1. KAPITEL
Zweiundzwanzig Jahre später
Darias dreiunddreißigster Geburtstag unterschied sich nicht wesentlich von den anderen Tagen Anfang Juni. Mit den ersten Urlaubern, die in die Küstenregion kamen, kehrte allmählich auch das Leben auf die Outer Banks zurück, und es schien, als würden schlagartig auch Luft und Meer wärmer. Daria verbrachte den Tag mit ihrem Tischlerkollegen Andy Kramer. Gemeinsam gestalteten sie in einem Haus in Nag's Head eine Küche neu. Während sie Wandschränke und Arbeitsplatten montierte, kämpfte Daria die ganze Zeit über gegen die Melancholie an, die seit anderthalb Monaten ihr ständiger Begleiter war.
Andy hatte darauf bestanden, ihr zum Geburtstag das Mittagessen zu spendieren – Hühnchensandwich mit Pommes Frites bei Wendy's. Die beiden saßen sich am Tisch gegenüber. Während sie an ihrem Sandwich nagte und er seine drei Hamburger und zwei Portionen Pommes verschlang, stellten sie den Arbeitsplan für den Nachmittag auf. Trotz seines gesegneten Appetits war Andy rank und schlank. Das blonde Haar trug er zum Pferdeschwanz gebunden, der ihm bis zur Rückenmitte reichte, ein goldener Ring zierte sein Ohrläppchen. Er war erst Mitte zwanzig. Wahrscheinlich kann er deshalb essen, was er will, ohne auch nur ein Gramm zuzunehmen, vermutete Daria.
“Und”, fragte er, als er gerade seinen letzten Burger verdrückte, “gehst du heute Abend feiern?”
“Nein, ich werde nur mit Chloe und Shelly ein bisschen Kuchen essen.”
“Richtig. Shelly hat ja heute auch Geburtstag.”
“M-hm. Sie wird zweiundzwanzig.” Kaum zu glauben. In ihren Augen war Shelly immer noch ein Kind.
Andy nahm den letzten Schluck von seiner Limonade und stellte den leeren Becher auf dem Tablett ab. “Ich finde, du und Shelly solltet heute Abend die Stadt unsicher machen.”
“Ich unterrichte gleich noch eine Klasse auf der Feuerwache”, sagte Daria, als wäre das der Grund, der sie von einer Kneipentour abhielt.
“Ach tatsächlich?” Andy sah überrascht aus. “Ich dachte, du bist nicht mehr …”
“Ich bin keine Rettungsassistentin mehr, nein”, beendete Daria seinen Satz. “Aber ich möchte trotzdem noch als Dozentin arbeiten. Das heute ist meine erste Klasse seit … seit einiger Zeit.”
Sicher wusste er, dass sie seit April nicht mehr unterrichtet hatte, als das Flugzeug ins Meer gestürzt und fortan ihr gesamtes Leben durcheinandergeraten war. Aber er war klug genug, den Mund zu halten. Daria war unwohl bei dem Gedanken, wieder vor einer Klasse zu stehen. Heute Abend würde sie ihre ehemaligen Kollegen zum ersten Mal wieder sehen; zum ersten Mal, seit sie den Freiwilligen Rettungsdienst verlassen und die anderen völlig verwirrt – und unterbesetzt – zurückgelassen hatte. Sie hatte Angst, ihr Vertrauen verspielt zu haben.
Gemeinsam mit Andy verließ sie das Restaurant und überlegte, wie er wohl mit ihrer Kündigung zurechtkam, wo es doch sein sehnlichster Wunsch war, Rettungsassistent zu werden. Er war zweimal durch die Prüfung gefallen, und Daria war sich sicher, dass er sie nie bestehen würde. Doch er versuchte es unbeirrt weiter. Trotzdem – auch er war bei dem Flugzeugabsturz im April dabei gewesen und musste einfach verstehen, wie entsetzlich das alles für sie war. Auch wenn selbst Andy nicht die ganze Geschichte kannte.
