46. KAPITEL

Grace fing Rory an seinem Cottage ab, wo er gerade die vom Sturm beschädigte Wandverkleidung reparierte. Sie war ohne Voranmeldung gekommen, da sie gefürchtet hatte, er ließe sich am Telefon irgendeine Ausrede einfallen, die sie am Ende daran hindern würde, Shelly zu sehen. Und sie hatte sie schon viel zu lange nicht mehr gesehen.

Rory bemerkte sie erst, als sie auf ihn zukam. “Hi.” Überrascht stand er auf.

“Ich war den ganzen Morgen unterwegs und hatte keine Gelegenheit anzurufen”, behauptete sie. “Ich hoffe, es stört dich nicht, dass ich einfach so reinplatze.”

“Nein”, entgegnete er. “Ich bin hier auch gleich fertig. Warte doch solange auf der Veranda auf mich.”

“Okay.” Sie drehte sich um und ging um das Cottage herum zur Vorderseite. Von der Terrasse sah sie zum Sea Shanty hinüber. In der Auffahrt standen keine Autos; Daria und Chloe waren vermutlich arbeiten. Shelly möglicherweise auch. Hoffentlich nicht, dachte sie. Denn heute hatte sie keinen plausiblen Grund, bei St. Esther's haltzumachen.

Nur wenige Minuten später kam Rory und setzte sich neben sie. “Ich freue mich sogar, dass du hier bist”, sagte er. “Ich muss nämlich mit dir reden.”

Sein Tonfall war so ernst, dass ihr Herz schneller schlug. Er kann es unmöglich wissen, sagte sie sich. Ausgeschlossen. Außer vielleicht … Hatte er etwa die Krankenschwester ausfindig gemacht?

“Worüber?”, fragte sie.

“Tja … Es ist irgendwie komisch, aber ich habe in den letzten Tagen gemerkt, dass Daria mehr für mich ist als nur eine gute Freundin.”

Sie brauchte einen Moment, um zu verstehen. “Du meinst … du hast dich in sie verliebt?”

“Ja.”

Sie musste lächeln, trotz der Folgen, die diese Neuigkeit für sie haben würde. Daria und Rory. Sie hatte sie sich nie als Paar vorgestellt, aber sie passten durchaus gut zusammen. Sie waren ein gutes Team. “Ich freue mich für dich”, sagte sie.

Er beugte sich vor und nahm ihre Hand. “Danke. Ich war nicht sicher, wie es dir damit gehen würde.”

“Ich kann dir nicht den geringsten Vorwurf machen. Immerhin war ich ja nicht gerade ein offenes Buch, oder?”

“Stimmt”, räumte er ein. “Das warst du nicht.”

“Ich habe die Zeit mit dir sehr genossen, aber ich denke, es ist wirklich gut, dass du und Daria euch gefunden habt.” Sie wahrte das Lächeln auf ihrem Gesicht, doch ihr Herz verkrampfte sich. Jetzt hatte sie keinen Vorwand mehr, nach Kill Devil Hills zu kommen – oder Shelly zu sehen. Sie hatte gehofft, zwischen ihr und Shelly würde sich irgendeine Verbundenheit entwickeln, wodurch ihre Beziehung zu Rory nicht länger notwendig wäre. Doch das war nicht geschehen. Und jetzt blieb ihr keine Zeit mehr.

“Dann sehen wir uns wohl nicht wieder, was?”, fragte sie.

“Du kannst mich gern mal besuchen kommen”, bot Rory an. Doch er wusste genauso gut wie sie, dass sie nun keinen Grund mehr hatte, nach Kill Devil Hills zu kommen.

Krampfhaft versuchte sie, das Gespräch auf Shelly zu lenken. “Shelly freut sich doch sicher auch, dass ihr zwei jetzt zusammen seid”, vermutete sie. Nicht gerade eine nahtlose Überleitung, aber besser ging es nicht.

“Ich glaube, sie weiß es noch gar nicht. Daria und ich sind uns ja selbst erst gestern Abend darüber klar geworden, und da war Shelly bei Andy, meine ich.”

“Ach ja, was hat es damit eigentlich auf sich?”

“Anscheinend sind sie seit gut zwei Jahren zusammen. Und Shelly ist schwanger. Sie wollen heiraten, aber Daria fürchtet …”

“Sie ist schwanger?” Grace beugte sich vor. Wieder dieses Herzklopfen. Ihr Arzt bekäme Zustände, wenn er wüsste, welchem Stress sie sich gerade aussetzte. “In der wievielten Woche?”

“Noch ganz am Anfang. Du hast sie doch im Bikini gesehen.”

“Sie sollte lieber einige pränatale Untersuchungen machen lassen. Ich meine, wegen ihrer … du weißt schon, ihrer … der Hirnschädigung.”

“Aber Gehirnschäden sind doch nicht erblich. Es besteht kein Grund zu der Annahme, dass ihr Baby nicht völlig gesund sein wird.”

Wahrscheinlich hielt er sie jetzt für strohdumm. “Oh.” Sie lächelte und versuchte, verlegen dreinzuschauen. “Natürlich.”

“Nein, die Frage ist vielmehr, ob sie das Kind überhaupt bekommen soll. Und wenn ja, ob sie für ein Baby sorgen kann.”

