13. KAPITEL
Es war schon nach siebzehn Uhr. Taylor schickte McKenzie nach Hause und versprach, ihn anzurufen, sollte sich etwas Neues ergeben. Sie füllte gerade ihre Formulare aus, als eine leise Stimme ihre Aufmerksamkeit erregte.
„Miss Taylor? Die ViCAP-Ergebnisse sind da.“
Rowena Wright stand hinter Taylor, ihre kräftige Gestalt warf einen Schatten auf den Schreibtisch. Das graue Haar war ein Durcheinander von winzigen Korkenzieherlöckchen. Irgendwie erinnerte es Taylor an eine Gorgone, auch wenn Rowena die gutmütigste Person war, die sie je kennengelernt hatte. Sie war zufrieden damit, ihre Arbeit zu machen und abends zu ihrer Familie nach Hause zu gehen. Sie beschwerte sich nie und meldete sich auch nicht krank. Für ihre vorbildliche Anwesenheit war ihr vom Dezernat schon eine Auszeichnung verliehen worden. Taylor hielt große Stücke auf sie.
„Danke, Rowena. Wie geht es Ihrem Ehemann?“
„Einfach wundervoll, danke der Nachfrage. Und was macht Ihr feiner Herr? Werden Sie den armen Jungen je heiraten?“
Taylor spielte mit ihrem Verlobungsring herum; die im Asscherschliff geschliffenen Diamanten saßen flach in einer Channel-Fassung aus Platin. „Irgendwann schon, Rowena. Ich fühle mich quasi schon so, als wären wir verheiratet.“
„Er ist ein guter Mann, Miss Taylor. Lassen Sie ihn sich nicht durch die Finger gleiten, nur weil Sie kalte Füße haben.“ Rowena wandte sich zum Gehen, hielt dann aber inne, als wenn sie noch etwas sagen wollte.
Taylor drückte ihre Schulter. „Danke, dass Sie mir das hier gebracht haben. Ich weiß das sehr zu schätzen.“
Rowena lächelte nur und verließ das Zimmer. Ihr Büro befand sich in einem kleinen Raum nebenan. Sie kümmerte sich um alle administrativen Details der Criminal Investigative Division und wusste buchstäblich, wo die Leichen begraben waren. Und sie wusste, wann es besser war, in die andere Richtung zu schauen.
Lustig, wie alle Leute Taylor davor warnten, Baldwin entwischen zu lassen. Glaubten die, sie würde nie wieder einen so guten Mann wie ihn finden? Oder dass sie überhaupt nie einen anderen Mann finden würde? Er war ein guter Mann, und sie hatte nicht vor, ihn gegen irgendjemanden oder irgendetwas einzutauschen.
Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf die ViCAP-Seiten.
Die erste Suchanfrage hatte eine Reihe von Kunstrauben in Davidson, Williamson und Wilson County ergeben, aber nichts, das mit ihren Fällen in Verbindung zu stehen schien. Sie legte den Bericht für den Augenblick beiseite und wandte sich dem nächsten zu.
Die zweite Suche hatte einige vielversprechende Ergebnisse erzielt. Taylor hatte die Parameter so gesetzt, dass nach allem gesucht wurde, was nur im Entferntesten mit Kunst, Skulpturen und klassischer Musik zu tun hatte. Neben drei weiteren Fällen stand auch der Fall aus Manchester, Tennessee, an den sie sich erinnert hatte, auf der Liste. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Das könnte ein Muster sein. Sie legte den Bericht auf die Seite und nahm sich die dritte Anfrage vor, in der sie nach verhungerten Opfern gesucht hatte.