Das Verhalten von Darias Klasse bestätigte sie in ihren Selbstzweifeln. Keiner schien zu wissen, was er sagen sollte. Waren sie wütend, weil sie so plötzlich gegangen war, oder einfach nur enttäuscht? Die meisten dachten vermutlich, ihr Weggang sei eine Reaktion auf die Kündigung ihres Verlobten Pete, und Daria ließ sie gern in diesem Irrglauben. Es war einfacher, als ihnen die Wahrheit zu sagen. Nur die Wenigen, die sie schon seit Jahren kannten, erkannten einen Zusammenhang zwischen ihrer Kündigung und dem Flugzeugabsturz. Doch selbst sie konnten sich keinen Reim auf ihr Verhalten machen. Nach zehn Jahren als freiwillige Rettungsassistentin mit dem Ruf als “Heldin der Stadt”, die über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügt und Nerven aus Stahl hat, war es unbegreiflich, dass ein fehlgeschlagener Rettungsversuch eine Daria Cato dermaßen aus der Bahn werfen konnte.
Als Daria an jenem Abend vor der Klasse stand, konnte sie ihnen ihr Misstrauen nicht verübeln. Immerhin brachte sie ihnen bei, Aufgaben auszuüben, die sie selbst nicht mehr erfüllen wollte. Sie fragte sich, ob sie überhaupt noch das Recht hatte, als Dozentin zu arbeiten. Nach dem Unterricht wurde ihr auf dem Weg zum Auto schmerzlich bewusst, dass ihr niemand folgte. Niemand, der noch eine Frage hatte; keiner, der noch ein wenig mit ihr plaudern wollte. Sie blieben allesamt im Klassenraum zurück, vermutlich in Erwartung darauf, endlich ungestört über sie reden zu können.
Es war kurz nach acht, als sie sich auf den Heimweg machte. Obwohl es mitten in der Woche war und die Saison gerade erst begann, herrschte auf der Hauptstraße wegen der Touristen schon dichter Verkehr. Sie wusste, was das bedeutete: Unfälle, Herzinfarkte, Beinah-Ertrinkende. Ihr schauderte, und sie war froh, keine Sanitäterin mehr zu sein.
Sie bog in die Einfahrt des Sea Shanty ein und parkte hinter Chloes Wagen. Wie schon die ganze Woche über standen auch an diesem Abend alle Einfahrten in der Sackgasse voll. Beim Anblick der Autos sehnte sich Daria plötzlich nach den einsamen Wintermonaten, in denen sie und Shelly die Straße ganz für sich allein hatten. Seit zehn Jahren lebten sie ganzjährig in Kill Devil Hills, und normalerweise freute Daria sich auf den Sommer, wenn die Sackgasse zum Leben erwachte. Aber dieses Jahr gab es zu viel zu erklären. “Wo ist Pete?”, würde jeder wissen wollen, und: “Warum arbeitest du nicht mehr bei der Rettung?” Sie hatte keine Lust mehr, diese Fragen zu beantworten.
Chloe saß in einem Schaukelstuhl auf der Veranda und las im Licht der Terrassenlampe ein Buch. “Ich habe einen Eiskuchen im Gefrierfach”, sagte sie. “Jetzt fehlt nur noch Shelly.”
“Wo ist sie denn?”
“Unten am Strand, wo sonst? Sie ist schon seit Stunden da draußen.”
Daria setzte sich in den anderen Schaukelstuhl. “Ich finde es nicht gut, wenn sie im Dunkeln an den Strand geht”, überlegte sie laut.
“Schwesterchen, sie ist zweiundzwanzig Jahre alt”, meinte Chloe.
Chloe verstand das nicht. Sie verbrachte nur die Sommermonate mit ihnen, wenn sie an der St.-Esther's-Kirche das Ferienprogramm für Kinder leitete. Sie war zu selten mit Shelly zusammen, als dass sie hätte wissen können, wie schlecht es um das Urteilsvermögen der jungen Frau bestellt war. Sie könnte irgendeinen Fremden am Strand aufgabeln, oder irgendein Fremder könnte sie aufgabeln. Das war alles schon vorgekommen.
Daria rubbelte über einen Fleck auf ihren kakifarbenen Shorts. Bei der Montage der Arbeitsplatte hatte es sich dort ein Klecks Klebstoff bequem gemacht. Schon wieder ein Paar Shorts im Eimer. Sie musste geseufzt haben, denn als sie aufsah, blickte sie direkt in Chloes Augen. Der raspelkurze Haarschnitt, den Chloe diesen Sommer zur Schau trug, ließ ihre braunen Rehaugen noch größer wirken und ihre dunklen samtigen Wimpern noch länger. Für einen Augenblick war Daria von der Schönheit ihrer Schwester wie hypnotisiert.
