29. KAPITEL

Die Headline des Tennessean ließ Taylor mit den Zähnen knirschen.

Zweite Leiche gefunden

Treibt ein Serienmörder sein Unwesen auf Nashvilles Straßen?

Besorgt las sie den Artikel, aber abgesehen von der Postkarte am Radnor Lake enthielt er nicht die ganze Geschichte. Niemand hatte bisher eine Verbindung zu den Morden in Italien hergestellt.

Sie tätigte einen Anruf bei Dan Franklin, dem Sprecher des Departments, und warf ihm den Kram in den Schoß. Sollte er sich darum kümmern. Einen winzigen Augenblick war sie froh, nur ein einfacher Detective zu sein. Franklin und Elm würden in der ersten Reihe stehen und die Prügel von der Presse kassieren – sie konnte ihre Zeit darauf verwenden, weiter in dem Fall zu ermitteln.

Sie setzte eine Kanne Tee auf. Die Morgensonne fiel durch das Küchenfenster. Taylor fühlte sich gut. Nach ihrer mitternächtlichen Fahrt durch Nashville hatte sie ein paar Stunden geschlafen. Sie hatten ein paar der Adressen bestätigen können, aber richtig weiter hatte sie das auch nicht gebracht. Doch heute war ein neuer Tag. Es gab einen Mörder zu fassen, und sie hatte vor, genau das zu tun.

Sie musste Baldwin über die undichte Stelle informieren. Er hatte ihr irgendwann in den frühen Morgenstunden zu Hause eine Nachricht hinterlassen, dass er gut in Quantico angekommen war. Es tat ihr inzwischen leid, ihn gestern Abend so angefahren zu haben. Aufgrund Sams Warnung und ihrer eigenen Neigung zu Dummheiten hatte sie vollkommen überreagiert. Es war so leicht, ihr zu schmeicheln. Sobald Baldwin das Profil geliefert hatte, würde Memphis nach England zurückkehren und Baldwin nach Nashville, und gemeinsam würden sie diesen Mörder schnappen. Ohne dass jemand Drittes sich zwischen sie drängelte.

Taylor klemmte das Telefon zwischen Ohr und Schulter ein. Es klingelte ein Mal, zwei Mal, drei Mal. Dann hörte sie Baldwins raue, verschlafene Stimme. Er klang angespannt, taute aber sofort auf, als er erkannte, wer ihn da anrief.

„Hey Babe, hab ich dich geweckt?“

„Selber hey. Nein, ich war schon wach. Oder so ähnlich.“ Er gähnte.

„Klingt, als ob du gestern genauso lange wach gewesen bist wie ich.“

„Ja, das kann gut sein. Unsere Konferenz mit der Met ist in einer Stunde. Ich trinke gerade so viel Kaffee wie nur möglich. Wie geht es dir?“

„Ich bin auch müde. Ich habe die halbe Nacht damit verbracht, an Türen zu klopfen und die Adressen zu den Namen aus dem Impressum der Picasso-Monografien zu überprüfen. Ich habe sie zwar mit allen möglichen Datenbanken abgeglichen – Führerschein, Fahrzeugregister – aber ich hatte gehofft, dass du auch noch mal einen Blick in eure Datenbanken werfen könntest.“

„Soll ich nach dem weißen Prius schauen?“

„Ja, und den dazugehörigen Namen. Mein Informant hat gesehen, dass Allegra Johnson und Leslie Horn in einen Prius eingestiegen sind. Das war das letzte Mal, dass er sie lebend gesehen hat. Also ist diese Schlussfolgerung nur logisch.“

„Ja, ich weiß. Ich halte es nur für höchst unwahrscheinlich, dass ein so organisierter Täter dumm genug wäre, sein eigenes Auto zu verwenden. Aber ich gebe es mal ins System ein, wer weiß, was dabei herauskommt. Fax mir die Namen einfach rüber, ich setze Pietra darauf an.“

„Muss nett sein, Mitarbeiter zu haben.“

„Wieso? Was ist bei dir los?“

„Ich hatte noch gar keine Gelegenheit, es dir zu erzählen. Ich glaube, mein Nachfolger hat Alzheimer. Und ich mache keine Witze. Ich habe gestern Abend mit Percy gesprochen und ihn gebeten, sich der Sache anzunehmen. Aber ich habe ein noch viel größeres Problem. Die Presse weiß gerade genügend Einzelheiten, um für unsere Ermittlungen gefährlich zu werden. Wir müssen diesen Irren schnappen, bevor sie sich die ganze Geschichte zusammenreimen und eine internationale Krise auslösen.“

