40. KAPITEL
“Was ist das?” Bei dem hämmernden Geräusch zuckte Daria zusammen. Sie und Rory waren in ein Gespräch vertieft gewesen, doch das plötzliche Hämmern an der Verandatür hatte sie unterbrochen. Sie stand auf und durchquerte den Raum.
“Vielleicht hat sich einer der Sturmläden gelöst”, mutmaßte Rory, während er ihr folgte.
Daria sah, wie jemand die Fliegengittertür öffnete und auf die Veranda trat. Sie dachte schon, Don Tibble sei mit Neuigkeiten von Shelly zurückgekommen, und sogleich schlug ihr Herz schneller. Erst als der Mann ins Wohnzimmer platzte, erkannte sie Andy. Er trug kein T-Shirt unter dem Ölzeug, das lange Haar war offen und triefnass, und Wasser lief über sein Gesicht.
“Andy!” Sein Anblick versetzte sie in Alarmbereitschaft. “Was machst du hier? Warum bist du nicht auf dem Festland?”
“Ich brauche euch zwei.” Andy schnappte nach Luft. “In der Nähe meines Hauses gab es einen Unfall. Das Boot von meinem Nachbarn ist kopfüber auf den Steg geflogen und hält nun seinen kleinen Jungen und seine Frau gefangen.”
Daria erstarrte. Sie wollte gerade sagen: Ich bin keine Sanitäterin mehr, doch sie wusste, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt war, sich ihren Ängsten hinzugeben. Also lief sie ins Wohnzimmer, zog Turnschuhe an und band sie in der Hocke zu. “Hast du 911 gerufen?”, fragte sie.
Andy nickte. “Dafür wurde gesorgt.”
“Dann los.” Sie griff nach zwei Taschenlampen, gab eine davon Rory und befestigte dann ihr Handy am Hosenbund.
Als sie von der Veranda auf den Vorplatz traten, war es, als gerieten sie in einen Windkanal. “Weißt du, wie hoch die Windgeschwindigkeit ist?”, fragte sie Andy auf dem anstrengenden Weg zu seinem Wagen. Er hörte sie nicht. Die Frage wurde vom Sturm verschluckt. Falls es über hundert Stundenkilometer waren, wären sie auf sich gestellt. Der Freiwillige Rettungsdienst würde dann nicht mehr ausrücken.
Sie kletterten in Andys Auto und fuhren los. Der Hurrikan malträtierte den alten Van.
“Ich denke, die Windstärke ist zu hoch, als dass sie einen Wagen rausschicken”, befürchtete Daria. “Weißt du, wie hoch die Wind…”
“Hör mal, Daria”, unterbrach Andy sie. “Du musst wissen, dass Shelly bei mir ist.”
Was? Einen Moment lang war sie sprachlos. Shelly war in Sicherheit. Aber wie war sie in Andys Haus gekommen? “Sie ist bei dir?”, fragte sie. “Warum sollte sie zu dir gehen?”
“Geht es ihr gut?”, erkundigte sich Rory.
“Ja. Sie ist dortgeblieben, um den Rettungsdienst zu rufen.”
“Ich verstehe nicht, warum Shelly zu dir gegangen ist”, meinte Daria. “Tut mir leid, dass sie dich in diese Lage gebracht hat, Andy. Dass du sie … verstecken musstest.”
Andy sah zu ihr hinüber, richtete den Blick jedoch schnell wieder auf die Straße. “Ganz so ist es nicht”, entgegnete er.
“Wie meinst du das?”
Sie spürte Rorys Hand auf ihrer Schulter. “Das können wir doch später klären”, meinte er. “Hauptsache, wir wissen, dass es Shelly gut geht.” Daria hatte das Gefühl, dass er etwas verstand, das zu verstehen sie noch nicht bereit war.
Sie bogen in Andys Auffahrt ein, und Daria sah zu dem Steg hinüber. Irgendetwas ging dort vor sich. Sie konnte das Aufleuchten einer Taschenlampe sehen, doch darüber hinaus erkannte sie nichts. Weder, wo der Steg endete, noch, wo die Bucht begann.