Es gab mehrere Fälle, die auf die Beschreibung passten – meistens handelte es sich um Missbrauch von älteren Personen in Pflegeheimen. Aber beim vierten Eintrag machte sich eine gewisse Aufregung in ihr breit. Es war ein Fall aus Chattanooga von vor einem Jahr. Sie legte die beiden letzten ViCAP-Suchen nebeneinander. Der Chattanooga-Fall hatte verschiedene Elemente, die mit dem Manchester-Fall übereinstimmten – die Musik am Tatort und das Opferprofil; eine dünne schwarze Frau. Die Todesursache in Chattanooga war Verhungern, wohingegen das Opfer in Manchester ertränkt worden war, aber es gab genügend Gemeinsamkeiten, um Taylor das Gefühl zu geben, die beiden Fälle könnten miteinander verbunden sein.
Jetzt hatte sie drei Fälle, die außergewöhnliche Ähnlichkeiten aufwiesen. Einer in Nashville, einer in Chattanooga und einer in Manchester. Guter Gott.
Sie schaute sich die weiteren Daten an, hielt nach Besonderheiten Ausschau, nach allem, was irgendwie passen könnte. Am Ende hatte sie sechs Fälle in Tennessee, von denen sie fand, dass sie es wert waren, genauer untersucht zu werden. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass einige von ihnen am Ende nicht dazugehören würden, aber die Fakten jagten ihr dennoch einen Schauer über den Rücken. Drei der Fälle waren höchstwahrscheinlich miteinander verbunden. Und diese Fälle würden Baldwins Theorie vollkommen auf den Kopf stellen, dass Il Macellaio erst kürzlich in die USA geflogen war. Außer er flog ständig hin und her … oh, sie begann sich etwas zusammenzuspinnen. Sie entschied sich, die Fälle vollkommen unvoreingenommen anzuschauen. Die Beweise und die Untersuchungen würden ihr die Richtung weisen.
Sie rief die zuständigen Officer der sechs Fälle an, die sie sich herausgezogen hatte, und bat um Zusendung der Akten. Ihre Bitte stieß auf freundlichen Enthusiasmus – Unterstützung war immer gern gesehen, vor allem wenn sie dazu führen könnte, einen Fall zu lösen. Zwei der Fälle waren bereits gelöst, die packte sie gleich zur Seite. Der Manchester-Fall wurde vom Sheriffbüro in Coffee County untersucht.
Sheriff Steve Simmons nahm Taylors Hilfe mehr als dankbar an. Er schlug sogar vor, dass sie zu ihm kommen und selbst einen Blick auf die Unterlagen werfen sollte. Sie verriet ihm, dass sie gehofft hatte, er würde so etwas sagen. Sie würde gerne kommen und ihren Kollegen McKenzie mitbringen. Die Fahrt nach Manchester würde nur eine gute Stunde brauchen. Taylor und Simmons verabredeten einen Termin für den nächsten Morgen. Bevor sie das Telefonat beendeten, bestätigte er noch einige Einzelheiten – ja, das Opfer war schwarz, ja, am Tatort hatte klassische Musik gespielt, nein, es gab keine Verdächtigen. Taylors Puls schlug schneller. Das klang alles sehr vielversprechend.
Tim Davis betrat die Mordkommission und streckte seinen Kopf um die Wand, die zu ihrem Schreibtisch führte. Sie winkte ihn zu sich.
Er setzte sich in den Bürostuhl links neben ihr an den Tisch eines der Detectives aus der B-Schicht. „Die Fingerabdrücke stimmen mit denen des Hausbesitzers überein. Aber wir haben einen Treffer bei den Abdrücken von der Picasso-Monografie – ein Sexverbrecher, den wir eingebuchtet haben.“
„Eingebuchtet?“, fragte Taylor.
