EPILOG
Erst als der Rettungswagen auf seiner rasanten Fahrt zum Strand den Meilenstein Nummer sechs passierte, wurde sich Daria der Ironie der Situation vollends bewusst. Hier war sie also, fast ein Jahr nach dem Flugzeugabsturz, auf dem Weg zu einem weiteren Unfall, der sich im Wasser ereignet hatte. Dieses Mal ging es um einen frühmorgendlichen Surfunfall, um den sie sich kümmern mussten.
Daria war wieder Rettungsassistentin mit Leib und Seele. Die Dämonen, die sie nach dem Tod der Pilotin verfolgt hatten, waren endgültig besiegt, und als der Einsatzwagen am Ende der Straße anhielt, spürte sie keinerlei Beklemmungen. Sie und Mike sprangen aus dem Krankenraum und liefen auf das Grüppchen zu, das sich um den verunglückten Surfer scharte. Die Leute machten ihnen den Weg frei, und erst da sah Daria, dass es sich um eine Frau handelte. Mit einem nassen Neoprenanzug bekleidet, lag sie im kalten Sand, während ein anderer Surfer ihr ein Handtuch gegen den Kopf presste.
Daria und Mike ließen sich neben der Frau auf die Knie fallen. Sie war bei Bewusstsein und lachte sogar ein bisschen über das, was ihr Surfkollege ihr erzählte.
“Ihr Brett hat sie am Kopf erwischt”, berichtete der Mann. “Sie war für ein, zwei Minuten bewusstlos, aber jetzt scheint es ihr schon besser zu gehen.”
Daria kontrollierte die Vitalfunktionen der Frau, während Mike die Platzwunde am Kopf versorgte. Sie waren gerade dabei, sie an der Trage festzubinden, als Daria zufällig aufsah und Shelly in der Menge erblickte – die kleine Mattie in einem Tragetuch vor ihrer Brust. Die Schwestern winkten sich kurz zu, und Daria fiel ein, dass Shelly am Abend für alle kochen wollte.
In wenigen Stunden käme Rory in Kill Devil Hills an. Er lebte dieser Tage an beiden Küsten des Landes: von Montag bis Donnerstag in Kalifornien und die restliche Zeit im Sea Shanty. Hin und wieder kam er in Begleitung von Zack. Wenn sie dort waren, verwandelte sich das Cottage in eine Oase des Lebens, vor allem, da auch Andy, Shelly und Mattie dort lebten. Daria hatte einfach sichergehen müssen, dass die zwei auch ohne ihre Hilfe für das Baby würden sorgen können. Doch mit der Zeit hatte das junge Ehepaar ihre Zweifel mehr und mehr zerstreut: Shelly wie Andy erwiesen sich als aufmerksame und liebevolle Eltern.
Die Woche über, wenn Rory nicht bei ihr war, sah Daria sich ihn bei “True Life Stories” an. Es war seltsam, ihn im Fernsehen zu sehen und zu wissen, dass er zu ihr gehörte – und dass sie die einzige wahre Geschichte des Lebens zusammengebracht hatte, über die er niemals in der Öffentlichkeit sprechen würde.
Nachdem die Surferin mit dem Rettungswagen abtransportiert worden war, löste sich die Gruppe der Schaulustigen schnell auf, und Shelly schlenderte zu Mattie sprechend nach Hause. In dem vergangenen Monat hatte sie Darias überfürsorgliche Art verstehen gelernt, da sie selbst nun die gleichen Gefühle hegte. Sie bekam von ihrer vier Wochen alten Tochter einfach nicht genug. Sie konnte sich stundenlang ansehen, wie Mattie ihre winzigen Fäuste ballte und dann die Fingerchen wieder streckte, oder verzückt den Ausdruck auf ihrem Gesicht betrachten, der einem Lächeln zu ähneln begann. Dann betete Shelly stets, ihr Baby möge gesund sein. In der Zeit unter Wasser hatte sie Mattie die Sauerstoffzufuhr abgeschnitten; niemand konnte mit Sicherheit sagen, wie lange sie und ihr Baby tatsächlich ohne Sauerstoff gewesen waren, und sie selbst hatte keinerlei Erinnerungen an jene Nacht.
Sie hatte Mattie auf einer speziellen Entbindungsstation im Krankenhaus von Elizabeth City zur Welt bringen müssen, da ihre Ärztin gefürchtet hatte, das Baby könnte krank sein. Doch Mattie hatte sie alle überrascht. Sie kam unversehrt zur Welt und schien auch jetzt noch vollkommen gesund. Doch auch Shelly hatte man, solange sie ein Baby war, den Hirnschaden nicht angemerkt. Erst wenn Mattie lernen würde, sich die Schnürsenkel zu binden oder zwei und zwei zu addieren, würde sich zeigen, ob der Sauerstoffmangel ihr Schaden zugefügt hatte.