“Kannst du dein Auto näher an den Steg heranfahren”, fragte Rory, “und die Scheinwerfer anlassen?”
Andy fuhr über den Sandhaufen, den der Sturm in seinen Garten getragen hatte, bis die Scheinwerfer seines Autos den Steg erhellten und sie das Drama erkennen konnten, das sich dort abspielte. Das Boot lag kopfüber auf dem Steg. Die beiden Personen daneben winkten ihnen panisch zu, und Daria glaubte, in einer von beiden Shelly zu erkennen.
Sie und Rory folgten Andy zum Steg. Sie versuchten zu rennen, doch es war, als liefen sie durch Schlamm. Nicht nur der Sturm machte Darias Beine schwer wie Blei, sondern vor allem die Angst. Sie fürchtete sich vor dem, was sie auf dem Steg erwarten würde. Früher war sie Notfällen mit Mut, Selbstvertrauen und einer gehörigen Portion Adrenalin begegnet. Das Adrenalin war noch immer da, doch den Mut und ihr Selbstvertrauen hatte sie am Unfallort jenes fatalen Flugzeugabsturzes zurückgelassen.
“Die Telefonleitung war tot”, rief Shelly Andy zu. “Ich konnte den Rettungsdienst nicht rufen.”
Daria löste ihr Mobiltelefon vom Hosenbund und drückte es Shelly in die Hand. “Geh ins Haus und ruf an.” Sie musste sich anstrengen, damit ihre Stimme durch den Sturm bis zu ihrer Schwester drang. “Sag ihnen, wir müssen zwei Personen unter einem Siebenmeterboot hervorholen.” Daria wusste, dass sie von Glück reden könnten, wenn überhaupt jemand den Anruf entgegennähme, und erst recht, wenn sie die Ausrüstung bekämen, die sie zur Bergung der Opfer vermutlich brauchen würden.
“Nein, bleib hier!”, schrie Andys Nachbar Shelly an. “Wir brauchen hier jede Hand, um das Boot anzuheben.”
Daria gab ihrer Schwester einen kleinen Schubs. “Geh, Shelly.” Dann wandte sie sich dem Nachbarn zu, dessen dunkles nasses Haar sein von Angst- und Sorgenfalten zerfurchtes Gesicht umrahmte.
“Wir können das Boot nicht anheben, ehe ich ihre Verletzungen abgeschätzt habe”, sagte sie. “Sonst machen wir vielleicht alles nur noch schlimmer.” Mit der Taschenlampe leuchtete sie aufs Wasser. Es stand niedriger als normal. “Kommt das Wasser oder geht es?”, fragte sie Andy. In den ersten Stunden eines Hurrikans konnte sich das Wasser nahezu vollständig aus der Bucht zurückziehen und dann mit einem wilden Getöse zurückkommen und alles überfluten.
“Es kommt”, antwortete er.
“Deshalb ist das Boot ja umgekippt”, erklärte sein Nachbar.
Die nahende Flut kann gut oder schlecht für uns sein, dachte Daria. Wenn das Wasser stieg, könnte es das Boot vom Steg heben und die Opfer befreien, aber es könnte auch ihre Arbeit erschweren.
Sie kniete sich hin und leuchtete mit der Lampe durch einen Spalt unter das Boot. Als der Lichtstrahl in die Augen des kleinen Jungen fiel, der in der Mitte des Bootes eingeklemmt war, heulte er laut auf und streckte sein Ärmchen zu ihr aus. Sie nahm seine kleine Hand. “Wo tut es dir weh?”
Die Antwort des Jungen war ein Weinen. Daria meinte, den Rahmen der niedrigen, winkligen Frontscheibe quer über seiner Brust liegen zu sehen. Wenn es so war, hatte sie ihm wahrscheinlich mehrere Rippen gebrochen. An einem Oberschenkel hatte er eine Wunde, aus der langsam Blut rann, das sich unter seinem Bein bereits zu einer kleinen Pfütze gesammelt hatte. Daria drückte seine Hand. “Ich bin gleich wieder da, mein Schatz. Ich sehe nur mal schnell nach deiner Mommy.”
