machen.

Sam kam langsam zum Schluss. „Ich muss noch die toxischen Untersuchungen abwarten und mir die Elektrolyte und anderen Ergebnisse angucken. Aber wenn sie verhungert ist, war es definitiv nicht angenehm. Die Hungerschmerzen sind eine Sache, aber ohne Wasser hat ihr Blut an Volumen verloren, was zu einem sinkenden Blutdruck führt. Kopfschmerzen, Herzrasen, konstante Müdigkeit sind die Folgen. Am Ende folgen Muskelkrämpfe und Delirium. Sie wäre außergewöhnlich phlegmatisch und schwindelig gewesen und hätte sich nicht mehr wehren können. Taylor, ich mache alle Tests und gucke, ob ich irgendwelche biologischen Spuren finde, aber die Leiche ist sehr sauber. Als wenn sie gereinigt worden wäre. Aber wer weiß, vielleicht haben wir Glück.“

Sam nickte McKenzie zu und ging zum Waschbecken hinüber. Taylor tippte ihrem Kollegen auf den Arm und sagte: „Gehen wir. Das hast du gut gemacht. Jetzt musst du versuchen, so viel wie möglich über sie in Erfahrung zu bringen. Eine Adresse, nächste Verwandte, die benachrichtigt werden müssen. Dann ruf den Kaplan an, er soll uns begleiten. Aber erst einmal sollten wir uns was zu Essen gönnen und gemeinsam die To-Dos durchgehen. Treffen wir uns im Rippy’s?“

„Okay. Bis gleich.“ Pflichtbewusst und gedankenverloren verließ McKenzie den Autopsiesaal. Taylor fragte sich, was er gerade dachte.

Sam rief sie. „Hey, ich werde als Erstes das Gleitmittel überprüfen und mich später bei dir melden.“

Taylor winkte ihr. „Danke. Vielleicht sagt uns das etwas darüber, wer dieser Mörder wirklich ist.“