Die Großmutter des Kindes könnte ihr doch helfen, dachte Grace und spürte, wie ihre Augen feucht wurden. Hastig setzte sie ihre Sonnenbrille auf. “Tja, dann”, sagte sie und stand auf. “Ich mache mich besser auf den Weg. Danke, dass du dir Zeit für mich genommen hast, Rory.”

Er erhob sich ebenfalls und umarmte sie freundschaftlich. “Meld dich doch mal”, sagte er. “Ich hoffe, für dich wendet sich auch alles zum Guten.”

“Danke.” Sie verließ die Veranda, ging durch den Sand zu ihrem Auto und wagte nicht, sich noch einmal umzudrehen – oder einen Blick auf die andere Straßenseite zu werfen.

Eddie wartete im Apartment über der Garage auf sie. Als Grace ihn sah, blieb sie wie angewurzelt stehen, und er eröffnete eine offenbar einstudierte Rede.

“Hör mich an. Ich weiß, das hätte ich nicht tun sollen. Aber bitte glaub mir, ich habe es nur gemacht, weil ich besorgt um dich war.”

“Wovon redest du?”

“Ich bin dir vorhin gefolgt. Ich bin dir den ganzen Weg nach Kill Devil Hills nachgefahren und habe gesehen, wie du in das Cottage von Rory Taylor gegangen bist. Erst wusste ich ja nicht, wer dort wohnt, aber ich habe mich erkundigt. Dann ist es also das … was du die ganze Zeit gemacht hast, oder? Dich mit ihm treffen? War er es, auf den du im Motel in Greenville gewartet hast?”

Grace fühlte sich gefangen und matt. Sie wünschte, Eddie würde sie wenigstens anbrüllen, seiner Wut Luft machen, damit sie zurückschreien könnte. Aber das war nicht seine Art. Sie setzte sich auf Sofa. “Es ist nicht so, wie du denkst”, sagte sie. Der Satz klang genauso müde, wie sie sich fühlte.

“Ich bin ziemlich enttäuscht!” Eddie nahm auf der anderen Seite des Zimmers Platz. “Was ich am wenigsten erwartet hätte, ist ein anderer Mann. Ich hätte nicht gedacht, dass du die Energie oder das Interesse dafür hast. Ich hätte nicht gedacht, dass es das ist, was du willst.”

Tränen standen in seinen Augen, und sie ertrug seinen Anblick nicht. “Du hast recht”, bestätigte sie. “Das ist es nicht, was ich wollte.”

“Warum hast du dich dann mit ihm getroffen? Ich verstehe das nicht, Grace. Willst du die Scheidung? Würde dich das glücklich machen? Ich will dir helfen, aber ich weiß nicht, wie.”

Grace schloss die Augen und versank tiefer in den Sofakissen. Das war alles zu viel. Shelly war schwanger. Rory hatte sich für Daria und gegen sie entschieden. Vielleicht würde sie Shelly niemals wiedersehen. Warum konnte sie sich nicht einfach in ihrem Bett verkriechen und die Decke über den Kopf ziehen? Aber nein, Eddie stellte ihr Fragen, verlangte Antworten, und sie musste ihm jetzt irgendwie ihr Verhalten der letzten Monate erklären.

Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm die Wahrheit zu sagen.

“Tolles Strandwetter”, sagte Bonnie sarkastisch, als sie am Fenster ihres Cottages stand und auf die Straße blickte. Zwar regnete es nicht – noch nicht. Aber die Wolken hingen schwer am Himmel, und die Luft war kühl. So ging es jetzt schon seit drei Tagen, die ersten drei Tage ihres einwöchigen Urlaubs, mit dem sie sich für ihren Schulabschluss belohnten. Das Cottage hatte nur ein Schlafzimmer und lag zwei Blocks vom Strand entfernt. Doch etwas Besseres konnten sie sich nicht leisten.

Grace sah von ihrem Buch auf. “Vielleicht ist es ja morgen besser.” Eigentlich war es ihr egal. Sie war einfach nur froh, weg von ihrer Mutter und Charlottesville zu sein, wo sie ihre Schwangerschaft hatte verheimlichen müssen. Hier trug sie zum ersten Mal kurze Umstandshosen und ein Top, das liebevoll ihren Bauch umspielte. Sie war jetzt im achten Monat, was man ihr jedoch nicht ansah – Umstandskleidung oder nicht. Einige ihrer Klassenkameraden hatten vielleicht etwas vermutet, doch ihre Mutter hatte die Gewichtszunahme nichts anderem als ihrer Halsstarrigkeit zugeschrieben. Zudem sprach ihre Mutter ohnehin kaum mit ihr; sie hatte ihr noch nicht verziehen, dass sie Brads Modelagentur verlassen hatte und sich nun “völlig gehen ließ”, wie sie sagte.