„Jupp. Er sitzt in Riverbend drei bis fünf Jahre wegen Vergewaltigung eines Kindes ab.“
„Hm. Wie lange ist er da schon?“
„Etwas länger als acht Monate.“
„Also keine Chance, dass der Abdruck letzte Nacht hinterlassen worden ist.“
„Nein.“
„Bangor hat einen Einbruch erwähnt, der vor einem Jahr stattgefunden hat.“
„Das liegt im Bereich des Möglichen. Der Abdruck war ein wenig verschmiert. Ich musste ihn bedampfen, weil er so alt war, aber es gab ausreichende Übereinstimmungen, um ihn zu identifizieren.“
„Also haben wir einen vielleicht ein Jahr alten Fingerabdruck. Wie heißt der Typ?“
„Arnold Fay.“
„Sieht so aus, als wenn wir uns noch mal mit Mr Bangor unterhalten müssten. Mal sehen, ob er diesen Fay kennt. Sonst noch was?“
„Viele beliebige DNA-Spuren, die aber sehr wahrscheinlich zum Hausbesitzer gehören. Es wird eine Weile dauern, sie zu sortieren. Das Messer war sauber, genau wie die Angelsehne, eine bis dreißig Pfund ausgelegte Schnur der Marke FireLine Crystal, die von Berkley hergestellt wird. Ich habe Unterlagen von allen Bestellungen der letzten drei Monate angefordert, aber da sie in jedem Angelladen im mittleren Tennessee verkauft wird, wird uns das vermutlich nicht weiterbringen. Wir haben auch drei verschiedene Schuhabdrücke gegossen. Von denen, die dem Haus am nächsten waren, stammt einer von Laufschuhen der Marke Asics und einer von einem Timberland-Bergsteigerstiefel. Wenn du mir einen Verdächtigen bringst, kann ich also wenigstens seine Schuhe überprüfen.“
Darüber dachte Taylor einen Moment lang nach. Wie viele Abdrücke waren wohl von den Beamten vor Ort zerstört worden? Sie schob den Gedanken beiseite. Was geschehen war, war geschehen.
Tim spielte mit einem Blatt Papier. „Da gibt es noch was. Die Picasso-Monografie? In dem Buch fehlte eine Seite.“
„Was soll das heißen?“
„Ich habe es mitgebracht, weil ich es dir gerne zeigen wollte. Es hat vielleicht mit all dem nichts zu tun, aber es kam mir trotzdem seltsam vor.“ Er legte das dicke Buch auf den Tisch und brach dann das Siegel der Beweismitteltüte. Taylor sah die verschmierten Fingerabdrücke, über die er gesprochen hatte. Tim klappte das Buch auf.
„Siehst du das hier? Das sieht für mich so aus, als wäre hier hinten eine Seite herausgetrennt worden.“
Taylor fuhr mit dem Finger über die scharfe Kante des dicken, glänzenden Papiers. Tatsächlich. Die Seite war ganz dicht an der Bindung herausgeschnitten worden. Wenn sie das Buch nicht eingesammelt hätten und wenn Tim nicht so ordentlich und sorgfältig arbeiten würde, hätte es leicht übersehen werden können.
„Was war auf der Seite?“, fragte sie. „Weißt du das?“
„Nein, leider nicht.“
Taylor berührte noch einmal die Kante. Dann blätterte sie in der Hoffnung durch das Buch, herauszufinden, was auf der geheimnisvollen fehlenden Seite zu sehen gewesen war, aber sie fand keinen Hinweis. Tim saß still neben ihr und ließ sie nachdenken.
Bangors Haus war vollgestopft mit Büchern. Die eingebauten Bücherregale bogen sich förmlich unter Folianten zu allen möglichen Themen. Er besaß auch noch weitere Coffeetable-Bücher. Hatten sie es hier mit einer Anomalie speziell bei diesem Buch zu tun, oder war das etwas, was er bei all seinen Büchern tat? Hatte vielleicht der Mörder die Seite herausgetrennt? Taylor lächelte Tim an.
