11. KAPITEL
Shelly beugte sich über die Muschelreihe im Sand und hob eine türkisfarbene Glasscherbe auf, die das Meer glatt geschliffen hatte. Sie inspizierte sie gründlich, ehe sie sie in die Stofftasche gleiten ließ, die um ihre Hüfte gebunden war. Glattes Glas war ein wahrer Schatz. Wenn sie es erst poliert hätte, würde sie daraus eine wunderschöne Kette oder einen hübschen Ring fertigen können. Sicher, es gab auch künstlich hergestellte Glasscherben, doch die sahen für sie immer unnatürlich aus. Das Meer war darin einfach besser.
Der Morgen war noch jung. Am Horizont lugte die Sonne hinter einer purpurnen Wolke hervor, und in weiter Entfernung erkannte Shelly in nördlicher und südlicher Richtung vereinzelte Menschen und Hunde. Doch der Strandabschnitt vor der Sackgasse gehörte nur ihr. Danke für diesen wundervollen Morgen, lieber Gott. Es verging kein Morgen am Strand, an dem sie sich Gott nicht nahe fühlte. Wie sollte es auch anders sein? Schließlich befand sie sich im Herzen seiner Schöpfung.
Sie beugte sich gerade wieder zu den Muscheln hinunter, als sie hinter sich eine Stimme vernahm.
“Pass auf, Shelly!”
Shelly drehte sich um und sah einen Golden Retriever auf sich zu rennen. Der Hund sprang sie voller Freude an und riss sie dabei fast zu Boden. Sie lachte. Kaum hatte sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden, sah sie noch zwei Hunde auf sich zu rasen, gefolgt von ihrem Frauchen Linda.
“Tut mir leid”, rief Linda im Näherkommen. “Sie haben dich gesehen und sind losgesaust wie der Wind.”
“Weil sie wissen, wie lieb ich sie habe.” Shelly kniete sich in den Sand, um die drei Hunde zu knuddeln.
“Hast du schon ein paar Muscheln gefunden?”, fragte Linda und ging mit ihren nackten Füßen so nah ans Wasser, dass die Wellen sie sanft umspielten.
“Heute ist viel buntes Glas dabei.” Shelly stand auf, um Linda die türkisfarbene Scherbe zu zeigen.
“Hübsche Farbe”, staunte Linda. Sie schleuderte den roten Plastikstock, den sie stets dabei hatte, ins Meer, und zwei der Hunde hechteten hinterher. Der dritte – dessen Name Shelly sich nicht merken konnte – sprang an Linda hoch, legte seine Pfoten auf ihre Schultern und ließ sich von ihr über den Rücken streicheln. “Ach übrigens”, begann Linda, “Jackie hat in ein paar Wochen Geburtstag, und ich wollte dich fragen, ob du exklusiv für sie eine deiner Meerglasketten machen könntest?”
“Was bedeutet 'exklusiv'?” Das Wort kam ihr zwar bekannt vor, doch in dem Zusammenhang, in dem Linda es verwendete, verstand sie es nicht.
Der Hund begab sich wieder auf alle Viere und jagte ins Wasser zu den anderen, die sich um den Stock balgten. “Ich meine, ich möchte dich bitten, eine Kette zu gestalten, die ich dir dann einzig für Jackie abkaufe”, erklärte Linda.
“Ach so, klar, das ist kein Problem”, sagte Shelly. “Am besten kommst du einfach mal vorbei und suchst dir ein Stück Glas und den Stil der Kette aus. Ich erledige dann den Rest.”
“Prima”, freute sich Linda. Melissa ließ den Stock zu ihren Füßen fallen, und Linda hob ihn auf, um ihn aufs Neue ins Meer zu werfen. “Ist es nicht erstaunlich, dass Rory Taylor den Sommer hier verbringt?”, fragte sie dann.
“Ja, das ist toll. Melissa ist manchmal bei ihm.”
Linda warf einen Blick zu ihren Hunden hinüber, die auf der Jagd nach dem Stock über die sich brechenden Wellen hüpften. “Da hat sie also gesteckt.”
“Daria und Chloe kennen ihn noch von früher”, erzählte Shelly.
“Ja, ich auch. Aber er kann sich wahrscheinlich nicht mehr an mich erinnern. Ich war damals ziemlich schüchtern und ein wahrer Spätzünder.”
“Doch, er weiß, wer du bist. Daria und Chloe haben ihm erzählt, wer noch alles hier lebt, und er konnte sich an dich erinnern. Aber ich glaube, ihm war neu, dass du lesbisch bist.”
Linda lachte. “Das war mir damals ja noch nicht einmal selbst klar. Ich wusste nur, dass ich anders war.”
“So wie ich weiß, dass ich anders bin”, sagte Shelly. Sie hoffte, dass Linda sie jetzt nicht für eine Lesbe hielt. Denn das war sie ganz sicher nicht. Sie konnte sich nur schwer vorstellen, dass eine Frau mit einer anderen Frau zusammen sein wollte. Doch sie mochte Linda und Jackie, und wenn die beiden miteinander glücklich waren, war es kein Problem für sie.
“Du bist auf wunderbare Art anders, Shelly”, sagte Linda. Sie schimpfte mit einem ihrer Hunde, der an dem umgedrehten Panzer eines Pfeilschwanzkrebses schnupperte, und der Hund trottete folgsam zu ihr herüber, um einen der Hundekuchen abzustauben, die sie in der Tasche ihres Pullis versteckt hatte.
