18. KAPITEL

Taylor ging die Ereignisse des Morgens noch einmal durch und errötete, als sie an den Ausdruck auf dem Gesicht des Engländers bei ihrem ersten Zusammentreffen in der Küche dachte. Wie Paris, der das erste Mal die schöne Helena sieht. Wie peinlich. Sie versuchte, den Vorfall aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Sie musste sich konzentrieren. Heute hatte sie eine Menge zu tun.

Die Fahrt die Old Hickory entlang war sehr idyllisch. Die grünen Weiden von Steeplechase zu ihrer Linken, die Wälder, in denen sie den Rainman gejagt und erwischt hatte, zu ihrer Rechten. Wohin sie in Nashville auch schaute, gab es Erinnerungen an ihre vergangenen Fälle, an ihre Erfolge und Fehlschläge. Der Prozess gegen den Rainman, einen Serienvergewaltiger namens Norville Turner, der die Bewohner Nashvilles zehn Jahre lang terrorisiert hatte, würde bald beginnen. Taylor musste mit A.D.A. Page Rücksprache halten, wann genau, denn sie wusste, dass sie würde aussagen müssen. Der Bastard hatte ihr bei seinem Fluchtversuch ins Gesicht geschlagen. Über eine Woche war sie mit einem blauen Auge herumgelaufen. Sie erinnerte sich noch an die Genugtuung, die sie verspürt hatte, als sie zurückschlug. Sie hatte ihn k. o. geschlagen. Es war das perfekte Ende eines frustrierenden und schwierigen Falles.

Sie fuhr durch Hillsboro und suchte sich ihren Weg nach Brentwood. Es herrschte dichter Verkehr, aber innerhalb von zehn Minuten tauchte auf der rechten Seite die Tankstelle auf. McKenzie stand neben einem vom Dezernat zur Verfügung gestellten Caprice. Er trug einen grauen Anzug und eine hellblaue Krawatte, die seine Augen haselnussbraun glänzen ließ. In den Händen hielt er zwei Becher Kaffee. Taylor fuhr neben ihn, sprang aus ihrem Truck und erlöste McKenzie von einem der Becher.

„Du magst Latte macchiato, oder?“, fragte er.

„Ja, danke.“ Taylor versuchte, weniger Cola light zu trinken und sich ihren Koffeinkick stattdessen aus Lattes zu holen.

„Willst du fahren?“, bot McKenzie an.

„Sicher“, sagte sie. Sie stiegen ein und machten es sich bequem. Zusätzlich zu dem Kaffee hatte McKenzie noch Donuts von Krispy Kreme mitgebracht. Sie waren noch warm. Taylor nahm sich einen mit Glasur und biss genüsslich hinein. Als sie aufgegessen hatte, leckte sie sich die Finger ab und startete den Motor.

„Das war sehr süß von dir. Vielen Dank.“

„Gern geschehen. Ich dachte, so früh am Morgen könnten wir ein wenig Stärkung gebrauchen.“

„Das war ein guter Gedanke. Übrigens, wir haben gestern Abend eine weitere Spur ausfindig gemacht. Erinnerst du dich an die Picasso-Monografie von Hugh Bangors Wohnzimmertisch?“

„Nein. Was war das?“

„Ein Catalogue raisonné, ein Buch, das die Bilder vor dem Arbeitshintergrund des Künstlers darstellt. Eines davon über Picasso lag auf Bangors Wohnzimmertisch. Tim Davis fand darauf einen Fingerabdruck, der zu einem Sexualverbrecher namens Arnold Fay gehört. Wir haben uns lange mit Bangor unterhalten. Wie sich herausstellte, waren er und Fay mal ein Paar. Fay war derjenige, der bei Bangor eingebrochen ist. Er hat die Monografie als Geschenk dort gelassen, daher sind wir an den Fingerabdruck gekommen. Aber was noch wichtiger ist: Tim hat festgestellt, dass hinten eine Seite in dem Buch fehlt. Also sind wir gestern Abend noch einmal ins Haus gefahren und haben uns umgesehen. Wir haben eine zweite Monografie gefunden, dieses Mal ein Katalog von einer Ausstellung im MoMA. Auch hier fehlte die letzte Seite. Jemand hat die Blätter fein säuberlich herausgetrennt. Ich habe heute Morgen beim Verlag angerufen, um in Erfahrung zu bringen, was auf diesen Seiten gestanden hat. Sie wollen uns eine Kopie faxen.“

„Hey, das sind ja großartige Neuigkeiten. Du hättest mich anrufen sollen. Ich hätte dir geholfen. Ihr wart also bei Hugh, äh, bei Mr Bangor?“

„Ja, aber es war schon ziemlich spät. Wir sind aus einem Impuls heraus dort vorbeigefahren.“

„Oh. Okay.“ Er klang enttäuscht. Taylor glaubte langsam, dass die Anziehung, die McKenzie auf Bangor ausgeübt hatte, auf Gegenseitigkeit beruhte.