„Gut beobachtet, Tim.“
„Danke. Ich weiß nicht, was es bedeutet, aber es kam mir seltsam vor.“
„Vielleicht ist es nichts, vielleicht ist es alles. Ich sag dir was: Am Tatort gibt es noch Tonnen von diesen Büchern. Was hältst du davon, ein paar von ihnen durchzugehen und zu schauen, ob du noch mehr mit herausgetrennten Seiten findest?“
„Ich bin schon unterwegs. Ich habe den Hausbesitzer – Mr Bangor? – angerufen. Er wirkte sehr nett und hatte nichts dagegen, dass ich noch einmal vorbeikomme. Er meinte, er würde sich schon mal auf die Suche machen. Vielleicht finden wir ja was.“
„Tim, du bist der Beste. Ruf mich an, sobald du etwas weißt, okay?“
Er hinterließ ihr einen Packen Informationen und verschwand.
Taylor hörte ihre Mailbox ab. Lincoln und Marcus würden sie heute Abend um sechs im Rumba treffen. Sie schaute auf ihre Uhr. Das könnte sie gerade noch schaffen. Baldwin würde um sieben Uhr dazustoßen. Er musste noch ein Projekt abschließen.
Sie rief Sam an und hinterließ ihr eine Nachricht über die bisher gefundenen Beweise. Sie erzählte ihr von Tyrone Hills und Allegra Johnsons Geschäftsbeziehung und von dem Fingerabdruck von Arnold Fay, nur für den Fall, dass das später noch einmal relevant werden würde. Noch gab es keinen Anlass zu irgendwelchen Freudentänzen, aber jedes Stück würde eine wichtige Rolle spielen. Außerdem konnte Sam ein echter Hitzkopf sein, wenn es um Details ging. Sie wollte immer über alles informiert werden, egal, wie unwichtig es einem erschien, weil man nie wissen konnte, wie es ihr eventuell bei der Autopsie weiterhelfen konnte. Taylor verstand diesen Wunsch. Ihr ging es genauso.
Elms Tür stand offen, doch er war nicht in seinem Büro. Gut. Taylor tippte die beiden Zeilen herunter, die ihren Tag zusammenfassten – Autopsie und Information der Hinterbliebenen des Love Circle-Opfers, Allegra Johnson; Befragung des Hausbesitzers vom Love Circle, Hugh Bangor –, und legte sie ihm auf den Tisch.
Das musste reichen.
Die Fahrt ins West End war nur kurz. Taylor bog auf den Parkplatz des Rumba, ein Restaurant, das für seine Fusion-Satay-Küche bekannt war, und träumte von einem Caipirinha. Das Rumba war eines ihrer absoluten Lieblingslokale in der Stadt – kubanische, südamerikanische, afrikanische, karibische, malaysische und indische Einflüsse vermischten sich hier miteinander und betranken sich ein wenig an den hervorragenden Rumsorten. Sie gab dem Parkwächter ihren Schlüssel und betrat das kühle, dunkle Lokal.
Die Jungs waren schon da. Sie spürte, wie sich ein breites Grinsen auf ihrem Gesicht ausbreitete. Mann, wie hatte sie sie vermisst. Es war erst fünf Wochen her, dass ihr Team auseinandergerissen wurde, aber es kam ihr viel länger vor.
Marcus Wade fegte sie mit seiner Umarmung fast von den Beinen. Sein Haar war zu lang und fiel ihm in die Augen. Als er sie losließ, tat Lincoln Ross es ihm gleich und hatte keine Hemmungen, seinen Versace-Anzug zu zerknittern. Er trug immer noch die säuberlich rasierte Glatze und den schwarzen Kinnbart. Wer ihn nicht kannte, hielt ihn für gefährlich aussehend. Alleine sein zahnlückiges Grinsen zu sehen machte Taylor unglaublich glücklich. Sie trat einen Schritt zurück, ein verträumtes Lächeln auf den Lippen.