„Wir kommen näher, das spüre ich.“

„Ich hasse es, dass wir so getrennt voneinander arbeiten müssen. Aber dass wir kurz vor dem Durchbruch stehen, glaube ich auch. Wann kommst du zurück?“

„Heute Nachmittag bin ich wieder in Nashville. Nach der Präsentation – und nachdem ich Lord James nennen Sie mich Memphis Highsmythe, den Viscount Dulsie, von der Backe hab.“

„Ach komm, so schlimm ist er auch nicht.“ Sie konnte nicht glauben, dass sie das gerade gesagt hatte. Er war so schlimm, wenn nicht noch schlimmer. Seit wann verteidigte sie ihn? „Außerdem dachte ich, dass du ihn magst.“

„Ich mag ihn ja auch. Er ist ein guter Cop, klug, intuitiv. Er verleiht dem Begriff ‚sich durch nichts erschüttern lassen‘ nur eine vollkommen neue Bedeutung. Normalerweise erstelle ich keine Profile von Leuten, mit denen ich zusammenarbeite, aber er leidet fürchterlich. Das überkompensiert er, indem er versucht, seinen Mitmenschen unter die Haut zu gehen, damit sie sich genauso unbehaglich fühlen wie er selber. Du hast es ja mitbekommen. Er ist ein sehr fähiger Ermittler. Ich denke, er braucht einfach mehr Arbeit, das ist alles.“

„Wie auch immer, ich bin froh, dass du zurückkommst. Ich will diesen Fall lösen. Ich vermisse dich.“

„In der Reihenfolge?“, zog er sie auf.

„Nein. Zu allererst vermisse ich dich. So, bist du nun glücklich?“

„Sehr, meine Liebe. Wir sprechen uns später.“

„Viel Glück mit dem Profil“, sagte sie. Nachdem sie aufgelegt hatte, trank sie einen Schluck Tee. James Memphis Highsmythe. Sie wusste genau, wovon Baldwin gesprochen hatte. Zumindest ihr war der Viscount ein wenig zu sehr unter die Haut gegangen.

Sie schob den Gedanken beiseite, spülte die Tasse aus, steckte die Glock in den Halfter, klemmte die Marke an den Gürtel und machte sich auf den Weg nach Downtown.

McKenzie saß bereits an seinem Schreibtisch, als sie eintrat. Neben seinem Ellbogen stand ein dampfender Latte macchiato im Pappbecher. Der Geruch ließ Taylors Magen knurren.

McKenzie dreht sich lächelnd zu ihr um. „Ich hab dir auch einen mitgebracht. Steht auf deinem Tisch.“

„Danke. Das ist süß. Wie geht es dir heute Morgen?“

„Hast du es noch nicht gehört?“

„Was?“

„Elm ist weg. Er ist auf unbestimmte Zeit krankgeschrieben. Ich wusste gar nicht, dass er gesundheitliche Probleme hatte.“

„Oh.“ Taylor setzte sich an ihren Tisch und nahm den Starbucksbecher in die Hand. „Hör mal, was das angeht … ich habe gestern Abend mit unserm Gewerkschaftsvertreter über ihn gesprochen.“

„Du hast eine Beschwerde eingereicht?“ McKenzies Augenbrauen schossen fragend in die Höhe.

„Nein, nichts dergleichen. Ich glaubte nur herausgefunden zu haben, wieso er so unberechenbar war.“

„Warum?“

Sie schaute ihn einen Moment lang an. Er war in den letzten Tagen verdammt ehrlich mit ihr gewesen. Sie entschloss sich, jetzt auch ehrlich zu ihm zu sein. Ihr Leben würde sehr viel einfacher werden, wenn sie ihm vertrauen könnte.

„Kannst du dichthalten?“, fragte sie.

„Natürlich.“

„Alzheimer.“

McKenzie lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Das ergibt Sinn.“

„Du kennst dich damit aus?“

„Ja. Mein Dad. Er ist inzwischen in einem Pflegeheim. Nach dem Tod meiner Mutter konnte ich mich nicht mehr um ihn kümmern.“ Er zählte einfach die reinen Fakten auf, ohne auf Mitleid aus zu sein.

„Mein Gott, McKenzie, das tut mir leid.“

Er lächelte traurig und trank einen Schluck Kaffee. „Tja, was soll man machen? Ich hatte bei Elm auch das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt, aber ich wollte nichts sagen.“

„Warum?“

„Es wäre nicht höflich gewesen.“

In diesem Moment entschied Taylor, dass sie Renn McKenzie mochte.

„Hast du sonst noch was gehört?“, fragte sie ihn.

