35. KAPITEL

Fast fünfundvierzig Minuten verstrichen, bis Zack sich nach Hause traute. Rory wartete im Wohnzimmer auf ihn, ohne zu wissen, was er eigentlich sagen sollte.

“Ich will nicht darüber reden, Dad”, sagte Zack im Vorbeigehen.

“Aber ich.”

Zack blieb stehen und drehte sich um. Auf seinem Gesicht lag ein resignierter Ausdruck, und Rory bemerkte zum ersten Mal, dass sein Sohn fast so groß war wie er. Wann war das passiert?

“Habt ihr wenigstens ein Kondom benutzt?” Irgendetwas sagte ihm, dass es nicht gerade der beste Gesprächseinstieg war, aber die Worte sprudelten förmlich aus ihm heraus.

“Kara nimmt die Pille.”

“Ein fünfzehnjähriges Mädchen, das die Pille nimmt? Das lässt ja tief blicken, findest du nicht?”

“Ja, es zeigt, dass sie schlau und vorsichtig ist.”

“In meinen Augen zeigt es, dass sie wahrscheinlich schon mit diversen Jungs geschlafen und vielen Krankheiten Tür und Tor geöffnet hat. Aids ist nur eine davon. Und davon mal abgesehen: Du hättest so oder so ein Kondom benutzen sollen. Was, wenn sie dich angelogen hat? Wenn sie die Pille gar nicht nimmt und dich nur in die Falle locken wollte? Und, verflixt noch mal, du bist ohnehin noch viel zu jung dafür.” Oh Mann. Er klang wertend. Unvernünftig. Hysterisch. Aber irgendwie konnte er den Mund nicht halten.

Zack sah ihn einfach nur an. “Wo liegt das Problem, Dad? Willst du mir erzählen, dass du es zum ersten Mal in deiner Hochzeitsnacht gemacht hast?”

Sei verständnisvoll, hörte er Darias Stimme. Sei freundlich. Mit einem tiefen Seufzer ließ er sich aufs Sofa fallen. “Ich weiß, ich bin nicht gerade gut darin, Zack”, räumte er ein. “Und es tut mir leid. Ich mache mir nur Sorgen um dich, das ist alles.”

“Musst du nicht.”

“Muss ich wohl. Ich war schließlich auch mal fünfzehn, auch wenn es dir schwerfällt, das zu glauben. Und ich weiß, wie schnell man sich in etwas hineinziehen lässt, ohne an die Konsequenzen zu denken.”

“Ich denke an die Konsequenzen, Dad. Vertrau mir doch mal ein bisschen.” Zack drehte sich um und wollte gehen.

“Ich glaube, ich sollte mal mit Karas Großeltern sprechen”, sagte Rory.

Zack wirbelte herum. “Was?”

“Natürlich nicht, um ihnen von heute Abend zu erzählen”, beeilte er sich hinzuzufügen. “Keine Sorge. Ich finde bloß, ich sollte sie etwas besser kennenlernen, jetzt, wo du und Kara miteinander geht.”

“Das ist wirklich nicht nötig.”

“Aber ich wollte mich ohnehin noch mit ihnen unterhalten.” Zwar hatte er diesen Sommer schon den einen oder anderen Small Talk mit dem Ehepaar gehalten, sogar über die alten Zeiten. Doch über Shelly hatte er mit ihnen bislang noch nicht gesprochen. “Ob jetzt oder ein andermal – das ist doch egal.”

“Was für ein Zufall. Du beschließt, mit ihnen zu reden, nachdem du Kara und mich …”

“Ich habe doch gesagt, dass ich darüber kein Wort verlieren werde. Das verspreche ich dir.”

“Ich gehe schlafen.”

“Aber es ist doch noch früh.”

Zack sah seinen Vater misstrauisch von der Seite an. “Soll das heißen, ich darf noch weggehen?”

“Sicher.”

“Aber dann treffe ich mich mit Kara.” Er sprach es aus wie eine Drohung.

“Ist mir klar. Ich weiß, dass ich das nicht verhindern kann, Zack. Nur … denk gut darüber nach, was du tust. Mehr verlange ich gar nicht.”