„Das ist ja mal eine Begrüßung. Ihr zwei seht großartig aus.“
Lincoln schüttelte den Kopf. „Du hast keine Ahnung, wie sehr wir es vermissen, mit dir zu arbeiten. Auf den Revieren zu arbeiten ist grauenhaft.“
Marcus nickte zustimmend. „Ja, mein Fall ist es auch nicht. Estoy aprendiendo hablar español.“
„Und selbst das bekommst du nicht richtig hin. Guter Gott, Wade, wo hast du diesen Akzent her? Von Speedy Gonzales? Du lernst mir dort vielleicht ein bueno Spanisch, mein Freund.“ Lincoln rempelte Marcus leicht an, der daraufhin nur den Kopf schüttelte.
„Wie auch immer. Komm doch zu mir in den Süden und versuch es selber, Klugscheißer.“
Mitten im südlichen Distrikt lag Little Mexico. Verbrechen blieben dort oft ungelöst, weil die Bewohner Angst hatten, mit der Polizei zu sprechen. Die meisten von ihnen waren Illegale, allerdings mussten sie dank der laxen Abschiebepolitik von Nashville nicht gleich befürchten, nach Hause geschickt zu werden, sobald sie ertappt wurden.
Die Empfangsdame, eine hübsche Studentin mit einem Lippenpiercing und stachelig frisierten blonden Haaren, hielt fragend drei Finger hoch.
„Einen Tisch für vier, bitte“, sagte Taylor. „Einer kommt später nach.“ Das Mädchen führte sie an einen Tisch im hinteren Bereich des Restaurants. Der Tisch stand schräg, sodass keiner von ihnen mit dem Rücken zum Eingang saß. Das war einer der Gründe, warum sie entschieden hatten, sich hier zu treffen.
Sie nahmen Platz. Taylor allein auf der einen Tischseite, Lincoln und Marcus auf der anderen. Sie gaben ihre Getränkebestellungen auf und baten um mit Käse gefülltes Naan- und Fladenbrot. Der Kellner schenkte ihnen Wasser ein und stellte die Karaffe auf den Tisch, dann verschwand er diskret.
„Also, wie ist dein neuer Boss?“, wollte Lincoln wissen.
„Fürchterlich“, erwiderte Taylor leise. „Er ist ein totaler Kontrollfreak. Ein Erbsenzähler durch und durch. Außerdem ist er ein Idiot. Er hat einen der Funde, die wir aus ermittlungstaktischen Gründen zurückhalten wollten, an die Presse weitergegeben. Mit etwas Glück wird er sich selber unmöglich machen, ohne dass ich einen Teil dazu beitragen muss. Hat einer von euch in letzter Zeit mit Price gesprochen?“
Sie schüttelten die Köpfe.
„Ich auch nicht. Ich weiß nur, dass unser Fall zur Wiedereinsetzung vorangeht. Ich will ja nicht unhöflich sein, Jungs, aber es gibt einen Grund, warum ich euch um dieses Treffen gebeten habe. Fitz hat mich heute Nachmittag angerufen.“
„Wie geht es ihm? Hat er vor, jemals zurückzukommen?“ Lincoln klang ein wenig sehnsüchtig. Sie wusste, dass ihre Jungs nicht glücklich darüber waren, wie sich alles entwickelt hatte. Sie hatten drei Jahre als unzertrennbare Einheit miteinander gearbeitet, hatten sich jeweils auf die Stärken der anderen verlassen. Sie waren ein Team. Über diese symbiotische Beziehung in der Vergangenheitsform zu denken, tat allen weh.
