37. KAPITEL

Im Holzlager roch es nach Bäumen und Sorgen, und Rory und Zack kämpften sich durch die Menschenmasse. Jeder kaufte Sperrholzplatten, um damit die verwundbaren Fenster seines Heims zu schützen. Rory bekam Gespräche mit, in denen sich die Leute über vermieste Ferien beschwerten, Mietverluste beklagten und unkten, dass die Fahrt über die Brücke und weg von den Barrier Islands ewig dauern würde.

Er und Zack befestigten die Platten auf ihrem Dachgepäckträger und fuhren dann zurück nach Hause. Als sie das Poll-Rory erreichten, war der Himmel noch immer strahlend blau und das Meer spiegelglatt. Gegenüber schlossen Daria und Chloe gerade die Sturmläden, und Rory winkte ihnen zu, als er und Zack die Holzplatten abluden. Sie stellten sie an der Meerseite des Hauses bei den Fenstern ab, die am meisten Schutz brauchten. Anschließend ging Rory ins Haus, um Hämmer und Nägel zu holen.

Als er gerade den Werkzeugkasten aus der Abstellkammer holte, klingelte das Telefon. Da er Cindy Trump auf den Anrufbeantworter gesprochen hatte, ob sie sich in ein paar Tagen treffen könnten, hob er, in der Annahme, sie sei es, den Hörer ab.

“Rory?” Es war Grace. Seit dem Abend, an dem er sie mit ihren Lügen konfrontiert hatte, hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. Er freute sich, ihre Stimme zu hören.

“Hi Grace. Bereitet ihr euch da unten auch auf eine Evakuierung vor?”

Sie zögerte. “Genau deshalb rufe ich an”, sagte sie. “Eddie – mein Mann – und ich haben uns bisher immer ein Hotelzimmer auf dem Festland genommen, aber ich kann nicht mit ihm gehen. Ich kann einfach nicht.” Ihre Stimme zitterte.

“Vielleicht wäre es nicht schlecht”, erwiderte Rory, obwohl ihm lieber wäre, sie käme mit ihm. “Vielleicht müsst ihr zwei mal gezwungen werden, Zeit miteinander zu verbringen.”

“Ich will nicht in seiner Nähe sein. Nirgendwo.” Sie zögerte kurz. “Ich wollte fragen, wo du unterkommst.”

“Zack und ich haben ein Zimmer in einem Motel in Greenville reserviert. Wir fahren morgen früh los.”

“Wird … wird Daria auch dort sein?”

“Ja. Und Chloe und Shelly.”

“Meinst du, ich könnte da auch noch ein Zimmer bekommen? Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich dort wäre?”

Möglicherweise ist sie bereit, mit Daria über den Tod ihrer Tochter zu sprechen, dachte er. Vielleicht hatte sie ihn deshalb gefragt, ob Daria dort sein würde. Er wollte sie auf keinen Fall um diese Gelegenheit bringen.

“Natürlich nicht”, antwortete er. “Aber ist es nicht zu weit für dich, um …”

“Ich möchte es so, Rory.”

“In Ordnung.” Von der Seite des Hauses drang ein Hämmern zu ihm, und Rory wunderte sich, dass Zack mit dem Vernageln der Fenster ohne ihn angefangen hatte. Er gab Grace Namen und Telefonnummer des Motels. “Wir sehen uns dann dort”, sagte er.

Daria reichte Zack den Hammer, und während sie und Chloe die Sperrholzplatte in der richtigen Position hielten, schlug Zack die Nägel ins Holz. Als Rory zu ihnen hinauskam, sah Daria ihm die Verwunderung darüber, sie und Chloe vorzufinden, an.

“He, danke”, sagte er und half dabei, eine weitere Platte in Position zu bringen. Er sah aufs Meer hinaus, und Daria folgte seinem Blick. Die See war glasklar und ruhig, das Blau des Himmels spiegelte sich darin. Noch immer war es kaum zu glauben, dass hinter dem Horizont eine düstere Gefahr lauerte.

Rory schüttelte den Kopf. “Seid ihr sicher, dass wir hiermit nicht bloß unsere Zeit verschwenden?”

“Leider ja”, entgegnete Daria.

“Der Sturm wird auf seinem Weg hierher immer schneller”, sagte Chloe. Dass sie Rory bei den Vorbereitungen auf den Sturm zur Hand ging, war nichts als Nachbarschaftshilfe. Daria wusste, dass diese Geste nicht auf einen Wandel ihrer feindlichen Gesinnung hindeutete.

“Ich kann einfach nicht glauben, dass sich hier bald haushohe Wellen auftürmen sollen”, meinte Zack.

Die Sperrholzplatte saß, und Daria nahm die Arme herunter und sah Zack an. “Als dein Dad und ich klein waren, stand da vorn noch ein Haus.” Sie zeigte zu einer mit Strandhafer bewachsenen Stelle, wo einst Cindy Trumps Cottage gestanden hatte. “Bei einem Sturm wurde es einfach so vom Meer verschluckt. Das kann mit unseren Häusern genauso leicht geschehen.”

“Unheimlich”, fand Zack.

