34. KAPITEL
Als sich der Himmel kupferrot über den Ozean erstreckte, trafen Daria und Chloe von der Arbeit zu Hause ein. Kein Wölkchen trübte das Schauspiel, und nichts deutete auf das drohende Unwetter hin.
“Hast du von dem Hurrikan gehört, der auf uns zusteuert?”, fragte Daria ihre Schwester auf dem Weg zur Veranda.
“Nein. Das hat ja gerade noch gefehlt.”
“Er soll sogar ziemlich heftig sein.” Im Wohnzimmer schaltete sie sogleich den Wetterbericht an. “Er ist noch ziemlich weit weg”, sagte Daria. “Vielleicht schwächt er bis zur Küste ja noch ab. Oder er zieht weiter aufs Meer hinaus. In diesem Stadium ist noch alles möglich.”
“Sag Shelly lieber noch nichts davon.” Chloe sah auf ihre Uhr. “Ich bin nur hergekommen, um mir was anderes anzuziehen”, meinte sie dann. “Pfarrer Wayne braucht bei einem Termin heute Abend meine Hilfe.”
Chloe würde eine Zeit lang häufiger in der Kirche arbeiten und versuchen, das Loch zu stopfen, das Pfarrer Macy hinterlassen hatte. Als sie nach oben ging, um sich umzuziehen, hockte sich Daria vor den Fernseher.
Während sie und Andy tagsüber eine Eigentumswohnung in Duck vertäfelt hatten, war sie mit den Gedanken die ganze Zeit bei dem Gespräch zwischen Rory und Grace gewesen. Wie es wohl gelaufen war? Sobald Chloe weg wäre, würde sie zum Poll-Rory gehen und es herausfinden.
Doch als der Meteorologe gerade seine vage Prognose zu Hurrikan Bernadette abgab, klopfte es an die Verandatür. Rory.
“Daria? Bist du zu Hause?”, rief er.
“Komm rein”, antwortete sie und wartete ungeduldig, dass er ins Wohnzimmer kam. “Ich wäre später auch noch rübergekommen.”
Rory nahm am anderen Ende des Sofas Platz. “Geht es um Bernadette?” Sein Blick war auf den doughnutförmigen Wolkenkringel auf der Wetterkarte gerichtet.
“M-hm. Sie ist ein Monstrum.”
“Wann wird sie hier sein?”
“Sie sind gar nicht sicher, ob sie überhaupt kommt.”
Chloe betrat das Zimmer. Sie hatte Shorts und T-Shirt gegen einen Rock und eine Bluse getauscht.
“Hallo Rory.” Der kühle Ton ihrer Stimme irritierte Daria.
“Hi Chloe.” Die Arme vor der Brust verschränkt, drehte sich Rory auf dem Sofa ein Stück zu ihr um. “Mir sind übrigens Gerüchte zu Ohren gekommen.”
“Worüber?”, fragte Chloe. Bei dem Gedanken, dass Rory auf dieselben Gerüchte anspielte, von denen auch sie gehört hatte, drehte sich Daria der Magen um. Keine gute Idee, Chloe darauf anzusprechen.
“Man erzählt sich, dass Pfarrer Macys Unfall eigentlich ein Selbstmord war”, antwortete er. “Hat eine von euch so was auch gehört?”
Chloe verdrehte die Augen.
“Wo hast du das her?”, fragte Daria.
“Zack hat gehört, wie sich ein paar Jugendliche darüber unterhalten haben.”
“Das ist lächerlich, Rory”, meinte Chloe. “Und es ist wenig hilfreich, diesem Getratsche Glauben zu schenken.”
“Ich weiß nicht”, entgegnete er. “Ich finde es schon irgendwie verdächtig. Ich meine, er ist nur wenige Tage nach unserem Gespräch gestorben. Und er war ziemlich deprimiert, als ich dort war. Vielleicht wusste er irgendwas über Shellys Vergangenheit und hat sich deshalb umgebracht. Vielleicht wollte er sein Wissen mit ins Grab nehmen.”
Daria bemerkte, dass Chloes Ohrenspitzen gerötet waren – ein unverkennbares Zeichen für einen Zorn, den sie an ihrer Schwester seit Jahren nicht mehr erlebt hatte.