Er seufzte. „Ich wusste das mit Fay bereits. Ich hab gestern ein wenig über Bangor recherchiert, mir seinen Hintergrund angeschaut und so. Weißt du noch, dass er gesagt hat, sein Partner wäre vor fünf Jahren an AIDS gestorben? Das war nicht die Wahrheit. Ich habe seinen Namen herausgefunden und ihn ebenfalls überprüft. Es war dieser Fay.“

Taylor warf ihm einen Blick zu. „Bangor hat uns gestern Abend alles erzählt. Es klang so, als wäre es eine ziemlich unschöne Situation gewesen. Hast du noch etwas herausgefunden?“

„Noch nicht. Ich habe die Akten aus dem Archiv angefordert. Aber ich habe Mr Bangor gestern Abend danach gefragt. Das muss gewesen sein, als ihr schon fort wart. Der Junge war dreizehn, Bangors Partner einundzwanzig. Er ist zu seinen Eltern gegangen und hat ihnen Fay vorgestellt, und daraufhin sind sie ausgeflippt. Die haben ihn dann angezeigt und Fay ist angeklagt worden. Der Junge war von der Reaktion seiner Eltern so entsetzt, dass er die Beziehung zu Fay leugnete und sagte, es wäre eine Vergewaltigung gewesen. Das hat zu Fays Verurteilung geführt. Zumindest ist das die Geschichte, die Hugh mir erzählt hat.“

„Wie heißt der Junge? Hast du dir seine Akte auch angeschaut?“

„Ja, das habe ich. Christopher Gallagher. Er ist jetzt in Texas. Keine Einträge. Ich werde aber überprüfen, ob er ein Alibi hat. Das wäre immerhin ein solides Motiv. Auch wenn es ein ziemlicher Aufwand ist, extra aus Texas hierherzukommen, um einen Mord zu begehen.“

„Tja, andere kommen vielleicht ganz aus Italien. Im Moment will ich noch nichts ausschließen.“ Sie entschied sich, die Gelegenheit wahrzunehmen.

„McKenzie, sei mit Hugh Bangor vorsichtig. Wir wissen nicht, warum er ausgewählt worden ist, und wir haben seine Rolle bei diesem Mord noch nicht ganz entschlüsselt. Er könnte unschuldig sein, er könnte aber auch darin verwickelt sein. Was immer du tust, falls du dich entschließt, was mit ihm einzugehen, tu das erst, nachdem der Fall abgeschlossen ist. Das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können, ist noch mehr schlechte Presse.“

„Du weißt davon?“ Er klang bekümmert.

„Ich habe es vermutet. Und das ist kein Problem, okay? Versprich mir nur, dass du vorsichtig bist, was Hugh angeht.“

Er schwieg einen Moment lang. „Weißt du, meine Freundin, die, die sich umgebracht hat?“

„Du hattest sie erwähnt, ja.“

„Das war meinetwegen. Wir waren verlobt, und ich habe die Hochzeit abgesagt. Ich konnte es einfach nicht tun. Ein paar Jahre lang hatte ich eine On-Off-Beziehung mit einem Jungen vom College. Ich dachte immer, wenn ich einfach heiraten würde, könnte ich ein normales Leben führen. Aber am Ende konnte ich es nicht durchziehen. Sie hat die Neuigkeiten nicht sonderlich gut aufgenommen. Es war fürchterlich. Ich habe zwei Jahre gebraucht, um mit meinen Schuldgefühlen einigermaßen klarzukommen. Du wirst es aber niemandem erzählen, oder?“

„Natürlich nicht. Das ist alleine deine Sache.“

„Ich weiß das zu schätzen. Ich bin von Orlando hierhergezogen, um von all dem wegzukommen. Ich konnte es nicht mehr ertragen, mit ihren Eltern in derselben Stadt zu wohnen. Wir sind uns andauernd im Supermarkt über den Weg gelaufen. Es war schrecklich.“