Dennoch würde die Woche am Strand nicht einfach nur ein Faulenzerurlaub für sie und Bonnie sein. Sie wollten sich in dieser Zeit überlegen, was Grace machen sollte. Bislang stand nur fest, dass sie das Kind behalten wollte. Sie liebte es bereits jetzt. Sie hatte es von dem Moment an geliebt, da sie wusste, dass es existierte. Ihre Mutterinstinkte waren stark ausgeprägt – so stark, dass sie in die Nachbarstadt zur Mutterschaftsvorsorge gefahren war, um die Gesundheit ihres ungeborenen Kindes keinerlei Risiken auszusetzen. Der behandelnde Arzt hatte versucht, Grace zu einer Adoption zu überreden, doch ihr Entschluss stand fest. Ihre Mutter bekäme natürlich einen Anfall und würde sie hochkantig rausschmeißen. Aber Grace war fest entschlossen, einen Weg zu finden, für sich und ihr Baby zu sorgen. Und Bonnie hatte versprochen, ihr zu helfen, wo sie nur konnte.

Bonnie warf sich in einen der abgewetzten Sessel und legte die Füße auf den Couchtisch. “Ich habe schon all meine Bücher durch”, nörgelte sie.

“Du kannst eins von meinen haben”, bot Grace ihr an.

“Nichts für ungut, aber ich interessiere mich nicht besonders für Babybücher.”

Plötzlich klopfte es an der Tür, und Grace zuckte zusammen. In ihr schlummerte immer noch die Angst, ihre Mutter könnte von ihrer Schwangerschaft erfahren und sie in Kill Devil Hills aufgespürt haben. Angespannt beobachtete sie, wie Bonnie die Tür öffnete.

Eine Frau stand im Eingang. “Hi”, sagte sie lächelnd. Sie war etwa Ende zwanzig. “Ich bin Nancy. Mein Mann und ich wohnen im Cottage nebenan, und wir haben weder Fernseher noch Radio. Aber wir haben gehört, dass in den nächsten Tagen ein Sturm heraufziehen soll, und uns gefragt, ob ihr vielleicht etwas Näheres wisst? Habt ihr einen Fernseher?”

“Ja, einen kleinen”, antwortete Bonnie. “Wir haben ihn bisher aber kaum benutzt. Ich weiß also nicht, was der Wetterbericht sagt.”

Grace stand auf und ging zur Tür. “Du kannst später gern zu den Nachrichten rüberkommen”, bot sie Nancy an.

“Das wäre toll. Ich würde so gegen fünf kommen, wenn euch das passt. Wenn es nämlich die ganze Woche so bleibt, reisen wir vielleicht ab. Wir haben diesen Urlaub schon vor Ewigkeiten geplant, und nun ist hier so ein lausiges Wetter.” Während sie sprach, schaute sie unverwandt auf Graces Bauch, und Grace war hin und her gerissen zwischen Verlegenheit und Stolz.

“Wir sind hier”, meinte Bonnie. “Sonst kann man ja eh nicht viel machen.”

Um Punkt fünf standen Nancy und ihr Mann vor der Tür, und die vier setzten sich ins Wohnzimmer und schauten auf dem kleinen Schwarzweißfernseher die Nachrichten.

Nancys Ehemann hieß Nathan. Er war Ingenieur, hatte kurzes rabenschwarzes Haar, dunkle Augen hinter dicken, von einem Drahtgestell eingefassten Brillengläsern und einen buschigen Bart. Er war sehr still, während er ans Sofa gelehnt auf dem Fußboden saß und sich auf die Fernsehsendung konzentrierte. Nancy hingegen plapperte munter drauflos.

“Woher kommt ihr zwei?”, wollte sie wissen.

“Charlottesville”, antwortete Bonnie. “Wir haben gerade unseren Highschool-Abschluss gemacht. Und mit dieser Woche am Strand belohnen wir uns jetzt dafür.”

“Highschool?”, wiederholte Nancy. Wieder wanderte ihr Blick zu Graces Bauch, und dieses Mal war es Grace unangenehm. “Dann gehe ich davon aus, dass du nicht verheiratet bist, richtig?”, fragte Nancy.

“Ja”, erwiderte Grace.

“Wow. Wann ist es denn so weit?”

“In einem Monat.”

“Und hast du … Entschuldige bitte meine Neugier, aber ich bin Krankenschwester. Hast du einen festen Freund?”

“Nein”, sagte Grace. Aus irgendeinem Grund störte sie Nancys Fragerei nicht. Sie wollte zwar persönliche Dinge von ihr wissen, fragte aber vorsichtig.

“Willst du das Baby behalten?”

“Ja. Auch wenn ich noch nicht weiß, wie ich für uns beide sorgen soll.”

“Unterstützen dich deine Eltern denn nicht?”

Grace lachte. “Ich habe nur eine Mutter. Und die weiß nichts davon.”

“Sie weiß es nicht?” Nancy blickte ungläubig drein. “Ist sie blind?”

“Ich habe es vor ihr versteckt. Sie glaubt, ich wäre einfach dick geworden.”

“Wow”, sagte Nancy wieder. “Was wird sie denn machen, wenn sie es herausfindet?”

“Einen Herzinfarkt bekommen.” Wieder lachte Grace. “Gleich nachdem sie mich umgebracht hat.”

“Warum hast du es nicht abgetrieben?”

“Ich wollte es einfach nicht.”

“Es muss doch unheimlich sein, nicht zu wissen, wie man sein Kind ernähren soll. Es ist klug von dir, darüber nachzudenken. Du bist erst achtzehn, oder?”

“Nicht ganz.”

“Mein Gott, Mädchen … Ich finde, du solltest mal ernsthaft über eine Adoption nachdenken.”