Taylor tätschelte Lincolns Hand. „Er sagt ja. Aber im Moment hängt er auf Barbados fest, weil irgendeine Pumpe kaputt ist. Er sagt, er glaubt, den Pretender am Ufer gesehen zu haben. Er soll mit Susie zusammengestoßen sein – er hat sie buchstäblich umgerannt – und ist dann wieder verschwunden.“
Beide Männer hoben die Augenbrauen. Lincoln fragte: „Was sollte der Pretender auf Barbados zu suchen haben? Folgt er etwa Fitz?“
„Ich weiß es nicht. Ich verstehe es auch nicht. Und es ist auch gar nicht sicher. Vielleicht war es nur eine Verwechslung, jemand, der ihm ähnlich sah.“
Marcus schaute ihr direkt in die Augen. „Das glaubst du selber nicht, oder?“
Sie wog ihre Worte sorgfältig ab. „Er hat sich bei mir gemeldet, mir eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter zu Hause hinterlassen. Wollte mich wissen lassen, dass er nicht für den Mord verantwortlich war, zu dem ich gestern Abend gerufen worden bin.“
Marcus und Lincoln waren sofort in höchster Alarmbereitschaft. „Er hat dich angerufen?“, fragte Lincoln ungläubig.
„Ja. Baldwin kümmert sich bereits darum.“
„Hast du Schutz beantragt?“
„Nein. Und das werde ich auch nicht. Ich kann mich um mich selber kümmern. Die Einzigen, um die ich mir Sorgen mache, seid ihr.“
„Ich würde gerne sehen, wie er es bei mir versucht“, sagte Marcus. „Wir könnten richtig viel Spaß miteinander haben. Der Fall am Love Hill – das Opfer war Allegra Johnson, oder?“
„Ja. Kennst du sie?“
„Hab sie ein paarmal hopsgenommen, als ich noch Streife gefahren bin. Hauptsächlich ging es um Prostitution, Anbahnung, Drogen.“
„Tja, irgendein Irrer hat sie sich geschnappt. Ich habe einen neuen Partner zugewiesen bekommen …“
„Renn McKenzie“, warf Lincoln ein. „Wenn man erst einmal seine Schüchternheit überwunden hat, ist er ganz okay.“
„Was du nicht sagst. Der Junge wird ständig rot. Du glaubst, er ist in Ordnung?“
„Ja. Er ist einfach nur schüchtern. Wenn man ihn aber ein wenig besser kennt, wird schnell klar, dass er ziemlich clever ist. Außerdem versteht er was von Computern.“
„Ach, hätte ich das bloß eher gewusst. Dann hätte er für mich die ViCAP-Suche durchführen können.“
Ihre Vorspeisen wurden serviert, und sie gaben ihre Bestellungen für den Hauptgang auf. Taylor warf einen Blick auf die Uhr. 18:45 Uhr. Sie bestellte einen Teller mit gemischten Satays und Jasminreis für Baldwin. Er würde da sein, wenn das Essen serviert wurde.
Marcus brachte sie zum eigentlichen Thema zurück. „Du glaubst also, der Pretender behält uns alle im Auge?“
„Es sieht so aus. Falls es nicht nur ein Zufall war, dass Fitz und er sich auf derselben Insel befanden. Vielleicht sondiert er das Terrain, versucht herauszufinden, wie viele von uns wissen, wie er aussieht. Aber ich würde wirklich gerne wissen, was er vorhat. Parks ist bei Fitz’ Haus vorbeigefahren und sagt, ihm ist nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Ich hatte mich gefragt, ob der Pretender vielleicht eingebrochen ist und seinen Reiseplan gestohlen hat. Ich schätze, das ist immer noch möglich, aber irgendwie kommt es mir auch wie ein Höllenaufwand für nichts vor.“
Lincoln setzte sich gerader hin. „Ich denke, er versucht nur, uns einzuschüchtern. Ich will, dass er auch hinter mir her ist. Dann werde ich dem kleinen Scheißer mal ordentlich die Meinung geigen.“
In diesem Augenblick kam Baldwin durch die Tür. Taylor fing seinen Blick auf. Sofort kam er zu ihrem Tisch und küsste sie sanft, bevor er sich setzte.
„Gentlemen“, sagte er und schüttelte den beiden über den Tisch die Hand.