“Ja, allerdings.” In Darias Magen rumorte es immer noch wie verrückt, doch verglichen mit Shellys Angst war ihre verschwindend klein. Für ein paar Momente trat sie an den äußeren Rand der Veranda und sah links und rechts den Strand hinunter. Shelly war irgendwo da draußen und ging spazieren. Innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden war sie sehr still und nachdenklich geworden. Daria wusste, dass ihr nicht der Sturm selbst Angst machte, sondern die bevorstehende Abreise von ihren über alles geliebten Outer Banks.

“Müssen alle ihre Häuser räumen?”, wollte Zack wissen. Er hob gerade mit Chloe eine weitere Holzplatte an und justierte sie vor einem Fenster. “Meinen sie das mit 'Zwangsevakuierung'?”

“Sie sagen immer, es wäre eine Zwangsevakuierung”, antwortete Chloe. “Aber eigentlich heißt es, dass man völlig auf sich gestellt ist, wenn man hierbleibt. Es ist möglich, dass einem im Notfall keine Hilfsdienste zur Verfügung stehen.”

“Gibt es denn Leute, die bleiben?”

“Es gibt immer Leute, die glauben, es wäre besonders mutig, zu bleiben”, erklärte Chloe weiter, “aber in Wahrheit ist es nur dumm. Gut möglich, dass noch Notfallkräfte da sein werden, doch selbst die – also zum Beispiel der Sheriff und der Rettungsdienst – dürfen nicht mehr auf die Straße, wenn der Wind eine Geschwindigkeit von hundert Stundenkilometern erreicht hat. Das wäre zu gefährlich.”

Daria und Rory nagelten die Sperrholzplatte fest, und als sie fertig waren, sagte er: “Grace wird wahrscheinlich auch in unser Motel kommen.”

Daria hätte gern gewusst, ob man ihr die Enttäuschung von den Augen ablesen konnte. “Warum will sie denn den ganzen Weg nach Greenville fahren?”, fragte sie.

“Tja …”, Rory trat einen Schritt vom Fenster weg, um ihre Arbeit zu bestaunen, “… aus zwei Gründen, glaube ich: Erstens will sie nicht bei ihrem Ehemann sein. Und zweitens habe ich das Gefühl, dass sie mit dir reden will. Sie hat mich ausdrücklich gefragt, ob du auch da sein wirst.”

Na großartig, dachte Daria. Einmal auf dem Festland, müsste sie sich nicht nur Sorgen um das Schicksal des Sea Shanty und das Wohlergehen ihrer panischen Schwester machen; nein, sie würde auch noch Graces Fragen zu einem Unfall beantworten müssen, über den sie nicht offen sprechen konnte.

Rory schien ihre Betroffenheit zu spüren. “Vielleicht hätte ich ihr absagen sollen.”

“Nein, ist schon in Ordnung”, sagte Daria und half Zack beim Anheben der nächsten Platte.

An diesem Abend packten sie ihre Koffer, brachten Darias Werkzeug aus der Werkstatt ins Haus und stellten die Verandamöbel hinein. Shelly musste sich die halbe Nacht lang übergeben, und Daria ging es fast genauso schlecht.

Es war noch früh am Morgen, als sie sich im Bett aufsetzte und durch ihr Fenster aufs Meer blickte. Die Wellen waren merklich angeschwollen und schaumig, der Strandhafer wehte beinahe parallel zum Boden, und der Himmel hing voll schwerer grauer Wolken. Sogar in ihrem Zimmer spürte Daria die Veränderung der Atmosphäre, die so schwer zu beschreiben war und doch so verlässlich ein nahendes Unwetter ankündigte. Der Luft schien es an Sauerstoff zu mangeln, man konnte nur schlecht atmen.

Schnell zog sie sich an und ging nach unten, wo Chloe gerade einen Obstsalat für das Frühstück zubereitete.

“Wo ist Shelly?”, fragte Daria. Für gewöhnlich war Shelly morgens als Erste auf, und die Tatsache, dass sie nicht da war, beunruhigte Daria.

“Ich habe sie noch nicht gesehen”, meinte Chloe. “Ich habe ihr gestern extra gesagt, sie soll um acht Uhr startklar sein.”

Es war bereits halb acht.

“Ich habe ein ungutes Gefühl”, sagte Daria.

Chloe sah von dem Pfirsich auf, den sie gerade in Scheiben schnitt. “Vielleicht ist sie ja am Strand. Die letzte Chance, vor dem Sturm noch Muscheln zu sammeln.”

“Ich gehe hoch und sehe nach, ob sie wenigstens schon gepackt hat.” Mit zunehmender Beklemmung stob Daria die Stufen hinauf. Sie klopfte an Shellys Tür. Keine Antwort. Dann ging sie hinein. Shellys Bett war ordentlich gemacht, aber Koffer waren nirgends zu sehen. Vielleicht hatte sie einfach noch nicht gepackt. Doch dann erspähte Daria eine Notiz am Spiegel über Shellys Frisierkommode. Sie ging näher heran und las:

Fahrt ohne mich. Ich bin in Sicherheit.