„Das kann ich mir vorstellen. Okay, das ist also unser kleines Geheimnis. Zurück zur Arbeit. Wenn die Information vom Verlag kommt, musst du dir die Seiten anschauen und jedes noch so kleine Detail überprüfen. Wer, wo, was, wann, warum und wie, okay? Da steht irgendetwas drauf, das uns helfen kann, das spüre ich. Kennst du Lincoln Ross?“

„Sicher. Ein toller Kerl.“

„Lincoln sagt, du wärst bist ganz fit im Umgang mit Computern. Bei dieser Sache kannst du mir zeigen wie fit, okay?“

Nachdem sie erst einmal die I-24 erreicht hatten, fuhr Taylor zügig auf der linken Spur, sauste an langsameren Autos vorbei und betätigte die Lichthupe, wenn einer der riesigen Trucks ausscheren wollte.

McKenzie schaute sie immer wieder an, als wollte er noch etwas sagen. Sie wartete ab, beobachtete ihn aus dem Augenwinkel heraus. Er starrte sie an, versuchte jedoch, es zu verbergen. Schließlich riss ihr der Geduldsfaden.

„Wieso schaust du mich so an? Was ist los? Habe ich noch Donutkrümel im Gesicht?“

Er fühlte sich ertappt und errötete.

„Ernsthaft, Mann. Was ist los? Du verursachst mir Komplexe.“

„Kann ich dich etwas fragen?“

„Natürlich.“

„Deine Narbe. Stimmt die Geschichte? Darüber, wie du sie bekommen hast?“

Unbewusst fuhr Taylor sich mit der rechten Hand über die Kehle. Sie dachte nur noch selten an die Narbe, obwohl sie unübersehbar da war, sich erhaben über ihren Hals zog. Das Souvenir eines verrückten, verzweifelten Mannes. Zehn Zentimeter entweihtes Fleisch. Ein Millimeter mehr, und sie wäre heute nicht da.

„Was für eine Geschichte? Der Kerl war verzweifelt. Kleiner Tipp, geh nie zu nah an einen Verdächtigen heran, der ein Messer hat, McKenzie. Das wird kein gutes Ende nehmen.“

„Ich meine, dass du ihn getötet hast.“

Ah.

„Ich habe immer nur getötet, wenn ich keine andere Wahl hatte, McKenzie.“ Sie war selber überrascht von der Kälte in ihrer Stimme. Ruhig, tot, eiskalt. Die Atmosphäre im Wagen war mit einem Mal aufgeladen. McKenzie war sichtlich unwohl in seiner Haut, als er erkannte, dass er mit der Frage eine unsichtbare Linie überschritten hatte. Taylor wollte sich gerade entschuldigen, als der Sprechfunk sich meldete.

„Detective Jackson? Hier ist die Zentrale. 10-64, vielleicht 10-89, Ertrinken, Code Zwei, Radnor Lake. Bitte antworten Sie.“

Taylor stöhnte und stieß ein paar unterdrückte Flüche aus. Sie nickte McKenzie zu und nahm die letzte Ausfahrt nach Murfreesboro.

McKenzie nahm das Mikro. „10-4, Zentrale. Wir sind auf dem Weg. Wir befinden uns südlich von Murfreesboro: Es wird eine Weile dauern, bis wir dort eintreffen. Over.“

Taylor holte ihr Notizbuch aus der Tasche und reichte es McKenzie. „Ruf den Sheriff von Coffee County an. Er heißt Simmons. Sag ihm, dass wir in die Stadt zurückbeordert wurden und es uns leidtut, wir uns aber später bei ihm melden werden.“

Taylor war bereits wieder auf dem Highway, der in Richtung Norden führte. Sie schaltete die Sirene an und nutzte aus, dass alle anderen Wagen sich schleunigst aus dem Weg machten. Sie achtete nicht mehr auf die Geschwindigkeitsbegrenzungen. Ein weiterer Mord. Am See. Die 10-89 war logisch, aber Code Zwei bedeutete, dass es dringend war. Sie musste annehmen, dass es sich um einen Mord handelte. Es war immer das Gleiche – Morde neigten dazu, geballt aufzutreten. Aber Radnor Lake – dorthin wurden sie nicht allzu oft gerufen. Sie fragte sich, was los war, gab sich dann aber vorerst damit zufrieden, das Gaspedal bis aufs Bodenblech durchzutreten.