Am nächsten Tag wimmelte es im Haus der Wheelers von Enkelkindern jeglicher Altersklassen, und das Ehepaar lud Rory auf ihre von Fliegengittern geschützte Dachterrasse ein, fernab von dem Tohuwabohu. Rory hegte liebevolle Erinnerungen an die Wheelers. Jeden Abend waren sie Arm in Arm am Strand spazieren gegangen, und als Kind hatte er in ihnen ein nettes altes Ehepaar gesehen, obwohl sie damals erst in den Fünfzigern waren. Jetzt, mit Mitte Siebzig, war Mr. Wheeler groß und hager, während Mrs. Wheeler in die Breite gegangen war und an einem Stock ging. Er kannte ihre Vornamen nicht; vermutlich würden sie für ihn stets Mr. und Mrs. Wheeler bleiben.

“Wir sehen dich jede Woche bei 'True Life Stories'“, sagte Mrs. Wheeler, als sie ihm aus einem kindersicheren Kunststoffkrug Eistee einschenkte. Sie reichte ihm das Glas und ließ sich dann auf einem Liegestuhl nieder.

“Danke. Tut mir leid, dass ich nicht eher vorbeigekommen bin. Ich schätze, Sie haben meinen Sohn öfter gesehen als mich.”

“Ein lieber Junge”, meinte Mrs. Wheeler.

“Danke. Er ist ein gutes Kind.” Rory nahm einen Schluck Tee. Er war schrecklich süß. “Ich habe etwas Sorge, dass es mit ihm und Kara zu ernst wird”, sagte er dann.

Mrs. Wheeler zog die Augenbrauen hoch. “Ach ja?” Rory hatte das Gefühl, sie wusste genau, was er meinte.

“Ach”, meinte Mr. Wheeler, “das ist doch nur eine harmlose Sommerromanze. Nichts, weswegen man sich sorgen müsste.”

“Na ja, ich wollte auch nur sichergehen, dass es Sie nicht stört, wenn Zack so viel Zeit bei Ihnen, also mit Kara verbringt.”

“Er ist der netteste Junge, mit dem Kara bislang zusammen war”, sagte Mrs. Wheeler, “von daher – nein, es stört uns überhaupt nicht.”

Einen Moment lang dachte Rory daran, wie Karas andere Freunde wohl waren – und welche Krankheiten sie mit sich herumgeschleppt hatten –, aber er schob diese Gedanken schnell beiseite.

“Ich sage euch, über welches Mädchen wir uns Sorgen machen müssen”, feixte Mr. Wheeler. “Über diese Bernadette. Sie kommt direkt auf die Outer Banks zu.”

“Das wusste ich gar nicht.” Rory hatte seit dem Abend zuvor keinen Wetterbericht mehr gesehen.

“Es besteht noch immer die Möglichkeit, dass sie vorher abdreht”, sprach Mr. Wheeler weiter. “Ich hoffe nur, dass wir nicht wieder die Häuser räumen müssen. Erinnerst du dich noch, wie das früher immer war?”

“Ich glaube, wir mussten nur ein-, zweimal raus. Aber ich weiß nicht mehr, wohin wir dann gegangen sind.” Im Fall der Fälle würden er und Zack wahrscheinlich in einem Hotel auf dem Festland unterkriechen.

“Wir landen meist in den öffentlichen Notunterkünften”, erzählte Mr. Wheeler. “Bei unserer Sippe ist das billiger als ein Motel, und die Kinder haben immer viel Spaß.”

Rory nahm einen weiteren Schluck von dem Tee. “Tja, Sie wissen sicherlich, weshalb ich diesen Sommer hier bin”, begann er.

Mrs. Wheeler nickte. “Wegen Shelly.”

“Genau. Ich habe schon mit einigen Anwohnern der Sackgasse über ihre Erinnerungen an den Sommer '77 gesprochen. Haben Sie eine Vermutung, wer Shelly damals am Strand ausgesetzt haben könnte?”

“Ich hatte immer diese Cindy in Verdacht, die am Ende der Straße lebte”, meinte Mr. Wheeler.

“Nein, Cindy war es nicht”, widersprach ihm seine Frau. “Sie war viel zu dünn. Weißt du nicht mehr? Wir haben damals noch darüber gesprochen. Die war doch nicht dicker als so.” Sie hielt ihren kleinen Finger in die Luft.

“Als junge Frau warst du doch selbst noch so dünn”, entgegnete Mr. Wheeler, und seine Frau stieß einen gespielten Laut der Empörung aus.