“Ich mache mir Sorgen um dich, Daria”, sagte Chloe.
“Warum?”
“Du machst so einen traurigen Eindruck. Ich glaube, ich habe dich noch nicht ein Mal lächeln gesehen, seit ich hier bin.”
Daria war nicht bewusst gewesen, dass ihre Traurigkeit so offensichtlich zutage trat. “Tut mir leid”, entschuldigte sie sich.
“Das muss es nicht. Ich wünschte nur, ich könnte irgendetwas für dich tun. Offen gesagt: Ich verstehe Pete einfach nicht. Ruft er dich manchmal an?”
Daria streckte die Arme vor sich aus. “Er hat mich schon mehrfach angerufen, aber es ist endgültig aus.” Pete hatte erleichtert geklungen, nicht mehr bei ihr zu sein, und sie in ihren wenigen Telefonaten ermahnt, doch endlich einmal zuerst an sich zu denken. Es tat weh, von ihm zu hören, und während sich ein Teil von ihr nach seinem Anruf sehnte, war ihr doch klar, dass eine Fortsetzung der Beziehung sie auf lange Sicht nur verletzen würde.
“Verrätst du mir, warum er die Verlobung gelöst hat?”, fragte Chloe vorsichtig. Bislang hatte sie diese Frage vermieden, in der Hoffnung, Daria würde von sich aus darüber sprechen.
“Ach, es gibt einen Haufen Gründe”, wich Daria aus. “Shelly ist einer davon.” In Wirklichkeit war Shelly der einzige Grund.
“Shelly? Was hat sie denn damit zu tun?”
Daria zog die Knie an und schlang ihre Arme um die Beine. “Er war der Ansicht, ich hätte sie nicht ausreichend unter Kontrolle. Er fand, ich sollte sie in so eine Art Heim stecken.”
Chloe gingen vor Staunen die Augen über. “Das ist verrückt”, sagte sie. Sie beugte sich zu Daria hinüber und nahm ihre Hand. “Es tut mir so leid, Süße. Ich hatte ja keine Ahnung, dass Shelly eine solche Belastung für eure Beziehung war.”
Shelly war schon immer ein Streitpunkt zwischen ihr und Pete gewesen, nur hatte sich der Konflikt nach dem Flugzeugabsturz zugespitzt. Doch Daria wollte darüber nicht mit Chloe sprechen. Und auch mit niemandem sonst.
“Das ist Petes Problem, nicht meins.” Daria stand auf. “Ich bin müde. Ich lege mich ein bisschen hin. Ruf mich, wenn Shelly auftaucht und wir uns an den Kuchen machen können, okay?”
Oben legte sie sich zwar aufs Bett, schlief jedoch nicht. Sie starrte an die dunkle Decke und lauschte den nächtlichen Geräuschen des Ozeans und den Schreien der Wheeler-Enkel, die vom Nachbarhof zu ihr heraufdrangen. Von ihrem elften Geburtstag an hatte jeder ihrer folgenden Geburtstage die Erinnerung an den Tag zurückgebracht, an dem sie den ausgesetzten Säugling am Strand gefunden hatte. Sie schloss die Augen und schickte ein kurzes Gebet zum Himmel, dass es Shelly am Strand gut gehen möge. Dann verlor sie sich in Erinnerungen an den Tag vor zweiundzwanzig Jahren – den Tag, der ihr weiteres Leben bestimmt hatte.
Den ganzen Tag lang und noch viele Tage danach war das Baby das Gesprächsthema in der Nachbarschaft gewesen. Die Polizei hatte alle Bewohner der Sackgasse sowie die Nachbarn in den angrenzenden Straßen und auf der anderen Seite der Strandstraße befragt, doch Daria hatte nur von den Untersuchungen in ihrer kleinen Welt, der Sackgasse, gewusst. Als die Polizei an jenem Nachmittag ihre Runde machte, saß Daria mit Chloe und Ellen auf der Veranda und tat so, als spielte sie mit ihrem Insektenforscherset. Aber eigentlich hörte sie den beiden bei ihrem Gespräch über die anderen Mädchen der Straße zu. Ellen und Chloe lungerten in den Schaukelstühlen herum, ihre langen nackten Beine vor sich ausgestreckt, die Füße auf das Terrassengeländer gelegt. Daria saß am Picknicktisch über ein Mikroskop gebeugt. Zwar konnte sie den beiden oft nicht folgen – wenn sie auch wusste, dass sie über Sex sprachen –, doch da die Mädchen ihr Gespräch sofort beenden würden, wenn sie Fragen stellte, hielt sie lieber den Mund und heuchelte großes Interesse an einer Libelle.