Wenigstens war das Thema ihrer Narbe jetzt vergessen. Sie fühlte sich mit McKenzie noch nicht wohl genug, um über den Horror zu sprechen, der sie erfüllt hatte, als sie ihr eigenes Blut über ihre Brust hatte rinnen sehen. Dieser wahnsinnige Augenblick totaler Klarheit zwischen dem Schnitt und dem Schmerz. Sie wusste, dass sie tot war. Sie hätte auch tot sein sollen. Sie hatte verdammtes Glück gehabt, dass Baldwin dort gewesen war. Seine medizinische Ausbildung rettete ihr das Leben. Es war nie verkehrt, während der Verbrecherjagd einen Arzt an seiner Seite zu haben.

Sie schob die Gedanken beiseite. Es hatte keinen Sinn, weiter darüber nachzudenken.

Bereits nach zwanzig Minuten waren sie wieder in Davidson County. Sie nahmen die Ausfahrt Bell Road und rasten über die Old Hickory nach Granny White. Innerhalb weniger Minuten erreichten sie das schicke Viertel am See und bogen rechts auf den Otter Creek ab. Der Eingang zum Park lag eine halbe Meile die Straße hinauf. Eichen streckten ihre dicht belaubten grünen Arme über die Straße. Drei rote Pfosten hielten Autos davon ab, in das Naturschutzgebiet hineinzufahren. Zur linken Seite gab es einen Parkplatz, auf dem Taylor sich nun zu den weiteren Officers gesellte, die auf den Einsatz reagiert hatten.

Auf dem Platz standen einige Streifenwagen mit abgeschalteten Blaulichtern, was seltsam war. Tim Davis’ Van von der Spurensicherung parkte direkt am Anfang des Wanderweges.

Taylor und McKenzie stiegen aus. Taylor war überrascht von der grünen Schönheit der Umgebung und der absoluten Stille. Sie konnte kaum glauben, dass sie gerade mal zehn Meilen von Downtown Nashville entfernt waren.

Paula Simari stand gemeinsam mit einem blonden, sehr blassen weiblichen Parkranger neben ihrem Wagen. Max saß auf dem Rücksitz und drückte sich die Nase an der Scheibe platt.

Das Namensschild der Wildhüterin wies sie als R. Kilkowski aus. Eine braune Kunststoffbrille mit ovalen Gläsern ruhte auf ihrer unglaublich kleinen Nase. Als Taylor der Frau die Hand schüttelte, merkte sie, dass sie zitterte.

„Simari. Ma’am. Was ist passiert? Wieso kein Blaulicht?“

„Das stört die Tiere“, sagte die Wildhüterin. „Letzte Woche hatten wir drei Weißkopfadler, zwei Junge und einen Erwachsenen, im Park. Wir haben alle anderen Aktivitäten unterbrochen, weil wir hofften, dass sie hier nisten würden. Officer Simari war so freundlich, mir zuzustimmen, dass wir versuchen sollten, so wenig Trubel wie möglich zu veranstalten.“

Taylor hob eine Augenbraue, sagte aber nichts. Sie wusste, wie tödlich ernst man am Radnor Lake die Anstrengungen zum Naturschutz nahm. Es war der einzige geschützte Lebensraum für Tiere in der Nähe einer großen Stadt im ganzen Land. Radnor Lake war ein gut 480 Hektar großes Naturschutzgebiet mit einem unberührten See, vielen wild lebenden Tieren und einigen Wanderwegen. Weder Fahrrad fahren noch Picknicks waren erlaubt. Das fragile Ökosystem brauchte Sauberkeit, Stille und Ruhe. Dieser Vorfall würde für einigen Wirbel sorgen, so viel stand jetzt schon fest.

Die „Freunde“ des Radnor Lakes waren ein Auszug aus dem Who’s Who von Nashvilles Elite. Sie hatten viel Geld in die Erhaltung des Gebiets gesteckt. Der See war 1913 als Wasserreservoir und Jagdrevier für die L&N Railroad Company angelegt worden und hatte sich inzwischen zu einem aus privaten Mitteln finanzierten Naturreservat entwickelt. Taylor wusste, dass eine Leiche nicht sonderlich hoch auf dem Wunschzettel des Vorstands stehen würde.