Wenn Shelly zu lange darüber nachdachte, brachte sie das immer noch zum Weinen. Doch Chloe half ihr, mit den Schuldgefühlen fertig zu werden; Chloe wusste alles über Schuldgefühle. Mehrere Male in der Woche rief sie Shelly aus Georgia an, wo sie zwar noch unterrichtete, jedoch keine Nonne mehr war. Dann sagte sie Shelly, wie leid es ihr tue, ihr einen so harten Start ins Leben bereitet zu haben. Doch Shelly trug es ihr nicht nach. Auch wenn es niemand aussprach, wusste sie, dass Chloe zu den Frauen gehörte, die nicht zur Mutter geboren waren. Chloe liebte sie, dessen war Shelly sich sicher. Aber es war eher eine schwesterliche denn eine mütterliche Liebe. Von letzterer bekam sie dennoch genügend – von Daria.
Während der vergangenen acht Monate hatte Shelly eine Metamorphose durchlebt. Mit diesem Wort hatte Zack ihre Verwandlung bei seinem letzten Besuch in Kill Devil Hills beschrieben, und Shelly mochte, wie es sich in ihrem Mund anfühlte. Ohne Zweifel war sie eine stärkere Persönlichkeit geworden. Sie ging zu einem Therapeuten, der ihr half, die Angst vor dem Verlassen der Outer Banks zu besiegen. Natürlich dachte er, ihre Fortschritte seien sein Verdienst, doch in Wahrheit war es der Erfolg ihrer Tochter. Mattie schaffte, was niemand zuvor erreicht hatte: Sie machte Shelly furchtloser. Shelly stellte fest, dass sie sich unmöglich mit ihren eigenen Ängsten auseinandersetzen konnte, wenn sie sich auf Mattie und ihre Bedürfnisse konzentrierte. In der letzten Woche waren sie und Andy mit dem Baby den ganzen Weg nach Greenville zu einem Spezialisten gefahren, und erst auf dem Heimweg war sich Shelly ihrer enormen Leistung bewusst geworden. Andy war stolz auf sie, und sie war es auch.
Ihre Familienverhältnisse hatten sich ziemlich verkompliziert: Sie hatte jetzt einen Vater – einen großartigen Vater. Nach zwei Monaten begann sie, Rory “Dad” zu nennen. Anfangs hatte es sich komisch angefühlt, und sie hatten jedes Mal lachen müssen. Doch inzwischen war es ganz natürlich. Nur wenige Wochen zuvor waren Rory, Daria, Shelly und Andy zum Abendessen ausgegangen und hatten festgestellt, wie verworren der Stammbaum der Catos geworden war. Rory und Daria wollten im Sommer heiraten. Dann, bemerkte Rory, sei Daria Shellys Schwester und Stiefmutter sowie Matties Tante, Großtante und Großmutter. Außerdem habe Shelly einen neuen Halbbruder – Zack – zu ihren beiden Schwestern gewonnen, von denen eine ihre Mutter und die andere ihre Tante sei. Andy hatte lachend festgestellt, in welch verrückte Familie er eingeheiratet habe.
Irgendwann würden Shelly, Andy und Mattie die Outer Banks verlassen. Obwohl sich alles, was Shelly jemals zum Glücklichsein brauchen würde, auf diesem schmalen Streifen Land befand, wollte sie für Mattie mehr als das, was Kill Devil Hills zu bieten hatte. Andy sprach davon, wie gern er einmal in Kalifornien leben würde, und Shelly konnte sich immer besser vorstellen, eines Tages dorthin zu gehen. Doch wohin es sie auch verschlagen würde, sie freute sich auf den Tag, an dem sie mit einer älteren Mattie auf die Outer Banks zurückkehren würde. Dann würde sie mit ihr am frühen Morgen ausgedehnte Strandspaziergänge machen und ihr die Namen der Muscheln beibringen. Sie würde mit ihrer Tochter lange genug in Kill Devil Hills bleiben, sodass der Duft des Meeres auch Teil ihrer Seele würde. Die Tage, die sie mit Andy und Mattie, Chloe, Daria, Rory und Zack im Sea Shanty verbrächte, wären ausschließlich für die Familie reserviert.
Und sie würde Mattie die Geschichte von dem Mädchen erzählen, das eines Morgens am Strand einen Pfeilschwanzkrebs-Panzer umgedreht und ihnen beiden die Chance zu leben gegeben hatte.
– ENDE –