„Zum Beispiel, wer ihn ersetzen soll? Nein.“ Aber er lächelte sie an, und sie entspannte sich. Es hatte keinen Zweck, sich über Managementfragen den Kopf zu zerbrechen. Sie musste einen Mörder fangen und einer heißen Spur folgen. Schnell informierte sie McKenzie über ihre nächtliche Irrfahrt.

Er war sichtlich betrübt. „Du hättest mich anrufen sollen, bevor du allein durch die Stadt ziehst. Ich habe mich doch nur mit Bangor unterhalten. Das hätte ich jederzeit unterbrechen können, um dir Rückendeckung zu geben. Es hätte doch sonst was passieren können.“

„McKenzie, ich bin ein großes Mädchen. Ich kann schon allein auf mich aufpassen. Außerdem hat Parks mich begleitet. Es war also alles gut.“

„Wie die Sache im Moment steht, bist du aber nun mal meine Partnerin. Wenn etwas schiefgeht und ich nicht da wäre, würde ich mich schlecht fühlen. Also beim nächsten Mal ruf mich einfach an, okay? Ich schlafe sowieso nicht viel.“

„Lustig, ich auch nicht. Okay, versprochen. Was hatte Bangor zu erzählen? Hast du irgendwelche interessanten Geheimnisse erfahren?“

McKenzie errötete. Sie fragte sich, was von dem, was sie gesagt hatte, ihn so erschreckt hatte. Doch er erholte sich schnell und antwortete ihr mit vorgetäuschter Lässigkeit.

„Oh, dies und das. Wir haben uns hauptsächlich über Filme unterhalten. Er ist ein faszinierender Mann. Wir haben allerdings keine Verbindung zu dem Johnson-Mädchen finden können. Was mir jedoch aufgefallen ist, er ist ein großer Unterstützer des Frist Centers. Er spendet alle naselang Geld, damit sie Ausstellungen organisieren können. Im Moment sponsert er einen Teil einer neuen Ausstellung, die aus Italien kommt. Vor ungefähr einem Monat gab er zu diesem Zweck eine Spendenparty in seinem Haus. Er ist also eng mit der Kunstszene in dieser Stadt verbunden.“ Er lächelte verschmitzt, und Taylor erkannte, worauf er hinauswollte.

„McKenzie, hast du etwa eine Gästeliste von der Party?“

Jetzt grinste er. „Natürlich. Ich dachte, wir könnten die Namen mit denen abgleichen, die wir bisher haben und gucken, ob es Übereinstimmungen gibt.“

Sie klopfte ihm auf die Schulter. „Gute Arbeit, Kleiner. Genau solche Sachen brauchen wir. Großartig. Machen wir uns an die Arbeit. Ich denke, wir sollten ein paar Streifenwagen zu den Adressen schicken, die mir gestern Abend unbewohnt vorkamen. Du und ich nehmen uns diejenigen vor, die vielversprechender aussehen. Aber erst einmal gehen wir die Gästeliste durch, um zu sehen, ob irgendein Name aus dem Impressum oder eines Prius-Besitzers darauf auftaucht.“

In dem Moment betrat Rowena Wright das Büro. „Detective Jackson?“, sagte sie, um Taylors Aufmerksamkeit zu erregen.

Taylor drehte sich um und lächelte Rowena an, doch als sie das graue, verhärmte Gesicht der älteren Frau sah, sprang sie sofort auf und lief zu ihr. Rowena wirkte, als wäre sie über Nacht zwanzig Jahre gealtert.

„Rowena, was ist los?“

„Meine Nichte. Kendra. Sie ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen. Ihr Vater hat mich gerade angerufen. Er hat ihr Auto am Straßenrand gefunden, abseits vom Highway 96 in Williamson County.“

„Irgendwelche Anzeichen von Fremdeinwirkung?“, fragte McKenzie. Taylor warf ihm einen scharfen Blick zu. Das war nicht gerade die Frage, die man einer aufgelösten Tante stellte.

Rowena überlief ein Schauer. „Nein. Nichts. Sie ist nicht an ihr Handy gegangen. Das Mädchen lebt förmlich dafür, SMS zu verschicken, aber keine ihrer Freundinnen hat etwas von ihr gehört. Ich habe gerade eine Vermisstenanzeige aufgegeben, aber ich wollte auch mit Ihnen sprechen. Sie bitten, persönlich nach ihr Ausschau zu halten. Sie ist ein gutes Mädchen. Dickköpfig, dumm, aber so eine Liebe. Sie ist … ich … ich könnte es nicht ertragen, wenn ihr etwas Schlimmes zugestoßen ist.“

„Ich tue alles, was ich kann, Rowena. Wie lautet ihr voller Name?“

„Kendra. Kendra Kelley.“

„Haben Sie ein Foto? Und können Sie mich telefonisch mit ihrem Vater verbinden?“

„Ja, das kann ich.“

„Dann gehen wir in Elms Büro und fangen an, ein paar Anrufe zu tätigen. McKenzie, du kommst mit.“

Rowena zog ein Foto aus ihrer großen Handtasche. Sie reichte es Taylor, die spürte, wie die Luft aus ihren Lungen entwich. Kendra war klein und zierlich. Sie trug ihr langes Haar in fein geflochtenen Zöpfen.