“Ich bin sicher, deine Unterredung mit ihm hat damit nicht das Geringste zu tun”, sagte Chloe kalt. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt, ihre Augen funkelten. “Du glaubst wohl, alles dreht sich nur um dich und deine dämliche Fernsehsendung, was? Wahrscheinlich beschließt du jetzt, auch noch eine Folge über dieses neue Geheimnis zu machen: 'Die geheimen Qualen des Sean Macy'.” Abrupt wandte sie sich an Daria. “Ich muss jetzt zur Kirche. Ich hoffe, dieser Rufmord ist noch keinem der Gemeindemitglieder zu Ohren gekommen.”
Chloe machte auf dem Absatz kehrt, marschierte zur Haustür und warf sie hinter sich ins Schloss.
“Puh”, meinte Rory. “Warum werde ich bloß das Gefühl nicht los, dass sie schlecht auf mich zu sprechen ist?”
Mit einem Seufzer lehnte sich Daria ins Polster zurück. “Wir haben gestern Abend über genau diese Sache mit Shelly gesprochen”, sagte sie. “Ich glaube, es war einfach zu viel für Chloe, schon wieder von diesen Gerüchten zu hören.”
“Vielleicht sollte ich ihr nachgehen und mich entschuldigen.”
“Ich würde sie jetzt lieber in Ruhe lassen.” So aus der Haut zu fahren war dermaßen untypisch für Chloe, dass Daria keine Ahnung hatte, wie sie auf Rorys Entschuldigung reagieren würde. “Ich kann mir gut vorstellen, dass sie in ein paar Tagen, wenn die Wunde nicht mehr so frisch ist, zugänglicher ist. Außerdem will ich jetzt endlich wissen, wie es gestern mit Grace war.” Sie schob die nackten Füße unter ihren Po und blickte Rory erwartungsvoll an.
“Na ja, sie ist ziemlich durcheinander, so viel steht fest. Aber ich glaube, sie hat keinen blassen Schimmer, dass Shelly in den Tod ihrer Tochter verwickelt ist.” Daria hörte still und aufmerksam zu, als er ihr im Detail von seinem Gespräch mit Grace berichtete. Ihm Gegensatz zu ihm nahm sie Grace längst nicht alles ab.
“Sie tat mir ehrlich leid”, sagte Rory. “Ich habe das Gefühl, sie hatte sich in ihren Lügen um die Trennung und ihr Kind hoffnungslos verstrickt. Immerhin hat sie mir all diese Dinge bei unserer ersten Begegnung erzählt, und da wusste sie schließlich noch nicht, dass wir uns wiedersehen würden. Später hielt sie es vermutlich für einfacher, bei der Geschichte zu bleiben. Übrigens hatte sie keine Brustamputation. Sie wurde am Herzen operiert. Sie hat eine Krankheit namens Marfan-Syndrom.”
“Pamela, die Pilotin, auch.”
“Ja. Grace sagte, das sei erblich. Der Verlust ihrer Tochter schmerzt sie wirklich sehr. Ich vermute, deshalb fühlt sie sich auch so zu Shelly hingezogen. Shelly ist kaum älter als Pamela. Ich glaube nicht, dass mehr dahintersteckt.”
“Hoffentlich hast du recht. Ich halte es nach wie vor für einen erstaunlichen Zufall, dass sie sich ausgerechnet in unsere kleine Sackgasse verirrt hat.” Als ihr bewusst wurde, wie hart ihre Worte klangen, hätte sie sie am liebsten zurückgenommen. Es war so offensichtlich, dass Grace Rory am Herzen lag, auch wenn ihr das nicht gefiel. Wieso erkannte er nur nicht, dass Grace ihn manipulierte?
“Wenn du sie gestern Abend gesehen hättest, würdest du anders denken.”
“Und”, wollte Daria wissen, “wie stehen die Dinge nun mit euch?”
Rory lachte. “Lustig, dass du das fragst. Ich hatte mir schon Vorwürfe gemacht, weil ich eine Affäre mit einer verheirateten Frau habe. Aber es gab gar keine Affäre. Dafür hat sie gesorgt. Diese Liaison hat nur in meiner Fantasie existiert. Aber um auf deine Frage zu antworten: keine Ahnung.” Er faltete die Hände und streckte die Arme nach vorn. “Ich will sie wiedersehen. Ich bin nicht böse auf sie, sondern nur …”
Von oben ertönte plötzlich ein Geräusch, und Daria horchte auf. “Ich wusste gar nicht, dass Shelly zu Hause ist”, sagte sie leise. Ihr Herzschlag beschleunigte sich leicht.