Simari begrüßte McKenzie und tippte Taylor dann auf die Schulter. „Ich bin froh, dass du so schnell herkommen konntest. Du musst das selber sehen. Ich finde, es weist einige Ähnlichkeiten mit dem Love-Hill-Fall auf. Das Opfer ist weiblich, schwarz und unglaublich dünn.“

Taylor spürte, wie die ersten Spuren von Adrenalin durch ihren Körper rauschten. Sie hatte angenommen, es würde sich um einen ganz normalen Mord handeln. Wenn es so etwas überhaupt gab.

„Ertrunken?“

„Ich weiß nicht. Du musst es dir einfach anschauen. Ich will dich nicht beeinflussen.“ Simari nickte der Rangerin zu. „Gehen Sie bitte voran.“

„Muss ich?“ Kilkowskis Stimme zitterte. Ihre Augen hinter den Brillengläsern glänzten feucht.

Taylor beruhigte sie. „Machen Sie sich keine Sorgen. Sie müssen nicht hinschauen. Bringen Sie uns einfach auf den richtigen Weg.“ Das Mädchen nickte und fing an, den Weg entlangzugehen, der sich vom Parkplatz hügelaufwärts schlängelte. Sie bewegte sich steif wie eine Marionette. Taylor, McKenzie und Simari folgten ihr.

Simari warf Taylor einen Blick zu. „Es ist verdammt ruhig hier draußen. Ich bin überrascht, dass so etwas nicht öfter passiert. Nachts ist der Park geschlossen, da kommt hier niemand vorbei.“

„Gibt es eine Videoüberwachung?“, wollte Taylor wissen.

„Ja. Sie ziehen uns eine Kopie. Aber die Wachen haben nichts Verdächtiges gesehen, weder auf dem Band noch bei ihrem Rundgang. Wir müssen die Aufzeichnungen Bild für Bild durchgehen. Es gibt keine Kameras, die diesen Platz aufnehmen. Entweder er war sehr clever oder hat verdammtes Glück gehabt.“

„Oder er kennt den Park“, merkte McKenzie an.

Sie gingen ungefähr fünfzig Meter den Pfad hinauf, der, wie Taylor wusste, zum Damm führte. Sie schreckten eine Schar Krähen auf, die sich lautstark in die Lüfte erhoben und sich dann auf den Ästen der Bäume zu beiden Seiten des Weges niederließen und ihren Unmut weiter kundtaten. Mit ihren wachen schwarzen Augen beobachteten sie die vier Menschen genau. Taylor war kein großer Freund von Krähen. Sie hatte das Gefühl, die Tiere könnten ihre Gedanken lesen und nahmen sich vor ihr in Acht.

Sie hörte ein Krachen im Unterholz, bei dem alle zusammenzuckten und dann nervös lachten. Etwas Weißes blitzte durch die Zweige auf; Taylor nahm an, ein Reh. Ihr Herz brauchte einen Moment, bevor es zu seinem normalen Rhythmus zurückfand. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt, sie wartete nur darauf, dass ihr etwas Ungewöhnliches ins Auge sprang.

Neben dem Pfad, den sie jetzt entlanggingen, floss ein kleiner Bach. Er führte viel Wasser und floss friedlich dahin. Die Regenfälle der letzten Wochen hatten die Wasserstände ordentlich in die Höhe getrieben. Taylor schaute sich am Ufer um und sah eine Schlange, die gerade mit erhobenem Kopf ins Wasser glitt. Vermutlich eine Wassermokassinotter. Während sie durchs Unterholz streiften, blieben die lauten Rufe der Krähen immer weiter zurück und machten einer durchdringenden Stille Platz. Der See war ruhig, die Geräuschlosigkeit beinahe ohrenbetäubend, erfüllt von den Rufen lebender Kreaturen.

Taylor erinnerte sich an diesen Teil des Weges. Sie war Teil der Suchmannschaft für Perry Marchs Frau Janet gewesen. Die Tage der fieberhaften Suche nach ihr hatten sich zu Wochen und Monaten hingezogen und schließlich waren Jahre vergangen. Sie war damals noch auf der Polizei-Akademie und Leiterin eines der Suchtrupps gewesen und hatte tagelang zu Fuß die Wälder durchstreift und unter jeden Baum und Strauch geschaut.