“Nein. Ich finde schon einen Weg, wie ich das schaffe.”

Vom Boden drang Nathans Gähnen zu ihnen herauf.

“Ich meine nur, es gibt so viele Paare, die aus verschiedenen Gründen kein eigenes Kind bekommen können. Sie könnten deinem Baby ein gutes Zuhause geben, mit zwei Elternteilen und viel Liebe.”

Nancy rührte an dem einzigen Zweifel, der an Grace nagte: Sie war nicht fair zu diesem Kind, weil sie es von vornherein nicht nur eines Vaters, sondern auch der materiellen Güter beraubte, die zu haben es verdiente.

“Ich könnte es aber niemals weggeben”, sagte sie.

“Das verstehe ich. Ich glaube, ich könnte es auch nicht. Aber dir bleibt ja noch ein Monat, um deine Entscheidung noch einmal zu überdenken.”

“Ich habe sie gut durchdacht.”

“Und wie ist deine Schwangerschaft bisher verlaufen?”, wechselte Nancy das Thema.

“Ohne Probleme. Mir war noch nicht mal übel. Aber jetzt … werde ich langsam nervös. Ich habe Bücher über die Wehen und so gelesen. Ich habe Angst.”

“Das wird schon.”

“Was für eine Krankenschwester bist du? Hast du schon mal bei einer Geburt geholfen?”

“Ja, während meiner Ausbildung. Aber jetzt arbeite ich auf der Onkologie.”

“Was ist das?”, fragte Bonnie.

“Ich pflege Krebspatienten in einem Krankenhaus in Elizabeth City.”

“Das muss schwer sein.”

“Schwer, aber lohnend.”

“Und”, fing Grace erneut an, sie war wissbegierig, “als Auszubildende, was war da die längste Geburt, die du je miterlebt hast?”

Nancy lachte. “Du machst dich ja vollkommen verrückt. Es lohnt sich nicht, sich so viele Gedanken darüber zu machen, das kann ich dir versprechen. Es wird vorbei sein, noch ehe du es merkst, und dann hältst du dein wundervolles Baby im Arm.”

Grace war nicht sonderlich beruhigt. Doch sie kannte sonst niemanden, mit dem sie darüber hätte sprechen können, und deshalb fragte sie weiter: “Aber warum schreien die Frauen dann so? Ich meine, einmal bin ich gestürzt und habe mir den Arm gebrochen, und obwohl es höllisch wehtat, habe ich nicht geschrien. Also müssen die Schmerzen bei einer Geburt doch tausendmal schlimmer sein.”

In Nancys Blick lag Mitgefühl. “Ich habe es nie selbst durchgemacht”, erklärte sie, “also kann ich leider nicht aus eigener Erfahrung sprechen.”

Bildete Grace es sich ein, oder warf Nathan seiner Frau bei diesen Worten tatsächlich einen vielsagenden Blick zu? Seine Brillengläser waren so dick, dass sie seine Augenbewegungen nur schwer erkennen konnte.

“Aber alle Frauen, die ich kenne, überstehen das Ganze gut”, fuhr Nancy fort. “Ja, vielleicht schreien sie, aber nach wenigen Jahren zucken sie nur noch die Achseln und machen es noch mal. So lohnenswert ist das Ergebnis für sie. Ehrlich, Grace, willst du den letzten Monat deiner Schwangerschaft wirklich damit verbringen, dir darüber Sorgen zu machen?”

Grace ließ den Kopf gegen die Sessellehne fallen. Auf einmal übermannte sie all ihr Kummer. “Sorge ist seit einiger Zeit mein zweiter Vorname”, gestand sie. “Ich weiß nicht, was ich machen soll. Wie bringe ich es meiner Mutter bei? Wo soll ich wohnen? Ich habe nur noch wenig Erspartes. In den ersten Wochen kann ich das Baby stillen, stimmt's? Da brauche ich ihm noch kein Essen zu kaufen.”

Nancy sah sie einen Moment durchdringend an, ehe sie antwortete. “Du bist überhaupt nicht auf ein Kind vorbereitet. Du brauchst staatliche Unterstützung. Ihr lebt in Charlottesville, habt ihr gesagt? Schreib mir mal deinen Namen und deine Telefonnummer auf. Sobald ich wieder in Elizabeth City bin, werde ich mich erkundigen, wo du dir Hilfe holen kannst. Einverstanden?”

Danke”, sagte Grace. Plötzlich fühlte sie sich nicht mehr so allein. Bonnie war eine gute Freundin und unterstützte sie nach Kräften, aber sie wusste genauso wenig über Geburten und Babys wie Grace.

“Und”, fügte Nancy hinzu, “ich finde, wenn du wieder in Charlottesville bist, solltest du es deiner Mutter sagen.”

Grace schüttelte heftig den Kopf. “Du kennst meine Mutter nicht. Außerdem glaube ich sowieso nicht, dass ich wieder nach Hause gehen kann. Ich werde zu rund. Sie würde es sofort merken. Bonnie und ich müssen uns noch überlegen, wo ich nächsten Monat unterkriechen kann.”

Nancy seufzte, und Grace entging nicht ihr missbilligender Gesichtsausdruck. “So kann man doch nicht leben, Grace. Pass auf: Ich besorge dir die Informationen über die Behörden, von denen du Unterstützung erwarten kannst. Aber ich möchte, dass du mir eines versprichst.”