Taylor erzählte ihm von ihrem Tag und von Fitz’ Anruf. Baldwin war besorgt; sie erkannte es daran, dass die Falte zwischen seinen Augenbrauen tiefer wurde, selbst wenn er lächelte. Den Rest des Essens verbrachten sie damit, sich gegenseitig auf den neuesten Stand zu bringen; die ernsten Themen hatten Pause, jetzt war Zeit für den neuesten Klatsch und Tratsch.
Taylor lehnte die Einladung zu einem zweiten Caipirinha dankend ab. Aus Erfahrung wusste sie, dass einer ihr Limit war – der Cachaça war einfach zu stark. Sie war müde. Es war schön, die Jungs wiederzusehen, und noch schöner, ein zivilisiertes Abendessen in Baldwins Gesellschaft zu genießen, aber ihr Tag war außergewöhnlich lang gewesen.
Um neun Uhr trennten sie sich schließlich, aber nicht ohne Pläne zu machen, sich in den nächsten Tagen zum Lunch zu treffen und dem Versprechen, so gut es ging gegenseitig auf sich achtzugeben. Der Parkwächter brachte Taylors Truck und den schwarzen Suburban, den Baldwin fuhr.
„Du bist nicht mit dem BMW da?“, fragte sie ihn und unterdrückte ein Gähnen.
„Äh, ne. Ich muss noch einen Detective Highsmythe am Flughafen abholen; er hat mit dem Il-Macellaio-Fall in London zu tun. Sein Flug kommt spät in der Nacht. Er hat um eine dringende Konsultation gebeten, und da ich im Moment nicht in Quantico bin, hab ich vorgeschlagen, dass er hierherkommt. Außerdem hätte ich gerne, dass er sich unseren Fall anschaut, wenn du nichts dagegen hast.“
„Nein, gar nichts. Musst du trotzdem nach Quantico zurück?“ „Ja. Jetzt, wo wir die DNA haben und wissen, dass die Morde in London und Florenz von dem selben Mann verübt wurden, muss einiges koordiniert werden. Ich muss ihm helfen. Wir werden diesen Fall mit uns nehmen. Außerdem werde ich mein Team bitten, sich mal in euer System einzuschalten, um zu sehen, was sie finden. Der Wechsel in seinem MO irritiert mich immer noch, aber trotzdem sind die Ähnlichkeiten zu den früheren Fällen erschreckend. Was für forensische Spuren habt ihr inzwischen?“
„Nicht viel. Gleitmittel. Eine Angelsehne. Einen Fingerabdruck, der zu einem Sexualstraftäter gehört, den wir schon lange eingesperrt haben, eine fehlende Seite in einer Picasso-Monografie. Einige Schuhabdrücke. Nichts Eindeutiges. Tim ist im Moment bei Bangor und sucht nach weiteren Informationen.“
„Willst du hinfahren und gucken, ob er fündig geworden ist?“
Es war verlockend. „Nein, das sollte ich vielleicht besser nicht tun. Ich hatte zum Essen einen Drink. Das Letzte, was ich gebrauchen kann, ist, dass jemand meinem neuen Boss sagt, dass er in meinem Atem Alkohol gerochen hat. ‚Alkoholabhängiger Detective mischt sich in Fall ein; mehr in den Nachrichten um zehn.‘ Nein, danke. Tim wird mich anrufen, wenn er was findet.“
Baldwin warf die Schlüssel von einer Hand in die andere.
„Was?“, fragte Taylor.
Baldwin griff in seine Tasche und holte eine Packung Pfefferminzkaugummi heraus. „Hier, ich habe ein Kaugummi. Lass uns hinfahren. Ich würde mich gerne noch einmal dort umsehen. Ich fahre dir hinterher, okay?“
„Okay. Wenn du meinst.“
Taylor steckte sich ein Kaugummi in den Mund und stieg in ihren Truck. Verdammt, dieser Tag würde wohl niemals enden.