Auf dem Bauch robbte sie zum Bootsheck. Sie kam nur schlecht an die Frau heran, schaffte es jedoch, einen Arm so weit unter das Boot zu bringen, dass sie am Hals ihren Puls fühlen konnte. Er war schwach und unregelmäßig, aber immerhin lebte sie. Wie die Frau unter dem Boot lag, konnte Daria allerdings nicht erkennen. Wenn ihre Beine eingequetscht waren und sie das Boot hochheben würden, könnte sie innerhalb weniger Sekunden sterben. Doch hatten sie eine Wahl? Wenn sie das Boot nicht hochheben würden, kämen Mutter und Sohn darunter um.
“Sie sind beide am Leben”, rief sie, als sie sich wieder auf die Knie setzte. Der Regen peitschte ihr ins Gesicht, und wenn sie sprach, beugten sich die drei Männer tief zu ihr herunter, um sie hören zu können. “Ihr drei müsst das Boot jetzt weit genug anheben, damit ich sie rausziehen kann, okay?” Shelly kam auf sie zugerannt. “Was haben sie gesagt?”, fragte Daria.
“Sie meinten, es wäre zu windig. Sobald der Sturm abschwächt, schicken sie einen Rettungswagen.”
“Was soll das heißen, es ist zu windig?”, schrie Andys Nachbar aufgebracht. “Sie müssen jemanden schicken!”
Daria sah ihm fest in die Augen. “Verwenden Sie Ihre Energie und Wut jetzt lieber darauf, dieses Boot hochzuheben. Los, Shelly, hilf du auch mit.”
Schon oft hatte sie – sogar bei sich selbst – erlebt, wie Menschen in Krisensituationen übermenschliche Kräfte entwickelten, sodass es sie nicht überraschte, als die drei Männer und Shelly das Boot tatsächlich ein paar Zentimeter anhoben. Daria kroch darunter, packte den Jungen und zog ihn unter dem Boot hervor. “Könnt ihr es noch ein bisschen halten?”, fragte sie, während sie zu der Frau robbte.
“Es rutscht runter”, brüllte Andy. “Komm da raus, Daria. Schnell!”
Daria krabbelte rasch wieder neben das Boot, das eine Sekunde später auf den Steg krachte. Es erwischte ihren rechten Zeigefinger, und sie stieß einen Schrei aus. Ihr Finger würde innerhalb weniger Minuten dick anschwellen, doch diese Verletzung war nichts verglichen mit dem, was der Junge und seine Mutter durchmachen mussten.
Sie war hin und her gerissen. Sollte sie sich um den Jungen kümmern oder versuchen, seine Mutter zu befreien? Doch nach einem Blick in sein blasses Gesichtchen war ihr klar, wie dringend er sie jetzt brauchte. Der Druck des Bootes musste wie eine Abschnürbinde gewirkt haben, denn nun strömte das Blut ungehindert aus der Beinwunde.
“Shelly!” Sie zog ihre Windjacke aus. “Komm her und press die hier auf sein Bein.”
Shelly kniete sich neben den Jungen, ihre Hände lagen auf der Windjacke.
“Drück sie ganz fest drauf”, wies Daria sie an. “So fest du kannst. Nur so können wir die Blutung stoppen.” Sie drehte sich wieder zum Boot und ging zum Heck.
Rory packte sie an der Schulter. “Du kannst da nicht noch mal drunter. Das Boot ist zu schwer für uns. Du wurdest eben schon fast zerquetscht.”
“Ihr müsst es halt länger hochhalten.” Als sie sich hinkniete, stellte sie fest, dass ihre Knie zentimetertief im Wasser versanken. Panik kroch in ihr hoch. Das Wasser stieg viel zu schnell.