“Was?”

“Wenn dieses Kind auf der Welt ist, besorgst du dir die Pille. Das darf kein zweites Mal passieren. Das Baby, das du in dir trägst, hätte nie gezeugt werden dürfen.”

Grace hätte gern gesagt, dass es nicht ihre Schuld war. Sie hätte gern erzählt, was ihr auf Hawaii widerfahren war. Doch sie hätte Nein zu Brad sagen können; sie hätte Nein zu Joey sagen können. Niemand hatte sie vergewaltigt. Also war es ihre Schuld.

“Ich weiß”, erwiderte sie. “Glaub mir, es wird nie wieder passieren. Und schon gar nicht so.”

In den nächsten Tagen lugte die Sonne häufiger zwischen den Wolken hervor. Oft genug, dass Nancy und Nathan beschlossen, auch den restlichen Urlaub in Kill Devil Hills zu verbringen, und lange genug, dass Bonnie nicht mehr ständig herumnörgelte. Der angekündigte Sturm traf sie am Samstag. Doch entgegen der Vorhersagen war es kein Hurrikan, sondern ein Tropensturm, der eine Evakuierung nicht erforderlich machte. Dennoch verließen die meisten Urlauber am Samstagmorgen die Outer Banks. Nicht so Grace und Bonnie, denn sie würden am nächsten Tag die Miete zahlen und das Cottage bis ein Uhr mittags räumen müssen. Doch Grace, die immer noch keine Ahnung hatte, wo sie unterkommen sollte, war noch nicht zur Heimreise bereit. Sie hatte Nancy ihre Telefonnummer gegeben, damit die Krankenschwester sie anrufen konnte, sobald sie die versprochenen Informationen für sie hatte. Sie wünschte, es wäre nicht Sommer, sondern Winter, und sie könnte ihren Bauch unter dicken Pullis verstecken. Vielleicht sollte sie der Begegnung mit ihrer Mutter einfach aus dem Weg gehen.

Bei Einbruch der Dunkelheit pfiff der Wind bereits um ihr Cottage, das so gefährlich erzitterte, als bräche es gleich zusammen. Zum ersten Mal in dieser Woche waren Grace und Bonnie froh darüber, sich kein Haus am Strand leisten zu können. Dort würden sie bestimmt einfach weggespült.

Sie hatten nur noch wenig zu essen, doch da es draußen zu ungemütlich zum Einkaufen war, aßen sie am Abend Brote mit Erdnussbutter und Marmelade. Kurz danach fiel der Strom aus, und sie hatten weder Licht noch konnten sie fernsehen. Sie fanden eine Sturmlampe und stellten sie auf den Couchtisch. Aufs Sofa gekuschelt betrachteten sie die züngelnde Flamme hinter dem Glas, als Grace Krämpfe bekam.

“Können Erdnussbutter und Marmelade schlecht werden?”, fragte sie Bonnie.

“Glaub nicht. Außerdem haben wir sie doch erst vor wenigen Tagen gekauft. Wieso?”

“Ich habe Magenschmerzen.”

“Oh”, frotzelte Bonnie sie, “das sind bestimmt die Wehen.”

“Sehr komisch”, entgegnete Grace, doch sie fürchtete, Bonnie könnte recht haben. Das waren keine normalen Magenschmerzen. Sie waren eher wie Menstruationskrämpfe, die kamen und gingen. Aber sie waren schwach, nicht der Rede wert, und ganz sicher nicht so, wie sich Wehen anfühlten. Außerdem war sie erst im achten Monat.

“Wir können genauso gut schlafen gehen”, meinte Bonnie.

“Oh Gott, Bonnie.” Grace konnte jetzt unmöglich ins Bett gehen. Wenn sie aufwachte, blieben ihr nur noch wenige Stunden Freiheit. Sie würde sich ihrer eigenen unsicheren Zukunft und der ihres Kindes stellen müssen. “Ich will morgen noch nicht nach Hause.”

“Ich wohl”, meinte Bonnie. “Nichts für ungut, aber ich will Curt wiedersehen. Und ich wette, das Wetter in Charlottesville war die ganze Zeit über besser als hier.”

“Du musst auch keine Bowlingkugel unter deinem T-Shirt verstecken, wenn du nach Hause kommst.”

“Meine Mutter hätte es sowieso schon längst gemerkt. Sie passt viel zu sehr auf mich auf.”

Grace wandte den Blick von ihrer Freundin ab. Sicher, Bonnie meinte das als Vorwurf, aber sie wusste ja gar nicht, wie gut sie es hatte. Grace rutschte auf dem Sofa hin und her, um eine Position zu finden, in der es ihrem Magen besser ging. Vielleicht würde es helfen, wenn sie sich hinlegte.

“Na gut”, sagte sie und stand auf. “Lass uns ins Bett gehen.”

Grace schlief unruhig. Obwohl sie wegen des Regens das Schlafzimmerfenster geschlossen hatte, klapperte das Glas im Fensterrahmen, und trotz des draußen wütenden Sturms war es in ihrem Zimmer heiß und das Bettzeug schweißnass. Sie träumte, sie läge im Krankenhaus, bekäme das Baby und würde schreien. Dann wachte sie von ihrem eigenen Geschrei auf und wusste sogleich, dass sie tatsächlich in den Wehen lag. Dieser Schmerz war kein Traum.