Dann hörten sie einen dumpfen Knall, gefolgt von Stimmen. Die eine war eine Männerstimme, und Daria war sofort alarmiert. “Das kommt aus Shellys Zimmer. Wer könnte denn bloß bei ihr sein?”
Rory sah zur Treppe hinüber. “Vielleicht ein Kumpel?”
Daria schüttelte den Kopf. “Mit dem würde sie nicht in ihr Schlafzimmer gehen. Du meine Güte, Rory, was, wenn es jemand ist, den sie irgendwo aufgegabelt hat? Ein Fremder? Sie freundet sich doch mit jedem an. Vielleicht ist es sogar ein Psychopath.”
“Beruhige dich. Das ist ziemlich unwahrscheinlich. Aber … vielleicht solltest du trotzdem mal nachsehen.”
“Ich will sie ja nicht bloßstellen.” Auch Daria sah nun zur Treppe. “Aber ich würde es mir auch nie verzeihen, wenn ihr da oben jemand was antut.”
“Ich finde, ihre Sicherheit ist jetzt wichtiger als ihr Stolz”, sagte Rory.
Daria erhob sich. “Ruf die Polizei, wenn ich schreie”, sagte sie. Dann ging sie nach oben.
Sie klopfte an Shellys Zimmertür. “Shelly?”
Im Zimmer war es beunruhigend still. Daria vernahm nur gedämpfte Stimmen und das Geraschel einer Bettdecke.
“Shelly, ist alles in Ordnung?”
Sie hörte Schritte, dann wurde die Tür einen Spalt breit geöffnet … von Zack. In Shellys Bett lag Kara, die sich die Bettdecke bis zum Kinn zog. Daria war sprachlos vor Überraschung.
“Ich bin nicht Shelly”, sagte Zack mit einem verlegenen Grinsen. “Shelly hat uns ihr Zimmer angeboten, solange sie am Strand spazieren ist.”
Daria hörte Rorys Schritte auf der Treppe. Es klang, als nähme er zwei Stufen auf einmal. Zacks Grinsen verschwand. “Ist mein Dad etwa hier?”, fragte er mit großen Augen, und Daria nickte.
“Zack?”, rief Rory im Näherkommen.
“Verdammt.” Zack wollte gerade die Tür schließen, doch Rory stand schon im Flur. Er schob sich an Daria vorbei und hielt die Tür mit einer Hand auf.
“Was zum Teufel macht ihr da?”, schnauzte er. Fast wäre Daria in lautstarkes Gelächter ausgebrochen, so dämlich war seine Frage. Sie musste daran denken, dass sie Shelly vor einigen Jahren dasselbe gefragt hatte, als sie sie mit einem dieser Hallodris im Bett erwischt hatte.
“Shelly hat gesagt, wir könnten in ihr Zimmer gehen”, antwortete Zack leise.
“Ich glaube, ihr zwei zieht euch jetzt besser an und kommt da schleunigst raus. Wir sehen uns in fünf Minuten zu Hause.” Er zog die Tür zu, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und sah Daria an. “Pfui”, flüsterte er, und sie musste sich ein Lachen verkneifen.
Gemeinsam gingen sie nach unten. “Ich entschuldige mich für die Verantwortungslosigkeit meiner kleinen Schwester”, sagte Daria.
Rory öffnete die Wohnzimmertür und sah zur Decke. “Was mache ich denn jetzt?”, fragte er, aber es klang nicht, als erwarte er tatsächlich eine Antwort.
“Sei verständnisvoll. Sei freundlich. Mach all die Dinge richtig, die ich damals in derselben Situation bei Shelly versaut habe.”
Rory lächelte. “Ich werde es versuchen.” Dann drehte er sich um und ging.
Behandle Zack mit demselben Mitgefühl, mit dem du bei Grace so verschwenderisch bist, dachte sie, während sie ihm nachdenklich nachsah. Doch das musste er jetzt allein mit seinem Sohn klären.