“Auf drei!”, rief Rory. “Eins … zwei … drei!” Daria sah, wie sich der Schiffsrumpf hob. Sie robbte unter das Boot, packte die Frau an der Kleidung und zog sie zu sich heran. Doch plötzlich schwappte das Wasser über das Gesicht der Frau. Sie saß in der Falle. Sie würde ertrinken. Unversehens befand sich Daria inmitten ihres Albtraums. Zwar konnte sie das Gesicht der Frau nicht klar erkennen – keine braunen Augen, keinen herzförmigen Haaransatz. Doch in ihrem Kopf lag die junge sterbende Pilotin vor ihr. Sie ruderte wild mit den Armen und bekam die Frau schließlich von Neuem zu fassen. Gerade als sie Luft holen wollte, schlug ihr eine Welle ins Gesicht, und sie verschluckte sich. Da spürte sie Hände an ihren Beinen, jemand wollte sie unter dem Boot hervorziehen. Als sie zu atmen versuchte, musste sie würgen. Im nächsten Moment krachte eine riesige Welle auf den Steg und schleuderte das Boot in die Luft. Geistesgegenwärtig packte Rory die bewusstlose Frau und zog sie zu sich heran, ehe das Meer sie verschlucken konnte.
“Bringt sie vom Steg runter!”, schrie Andy, während Shelly den kleinen Jungen bereits durch das steigende Wasser vom Steg und fort von der Bucht zur Auffahrt trug. Daria konnte sich nur mit Andys Hilfe mühsam aufrichten. Sein Nachbar oder Rory – wer genau, das konnte sie nicht sehen – brachte auch die Frau zur Auffahrt. So schnell ihre wackligen Beine sie durch das Wasser trugen, rannte Daria ihnen nach. Sie kniete sich neben die Frau und fühlte wieder ihren Puls.
“Hier ist überall Blut, Daria”, rief Shelly ihr zu, die neben dem Jungen saß. “Ich drücke, so fest ich kann, aber es hört nicht auf.”
Die Frau hatte keinen Puls und atmete auch nicht mehr. “Ich weiß, wie Herz-Lungen-Wiederbelebung geht”, sagte Rory, der plötzlich auf der anderen Seite der Frau kniete. “Kümmere du dich um den Jungen.”
Daria wandte sich an Andy. “Mach du die Herzmassage.” Er hatte zwar noch nie im Ernstfall handeln müssen, aber Daria wusste, dass er es schaffen würde. Sie hatte es ihm selbst beigebracht. “Rory übernimmt die Beatmung.”
Dann lief sie zu dem Jungen, der zwar nicht bei Bewusstsein war, jedoch atmete. Shellys Hände waren blutverschmiert, und Daria schickte ein Stoßgebet zum Himmel, der Junge möge keine Krankheit haben, die durch Blut übertragen wurde. “Wir müssen ihn in die Notaufnahme bringen”, meinte sie. Gerade fragte sie sich, wie genau sie das bewerkstelligen sollten, als sie irgendwo zwischen den Windgeräuschen das süße Singen einer Sirene vernahm. “Gott sei Dank”, sagte sie laut.
“Ich höre eine Sirene!”, rief Andys Nachbar, der benommen und hilflos neben seinem Sohn kauerte.
Nach weniger als einer Minute fuhr der Rettungswagen in die Auffahrt. Er war nur mit zwei Rettungssanitätern besetzt: einem im Krankenraum – Mike – und einem hinter dem Steuer. Innerhalb weniger Minuten hatten sie die Frau intubiert, den Jungen verbunden und beide im Rettungswagen untergebracht.
“Rory und ich fahren mit ihnen mit”, sagte Daria zu Andy. “Und du bringst bitte Shelly ins Sea Shanty.”
“Nein”, widersprach Shelly. “Ich bleibe bei Andy.”
Daria sah Andy an. “Was läuft hier eigentlich?”
“Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber zu sprechen”, erwiderte er. Er wollte sie zum Rettungswagen schieben, doch Daria wich nicht von der Stelle. “Sag es mir”, verlangte sie.
“Shelly und ich sind seit mehr als zwei Jahren zusammen”, gestand Andy. “Tut mir leid, dass ich dir nicht früher davon erzählt habe. Sie hatte Angst, du würdest uns auseinanderbringen. Okay? Und jetzt steig in den Krankenwagen.”
Verdutzt wich Daria zurück.
“Daria?”, rief Mike aus dem Krankenraum. “Wir müssen fahren!”
Nach einem weiteren Blick auf ihre Schwester drehte sie sich um und lief zum wartenden Rettungswagen.