Janes Leiche ist nie gefunden worden, aber Perry March war nach mehreren Jahren in Mexiko, in denen er seine Unschuld beteuert hatte, ausgeliefert und vor Gericht gestellt worden. Nachdem sein Vater gestanden hatte, ihm bei der Entsorgung von Janets Leiche geholfen zu haben, war er verurteilt worden. Taylor hoffte, er würde im Gefängnis verrotten – er war der Grund für eine Menge Herzschmerz unter Nashvilles Bevölkerung. Sie hatte immer gewusst, dass er es getan hatte; seine eingebildete Selbstgefälligkeit, mit der er glaubte, davongekommen zu sein, hatte ihn verraten. Wie so oft bei Männern wie ihm.

Die Sonne wurde von einem kleinen Wolkenband verdeckt. Ein Sturm braute sich zusammen. Taylor fing an, sich Sorgen um die Beweissicherung zu machen. Sie bogen um eine Kurve, und vor ihnen breitete sich der See aus. Seine Oberfläche kräuselte sich sanft in der leichten Brise. Es war ein überwältigender Anblick – Schönheit und Grauen miteinander vereint. Zwanzig Meter zu ihrer Rechten sah Taylor, wie Tim Davis sich mit der Kamera in der Hand auf der anderen Seite des Pfades einen Weg suchte.

„Die Leiche ist nicht im See?“

Die Stimme der Wildhüterin zitterte. „Nein. Sie ist im Otter Creek.“

Taylor schaute in den fließenden Bach. Glasklar konnte sie das Objekt von Tims Aufmerksamkeit erkennen – ein Körper, der im flachen Wasser schwebte. Ein paar Menschen standen herum, schauten zu, machten sich Notizen.

Ranger Kilkowski gab ein kleines, wimmerndes Geräusch von sich und übergab Taylors Crew an einen gut aussehenden Mann mit silbergrauen Haaren, gebräunter Haut und blauen Augen, die von einem Netz feiner Fältchen umgeben waren.

Er kam das Ufer heraufgeklettert und streckte seine Hand aus. Im Gegensatz zu der schüchternen Kilkowski war er das reinste Energiebündel.

„Hey, ich bin Dick Harkins. Park Manager. Schön, Sie kennenzulernen, auch wenn ich mir andere Umstände gewünscht hätte.“ Er deutete auf das, was sich am Wasser abspielte.

Taylor stellte ihre Gruppe vor. „Haben Sie die Leiche gefunden?“, wollte sie dann von Dick Harkins wissen.

„Ja. Ich habe einen Rundgang gemacht, ein paar Sachen nachgeschaut. Irgendetwas hat meine Aufmerksamkeit erregt. Ein Farbfleck. Ich dachte, es wäre vielleicht ein Stück Stoff, irgendetwas, das jemand weggeworfen hatte. Doch stattdessen …“

Eine Trauerweide ließ ihre Zweige ins Wasser hängen. Ein heruntergefallener Ast ragte aus dem steinigen Ufer. Gemeinsam bildeten sie einen schattigen Tunnel. Trotzdem konnte Taylor alles gut erkennen. Sie atmete tief durch und machte sich daran, das steile Ufer hinunterzuklettern.

Eine kleine Frau tanzte leise auf den Wellen, bewegte sich im Rhythmus des kleinen Wasserlaufs. Sie lag auf dem Rücken, Mund und Augen geöffnet, Arme seitlich ausgestreckt. In ihrer rechten Hand hielt sie einen Blumenstrauß, einige Blüten rot, einige blau, einige gelb. Ihr Hals war umringt von Blumen, Veilchen, wie es aussah. Sie trug ein langes, fließendes Gewand, das an ihren Beinen klebte und diese in weißer Baumwolle nachzeichnete. Der Rock hatte sich an dem heruntergefallenen Ast verhakt. Das schien der Grund zu sein, warum sie hier gelandet war. Taylor spürte instinktiv, dass dieses Mädchen eigentlich hätte treiben sollen.

„Tim, sag mir, dass du alle Einzelheiten dokumentiert hast“, sagte sie.

Tim gesellte sich mit vorsichtigen Schritten zu ihr. „Das habe ich.“

„Ich muss Baldwin herbringen. Und zwar sofort.“

„Was ist hier los? Es sieht so gestellt aus.“

„Es ist gestellt. Komplett. Dieses Mal weiß ich, was er versucht, zu sagen. Das muss derselbe Mörder sein.“