Bonnie stürzte an ihre Seite. “Grace? Was ist los?”

Im Zimmer war es stockfinster. Bonnies Stimme durchbrach die Schwärze, aber Grace wusste nicht, aus welcher Richtung sie kam. “Ich glaube, das Baby kommt.” Irgendwie schaffte sie es, die Worte zwischen zwei Schmerzexplosionen hervorzuquetschen. Sie hielt sich nicht zurück, sondern brüllte aus vollem Hals, warf all ihre Energie in den Schrei und verstand auf einmal, warum Frauen während der Geburt diesen Drang verspürten. Kein anderes Geräusch würde denselben Zweck erfüllen.

“Es darf noch nicht kommen”, sagte Bonnie, und Grace hörte die Angst in ihrer Stimme.

Sie konnte nicht mit Worten, sondern nur mit Keuchen und einem weiteren Schmerzgeheul antworten.

“Ich hole die Lampe”, meinte Bonnie. “Warte hier.” Dann lachte sie nervös. “Als wenn du irgendwo anders hingehen könntest.”

Nach wenigen Sekunden war sie mit der brennenden Laterne in der Hand zurück und stellte sie auf die alte Frisierkommode. Grace sah die Angst in den Augen ihrer Freundin. Wahrscheinlich lag auf ihrem Gesicht derselbe panische Ausdruck.

“Ich weiß nicht, was ich tun soll, Grace.” Bonnie ruderte fahrig mit den Armen in der Luft umher. “Sag du es mir.”

Grace fühlte sich hilflos. Was hier mit ihr geschah, führte ein Eigenleben, und sie war nicht in der Lage, es zu stoppen. Mit einem verzweifelten Blick flehte sie Bonnie wortlos an, etwas zu unternehmen.

“Die Krankenschwester!”, sagte Bonnie plötzlich. “Nancy!” Sie rannte aus dem Zimmer. Graces Flehen, sie nicht allein zu lassen, ignorierte sie.

Dann begann Grace wieder, lautstark zu schreien – sie schrie und schrie, um nur nicht an den rasenden Schmerz zu denken, der ihren Körper durchfuhr, und um zu vergessen, dass sie allein war. Als Bonnie und Nancy herbeieilten, schrie sie immer noch.

Nancy gab Bonnie Anweisungen, die Grace nicht verstehen konnte, und Bonnie verließ das Zimmer. Während Nancy durch den Raum ging, redete sie beruhigend auf Grace ein, so als würde nichts Ungewöhnliches passieren, und Grace fühlte sich in Anwesenheit der Krankenschwester gleich viel wohler. Nur am Rande registrierte sie, dass Nancy das Bettzeug anders hinlegte und für eine kurze Untersuchung die Laterne zwischen ihre Beine hielt. Nancys Bewegungen, ihr gesamtes Verhalten, waren souverän und ruhig.

Nachdem sie die Sturmlampe zurück auf die Kommode gestellt hatte, setzte sich Nancy auf die Bettkante. “Ich zeige dir jetzt, wie du atmen musst”, erklärte sie Grace mit sanfter, ruhiger Stimme. “Das wird die Schmerzen erträglicher machen.” Grace bemerkte, dass Bonnie zurückgekommen war, und stellte nach einem kurzen Blick in ihr Gesicht fest, dass sie weinte. Angst trieb Bonnie immer die Tränen in die Augen, das hatte Grace schon oft erlebt.

“Drück meine Hand, wenn es dir hilft”, sagte Nancy. Sie legte ihre Hand in Graces, die sich sogleich daran festklammerte.

“Und jetzt hör mir zu, Grace.” Nancy beugte sich dicht zu ihr hinunter. “Sicher hast du inzwischen begriffen, dass du das Baby unmöglich behalten kannst. Stimmt's? Du bist einfach zu jung, um ein Kind ganz allein aufzuziehen, vor allem ohne die Unterstützung vom Kindesvater oder von deiner Mutter. Du weißt ja noch nicht mal, wo du wohnen sollst. Und morgen wirst du dieses Cottage mit einem Neugeborenen im Arm verlassen – ohne Windeln, ohne Strampler und ohne eine Idee, wie du mit ihm umgehen, geschweige denn für es sorgen sollst. Sag mir die Wahrheit: Kannst du mit dem Baby nach Hause zu deiner Mutter?”

Bei dem Gedanken stieß Grace ein Jaulen aus.

“Nein, kann sie nicht”, antwortete Bonnie für ihre Freundin. “Du kennst ihre Mutter nicht.”

“Ich weiß, dass du dir ausgemalt hast, das Baby zu behalten. Nur war das nichts als ein schöner Traum. Aber ich kann dir helfen. Lass mich das Baby nehmen. Lass es mich in das Krankenhaus bringen, in dem ich arbeite. Ich sorge dafür, dass es untersucht wird und später in eine liebevolle Familie kommt. So wird niemand – auch deine Mutter nicht – jemals erfahren, dass du schwanger warst. Du, ich, Bonnie und Nathan, wir sind die Einzigen, die davon wissen. Und so kann es auch bleiben.”