“Cindy hat ihre Figur tausendmal besser im Griff als ich. Wir sehen sie hin und wieder, wenn wir uns in Smokeys Restaurant Süßkartoffel-Pommes gönnen. Sie ist immer so nett.”

Rory beugte sich vor. “Sie haben Cindy Trump vor Kurzem gesehen? Lebt sie denn in der Nähe?”

“Natürlich”, antwortete Mrs. Wheeler. “Sie, ihr Mann und die Kinder leben in einem der riesigen Häuser in Corolla. Es gehört ihnen. Sie heißt jetzt Delaney.”

Rory speicherte den Namen ab. Er konnte sein Glück kaum fassen. Endlich würde er mit Cindy sprechen können.

“Weißt du, Rory”, meinte Mrs. Wheeler, “ich betrachte Shelly gern so, wie Sue, ihre Mutter, es tat – als Geschenk des Meeres, mit keinen anderen Eltern als den Catos. Shelly ist ein so liebenswertes Mädchen, und sie hat Mrs. Cato in ihren letzten Lebensjahren sehr viel Freude bereitet. Und Daria ist ein Engel, so wie sie sich für sie aufopfert.”

“Vielleicht war es ja dieses zurückgebliebene Mädchen”, mischte sich Mr. Wheeler ein. “Vielleicht war sie Shellys Mutter.”

“Shhh”, zischte seine Frau. “Das war doch Rorys Schwester.”

Rory lächelte. “Ich bin sicher, dass Polly nichts mit Shelly zu tun hat.” Langsam fragte er sich allerdings, warum er sich dessen so sicher war. Doch der Gedanke, dass jemand Polly benutzt haben könnte, dass eine Schwangerschaft sie verunsichert und sie das Baby allein zur Welt gebracht haben könnte – dieser Gedanke war zu furchtbar, als dass er ihm länger folgen konnte.

“Rory …” Mrs. Wheeler klang zögerlich. “Hast du jemals in Erwägung gezogen, dass deine eigene Mutter auch Shellys gewesen sein könnte?”

Rory versuchte, den Schreck zu verbergen. “Nein, ich muss zugeben, dass meine Mutter auf meiner Liste der Verdächtigen ganz unten steht.”

“Ja, ich weiß”, beeilte sich Mrs. Wheeler zu sagen. “Und sicher hast du auch recht. Aber deine Mutter und ich haben damals viele Gespräche geführt. Sie hat sich eine Menge Gedanken darüber gemacht, warum sie ein Kind mit Downsyndrom hat, und als sie mit dir schwanger wurde, war sie sehr besorgt. Sie hatte Angst, dass auch du geistig zurückgeblieben sein könntest. Vor allem, da sie bei dir noch älter war als bei deiner Schwester. Sie hat mir erzählt, wie erleichtert sie war, als du gesund zur Welt kamst.” Mrs. Wheeler fuhr mit der Fingerspitze über den schwitzigen Griff des Plastikkrugs. “Ich habe mich immer gefragt, ob sie vielleicht noch einmal schwanger geworden ist. Möglicherweise hatte sie solche Angst, noch ein behindertes Kind zur Welt zu bringen, dass sie …”, Mrs. Wheeler zuckte die Schultern, “… das Baby am Meer zurückgelassen hat, in der Annahme, es wäre am besten so.”

“Halten Sie das wirklich für möglich?” Rory konnte es nicht fassen.

“Ich habe wohl immer gedacht, dass sie genauso infrage kommt wie jede andere Frau in der Straße.”

Warum nicht seine Mutter? Er hatte so gut wie jede Frau in der Sackgasse in Betracht gezogen. Aber in diese Richtung zu denken, davor hatte sich sein Kopf bisher geweigert.

Er nahm einen letzten Schluck Tee. “Gut”, sagte er und stand auf, “ich sollte lieber wieder nach Hause gehen.”

“Nimm dich in Acht vor Bernadette”, warnte Mr. Wheeler.

“Cindys Nachname war Delaney, richtig?”, vergewisserte sich Rory.

Mr. und Mrs. Wheeler erhoben sich ebenfalls. “Ja, genau”, bestätigte Mrs. Wheeler. “Und warte nur, bis du sie siehst. Sie hat sich kein bisschen verändert.”