Shelly hätte Linda gern erzählt, dass Daria bis über beide Ohren in Rory verliebt war, aber sie wusste, dass ihre Schwester etwas dagegen gehabt hätte, wenn sie es in der Nachbarschaft herumerzählte. Dabei freute sie sich doch so, endlich wieder Leben in Darias Augen zu sehen … Auch wenn Rory noch nicht begriffen hatte, dass ihre Schwester hübsch und zu haben war. Shelly hoffte, er würde es bald herausfinden. Und wenn nicht, müsste sie ihm wohl einen Wink mit dem Zaunpfahl geben. Nach der Trennung von Pete und ihrem Rückzug als Rettungsassistentin war Daria regelrecht scheintot gewesen, und Shelly sehnte sich danach, ihre Schwester wieder glücklich zu sehen. Sie würde alles für Daria tun, was es auch kosten mochte.
“Weißt du, warum Rory hier ist?”, fragte Shelly.
“Nein, warum?”
“Er will aufdecken, wer meine leibliche Mutter ist.”
Linda wich einen Schritt zurück. Ihre Augen waren hinter den runden Brillengläsern weit aufgerissen. “Und wie in Gottes Namen will er das anstellen?”
“Ich weiß nicht, aber er will es tun. Er will meine Geschichte bei 'True Life Stories' erzählen. So richtig, von Anfang an.”
Für einen Augenblick war Linda ganz still. Gedankenverloren gab sie ihren Hunden ein paar Leckerlis und schürzte nachdenklich die Lippen. “Willst du das wirklich wissen, Shelly?”, fragte sie schließlich. “Ich habe dich immer als Teil der Cato-Familie angesehen.”
“Ja, ich will es wissen.” Shellys Augen funkelten. Warum überraschte das jeden? “Es war meine Idee. Ich habe ihm geschrieben und ihn um Hilfe gebeten. Würdest du nicht erfahren wollen, wer deine richtige Mutter ist?”
“Doch, ich denke schon. Aber was, wenn … deine richtige Mutter jemand ist, den du verachtest?”
“Ich verachte niemanden”, entgegnete Shelly. Außer vielleicht Ellen, dachte sie, und schämte sich sogleich für diesen Gedanken.
Einer der Hunde erleichterte sich neben dem Muschelpanzer, und Linda schaufelte das Häufchen in einen Plastikbeutel.
“Tja”, sagte Linda, während sie den Beutel zuknotete und neben sich in den Sand legte. “Und was, wenn du sie nicht respektieren kannst? Wenn du keine Zeit mit ihr verbringen oder nichts mit ihr zu tun haben willst? Wie würde es dir dann gehen? Ich meine, vielleicht ist es am besten, die Dinge so zu belassen, wie sie sind.”
“Du hörst dich an wie Daria und Chloe.” Shelly war verärgert. “Der Einzige, der mich in der Suche nach meiner Mutter unterstützt, ist Rory. Ich bin so froh, dass er hier ist.”
“Ich glaube, Daria und Chloe … und ich … wir wollen dich nur vor einer Enttäuschung bewahren.”
“Aber dafür ist es doch längst zu spät. Irgendjemand hat mich als Baby am Strand einfach weggeworfen, und mein Gehirn hat sich nie so gut entwickelt, wie es normal wäre. Und jetzt möchte ich gern die Frau treffen, die das getan hat. Ich möchte verstehen, warum sie mir das angetan hat.”
“Könntest du ihr diese Tat denn je vergeben?”
“Ich kann jedem alles vergeben”, sagte Shelly überzeugt. “Pfarrer Sean sagt immer, Vergebung ist der höchste Wert, den ein Mensch besitzt.”
Linda schüttelte den Kopf, ein Lächeln lag auf ihren Lippen. “Ich wünschte, ich wäre ein bisschen mehr wie du, Shelly”, sagte sie. Sie pfiff nach ihren Hunden, die sogleich zu ihr kamen. Sie gab ihnen noch ein paar Leckerlis, bevor sie den vollen Plastikbeutel aufhob. “Ich komme in den nächsten Tagen mal wegen der Kette bei euch vorbei, in Ordnung?”, fragte sie.
“Okay. Ist es eine Überraschung? Soll ich aufpassen, was ich Jackie erzähle?”
“Ja, bitte. Und … sag Rory, er soll dich zu nichts überreden, was du nicht willst.”
Shelly verdrehte die Augen. “Mach ich, Linda.”
Sie sah Linda und den Hunden auf ihrem Weg zur Sackgasse nach und setzte dann ihren langsamen und systematischen Streifzug fort. Doch nach diesem Gespräch konnte sie sich nur schwer auf die Muscheln konzentrieren. Wenn doch nur alle genauso begeistert von ihrem Vorhaben wären wie sie. Vielleicht überraschte es die anderen, dass sie sich für ihre leibliche Mutter interessierte. Zeit ihres Lebens hatte sie das Gefühl gehabt, dass es auf eigentümliche Art verboten war, dieses Interesse zu zeigen. Als hieße das, sie wüsste nicht zu würdigen, was die Catos für sie getan hatten. Und jetzt war auf einmal Rory da und gab ihr die Freiheit zu sagen, dass sie sich sehr wohl für ihre Herkunft interessierte. Er war das Beste, was ihr seit Langem passiert war. Wenn er doch auch nur das Beste für Daria wäre.