Eine perfekte Kandidatin für Il Macellaio.

Taylor schaute McKenzie an. „Die Überprüfung der Adressen ist soeben zu unserer obersten Priorität geworden.“

Baldwin legte nach dem Gespräch mit Taylor auf und verzog das Gesicht. Er schüttete sich drei Kopfschmerztabletten in die Hand und stellte das Wasser in der Dusche an. Er war mit bösen Kopfschmerzen aufgewacht, die von Sekunde zu Sekunde schlimmer wurden.

Das ging ihm nach Scotch immer so. Er und Memphis hatten ordentlich getrunken, ein paar Geschichten erzählt, die Flasche geleert und waren dann um vier Uhr morgens in ihre Betten gekrochen. Er war einfach zu alt, um einen Kater zu haben, vor allem, wenn er am Abend vorher gar nicht betrunken gewesen war.

Doch nichts davon war jetzt wichtig. Er musste sich einzig und allein auf Il Macellaio konzentrieren.

Er duschte, rasierte sich und verließ die Wohnung, die er für solche Besuche hier in Quantico behalten hatte. Der FBI-Campus lag nur fünf Minuten entfernt, und als er durch die Pforte ging, waren seine Kopfschmerzen verschwunden. Er dachte über das Profil nach.

Als Berater musste er auf das Ganze schauen, nicht nur auf die Summe aller Teile. Und für einen so großen Fall wie diesen hatte er das Gefühl gehabt, ein volles Team zu benötigen – also hatte er erst Wills und Charlaine dazugeholt, dann einen forensischen Experten und schließlich noch einen Computerspezialisten. Pietra war seine forensische Geheimwaffe. Kevin Salt war der talentierteste Computerexperte, den sie hatten. Baldwin betrat die Büroräume und ging den Flur weiter hinunter bis zu Kevins Arbeitsplatz. Er klopfte an die Wand, ein kleines Echo ertönte.

„Kevin, das Briefing für Il Macellaio fängt in fünf Minuten an. Bist du fertig?“

„Bin ich, Chief. Ich habe alles hier drin und werde dann schon mal aufbauen gehen.“ Er zeigte auf seinen Laptop, den er sich dann unter den Arm klemmte und den Flur hinuntertrug. Er war unglaublich groß, beinahe zwei Meter, und weißer als ein gestärktes Taschentuch. Seinen Kopf krönten feuerrote Haare. Er hatte Basketball für die UCLA gespielt, sich aber im letzten Spiel des Abschlussjahres das Knie verletzt. Er wäre gut genug für die NBA gewesen, die Lakers und die Nuggets hatten ihn unter Vertrag nehmen wollen. Eine verdammte Schande, aber Baldwin hatte die Ergebnisse von Kevins Einstellungstests beim FBI gesehen und kümmerte sich seitdem um ihn. Taylor hatte ihren Lincoln, aber Baldwin würde Geld darauf setzen, dass Kevin ihn übertraf. Es würde allerdings ein knapper Kampf zwischen zwei sehr unterschiedlichen und talentierten Männern.

Er ging weiter zu Pietras Arbeitsplatz. Sie sah müde aus, begrüßte ihn aber mit einem Lächeln.

„Pietra, in fünf Minuten beginnt das Briefing.“

„Ich bin schon auf dem Weg“, sagte sie. „Ich hole noch Charlaine und Wills. Der Brite ist schon im Konferenzraum. Er ist schon wieder putzmunter heute Morgen.“

„Das ist nicht fair. Er war auch die ganze Nacht auf. Danke, Pietra. Ich hole mir nur noch schnell einen Kaffee und bin dann gleich bei euch.“

Er ging in die Kaffeeküche, wo ihm vom Duft des frisch gebrühten Kaffees ganz schwindelig wurde. Er goss sich eine Tasse ein und trank sie in einem Zug aus. Dann goss er sich noch einmal nach. Koffein sauste durch seine Venen, und er fühlte sich etwas wacher. Es war an der Zeit, das hier zu einem Ende zu bringen.

Wir sind bereit, dich zu schnappen, du Scheißkerl.