“Sie hat recht”, sagte Bonnie. “Ich habe Angst, Grace. Ich meine, es war eine Sache, als du schwanger warst. Aber gleich haben wir hier ein Baby. Ein neues Leben! Du musst Nancy erlauben, es mitzunehmen.”

Eine Welle des Schmerzes überrollte Grace und presste ihren Bauch zusammen. Sie stieß einen weiteren Schrei aus. Ihr Kopf war voller Gedankenfetzen. Sie sah ihre Mutter, wie sie sie anschrie und zwang, ihr zu erzählen, wie es zu dieser Schwangerschaft gekommen war. Sie sah sich und Bonnie, wie sie verzweifelt versuchten, das Neugeborene am Leben zu erhalten. Oh Gott! Was, wenn ihr Egoismus dem Baby schaden würde? Durch den Schleier der Schmerzen und Angst hindurch erschien ihr die Idee, das Baby zu behalten, auf einmal unsagbar eigensüchtig, fast schon grausam.

Mit beiden Händen drückte sie Nancys Hand. “Würdest du mich anrufen? Wenn du das Baby mitnimmst, würdest du mich wissen lassen, dass es ihm gut geht? Dass es von … wunderbaren Menschen adoptiert wurde? Versprich mir, dass du es nur jemandem gibst, der liebevoll ist und ihm alles geben kann.” Ihre Stimme brach, und sie klammerte sich noch fester an Nancys Hand.

“Natürlich, Grace”, versprach Nancy. “Ich werde mich um alles kümmern. Du müsstest dir keine Gedanken machen. Gib mir einfach das Baby, und ich kümmere mich darum.”

“Das ist wie ein Wunder, oder, Grace?”, sagte Bonnie. “Ich meine, zufällig hast du deine Wehen einen Monat zu früh, und zufällig wohnt eine Krankenschwester nebenan, die genau weiß, was zu tun ist, und ein gutes Zuhause für dein Baby finden kann. Du musst es so machen, Grace. Anscheinend soll es genauso sein.”

Der Schmerz nahm wieder zu, und Grace krümmte sich auf dem Bett. Von draußen schlug der Wind gegen das Fenster über ihrem Kopf. In ihren Ohren krachte der Donner, und der Blitz erfüllte das Zimmer mit einem unheimlichen überirdischen Licht. Rette mich aus diesem Albtraum. Sie hatte sich dieses Kind so sehnlich gewünscht, doch jetzt wollte sie nur noch davon befreit werden. Wollte es aus ihrem Körper herauspressen. Damit der Schmerz ein Ende hatte. Sollte Nancy das Baby mitnehmen, sicher und gesund. Sollte sie ihm eine Zukunft ermöglichen, die besser war als alles, was sie selbst ihm jemals würde bieten können.

Ja”, heulte sie auf. “Bitte nimm es, Nancy. Bitte mach, dass das hier vorbei ist.”

Das kleine Mädchen wurde um 04:15 Uhr geboren, als der wütende Sturm sich beruhigt hatte und Grace am Ende ihrer Kräfte war. Wie durch einen Nebel nahm sie das Schreien ihres Babys wahr, und in der Dunkelheit streckte sie die Arme in seine Richtung aus.

“Lass sie mich ansehen, Nancy”, sagte sie schwach.

“Nein, nein. Vertrau mir, Grace. Es ist leichter für dich, wenn du sie nicht siehst.”

“Sie hat recht.” Bonnies Stimme drang von der Seite an ihr Ohr. “Es wird umso schwerer für dich sein, es … sie herzugeben, wenn du sie vorher siehst.”

Sie war zu müde, um zu kämpfen, und ließ sich nur zu gern vom Schlaf einhüllen. Endlich war der Schmerz vorüber, endlich war es friedlich und still. Und die Stille schien sich über das gesamte Haus gelegt zu haben.

Am Morgen öffnete Grace um halb zehn die Augen, und die Nacht kam ihr wie die Erinnerung an einen schlechten Traum ins Gedächtnis zurück. Unter ihrem Po spürte sie etwas Feuchtes und tastete nach dem Handtuch, das Nancy – oder vielleicht Bonnie – ihr untergelegt hatte. Sie hatte ihr Baby bekommen. Sie hatte es Nancy gegeben, eine gute Entscheidung. Nancy würde sich gewissenhaft um das Baby kümmern. Doch es gab keinen Grund, warum sie Adoptiveltern suchen sollte. Das Baby könnte in einer Pflegefamilie unterkommen! Und sobald sie, Grace, wieder mit beiden Beinen fest im Leben stehen würde, sobald sie eine Wohnung und Arbeit gefunden hätte, könnte sie das Baby wieder zu sich nehmen. All ihre Verzweiflung und Angst der vergangenen Nacht schienen ihr jetzt heillos übertrieben.

“Bonnie?”, rief sie.

Bonnie kam ins Zimmer, unter ihren blauen Augen hatte sie tiefe Ringe. “Du bist wach! Wie geht es dir? Hast du starke Schmerzen?”

Grace stützte sich auf die Ellbogen. “Ich will mein Baby sehen.”

“Das geht nicht, Grace. Weißt du nicht mehr, was Nancy gesagt hat? Es wird nur schwerer für dich, wenn du es siehst.”

“Nicht es. Sie. Und ich habe über das nachgedacht, was ich letzte Nacht gesagt habe, wozu ich mich bereit erklärt habe. Ich will nicht, dass sie das Baby an Adoptiveltern vermittelt. Ich war letzte Nacht nicht ganz bei mir. Nancy kann die Kleine doch in einer Pflegefamilie unterbringen, und zwar so lange, bis ich mein Leben geregelt habe. Und dann nehme ich sie wieder zu mir.”

“Ach Grace, du kannst ja noch immer keinen klaren Gedanken fassen.” Bonnie setzte sich auf ihr Bett. “Du musst tun, was am besten für das Baby ist. Und was am besten für dich ist. Du hattest noch nicht mal einen Freund. Du hast doch noch gar nicht richtig gelebt. Ich habe die ganze Zeit gedacht, es ist verrückt, wenn du dich an ein Kind bindest. Aber ich wusste, dass du es so wolltest, und habe es akzeptiert. Aber das hier ist doch die perfekte Lösung. Dem Baby wird es gut gehen. Deine Tochter wird es besser haben als bei dir, das musst du zugeben. Und du kannst dein eigenes Leben weiterführen.”

Bonnies Unverständnis ärgerte sie. “Du warst nicht acht Monate lang mit diesem Baby schwanger.” Sie fing an zu weinen. “Du hast sie nicht direkt unter deinem Herzen getragen. Du hast nicht gespürt, wie sie sich bewegt. Du sprichst von ihr, als wäre sie irgendeine … unwillkommene Störung oder so. Sie ist mein Kind. Vielleicht werde ich ihr nicht jedes Spielzeug kaufen oder zueinander passende Sachen anziehen können. Aber ich werde ihr so viel Liebe und Zuneigung schenken, dass sie nie das Gefühl hat, ihr würde es an irgendetwas fehlen.”

Bonnie seufzte müde. “Also, was soll ich tun?”

“Geh nach nebenan und bitte Nancy, das Baby herzubringen. Ich will meine Tochter endlich sehen. Und dann kann ich mit Nancy besprechen, wie ich mein Baby in einer Pflegefamilie unterbringen kann, bis ich mein Leben in die richtigen Bahnen gelenkt habe.”

“In Ordnung”, sagte ihre Freundin und stand auf. “Denk daran, dass wir hier um eins raus sein müssen. Zu essen haben wir auch nichts mehr. Ich kaufe also noch ein bisschen Brot und Monatsbinden für dich, nachdem ich bei Nancy war. Die wirst du brauchen, hat sie gesagt.”

“Gut. Aber zuerst bringst du mir mein Baby, ja?”

“Ja.”

Als Bonnie das Cottage verlassen hatte, stand Grace ganz langsam auf. Sie ging ins Badezimmer und wusch sich. Mit Schrecken sah sie unzählige blutige Handtücher im Mülleimer. Die würden sie vor ihrem Aufbruch unbedingt entsorgen müssen. Aus einem Waschlappen fertigte sie sich eine provisorische Binde und zog sich dann an. Sie konnte es kaum erwarten, ihr Baby im Arm zu halten.

Als sie aus dem Bad kam, stand Bonnie in der Tür zum Schlafzimmer. Ihr Gesicht war kalkweiß.

“Sie sind fort”, sagte sie.

“Wer?”, fragte Grace, obwohl sie fürchtete, die Antwort bereits zu kennen.

“Nancy und Nathan. Das Cottage steht leer. Ihr Auto und die Koffer – einfach alles ist weg.”

Von Schmerz und Trauer überwältigt, sank Grace auf ihr Bett. Ihre Gedanken rasten. “Ich kenne noch nicht mal ihren Nachnamen. Du?”

Bonnie schüttelte den Kopf. “Ich glaube, den haben sie uns gar nicht gesagt.”

“Oh Gott, Bonnie. Mein Baby. Sie haben mir mein Baby weggenommen.” Sie fing an zu weinen, und Bonnie ging zu ihr hinüber und nahm sie in den Arm.

“Ich weiß. Es tut mir so leid. Aber es geht ihr bestimmt gut. Sie sind bestimmt nur so früh gefahren, um die Kleine schnell ins Krankenhaus zu bringen und untersuchen zu lassen. Nancy hat auf mich den Eindruck gemacht, als wäre sie eine wirklich gute Krankenschwester. Sie wird dafür sorgen, dass es deinem Baby an nichts fehlt.”

“Aber ich werde sie niemals sehen!”

Auch Bonnie weinte. “Ich hätte Nancy letzte Nacht nicht zustimmen sollen”, warf sie sich vor. “Aber ich habe doch nicht gemerkt, wie durcheinander du warst, dass du nicht mehr wusstest, was du sagst. Es schien alles so perfekt.”

Lange lag Grace weinend in Bonnies Armen. Dann blickte sie schließlich auf ihr Kopfkissen. Es sah ja so einladend aus. Das Gesicht zur Wand legte sie sich hin und zog die Decke über den Kopf. Sie spürte Bonnies Hand auf dem Rücken und schloss die Augen.

“Ich gehe schnell einkaufen”, meinte Bonnie, “und besorge dir die Binden. Brauchst du sonst noch was? Suppe oder so?”

Grace hatte nicht die Kraft zu antworten. Sie hatte die Frage ohnehin kaum gehört.