“Die Bullen sind jetzt bei den Taylors”, sagte Ellen.
Daria wagte einen Blick quer über die Straße zum Poll-Rory.
“Ich bin so käsig”, stöhnte Chloe, während sie ihre Beine inspizierte. Dabei war sie alles andere als weiß, denn wie Daria und Ellen war auch Chloe griechischer Abstammung und hatte von Seiten der Cato-Familie die Merkmale dickes dunkles Haar und olivenfarbene Haut geerbt. Und obwohl ihr Teint stets mit jedem Tag dunkler wurde, jammerte sie jeden Sommer über ihr Unvermögen, braun zu werden.
“Ich verstehe nicht, warum sie sich die Mühe machen, Polly zu befragen”, wunderte sich Ellen. “Ich meine, wer schwängert schon ein Mädchen mit Downsyndrom?”
“Na ja, immerhin ist sie jetzt fünfzehn”, erwiderte Chloe. “Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie vor Mrs. Taylor eine Schwangerschaft verbergen könnte. Die ist doch wie eine Glucke.”
“Ja, und außerdem bin ich auch fünfzehn”, meinte Ellen. “Und ich sehe um einiges besser aus als Polly und bin trotzdem noch Jungfrau.”
Chloe lachte. “Na klar, und ich bin die Königin von Saba.”
Daria wusste, was eine Jungfrau war. Die Jungfrau Maria war mit dem Jesuskind schwanger gewesen, ohne jemals Sex gehabt zu haben. Es war ihr noch nie in den Sinn gekommen, dass Ellen oder ihre Schwester oder Polly oder irgendein anderes Mädchen in der Straße keine Jungfrau mehr sein könnte. Schnell sah sie wieder in das Mikroskop, um ihren schockierten Gesichtsausdruck zu verbergen.
“Warum sind die Bullen überhaupt so sicher, dass es ein Teenager war?”, fragte Ellen.
“Sie gehen wahrscheinlich davon aus, dass es das Baby von Cindy Tramp ist”, antwortete Chloe, “aber sie haben nicht genügend Beweise, um eine ärztliche Untersuchung anzuordnen. Ich wette, sie hören in jedem Haus die übelsten Geschichten über sie. Sie macht es schon, seit sie zwölf ist.”
“Zwölf?” Ellen sah überrascht aus.
“Zwölf”, sagte Chloe mit Nachdruck. “Nur ein Jahr älter als Daria.” Beide sahen zu Daria hinüber, die den Kopf hob und spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.
“Ich habe keine Ahnung, wovon ihr redet”, sagte sie scheinheilig. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, in einem Jahr Sex zu haben. Wieder blickte sie zum Haus gegenüber und dachte an Rory. Er war der einzige Junge, den zu küssen sie in Erwägung ziehen würde, doch selbst mit Rory konnte sie sich nicht mehr ausmalen. Und überhaupt – sie wusste gar nicht genau, wie man es machte.
“Ich weiß, wer es war!”, sagte Ellen aufgeregt. “Ich wette, es war diese Linda.” Die zwei prusteten los, und Daria stimmte in ihr Gelächter ein, als hätte sie den Witz verstanden.
Plötzlich kamen zwei Polizisten aus der Haustür des Poll-Rory, Rory dicht auf ihren Fersen. Er schrie sie an. Die drei Mädchen beugten sich weit zum Fliegengitter hinüber, um besser verstehen zu können.
“… sie nur durcheinandergebracht!”, schrie Rory. “Und warum?”
Die Polizisten gingen unbeirrt weiter.
“Lassen Sie sich hier bloß nicht wieder blicken!”, rief Rory ihnen in bedrohlichem Ton nach. Sein blondes Haar glänzte in der Sonne, und seine Haut war nach nur einer verregneten Woche am Strand bereits gebräunt. Seine Stimme war tiefer als im Jahr zuvor. Wie er die Polizisten so anschrie, wirkte Rory plötzlich überhaupt sehr männlich und gar nicht mehr wie ein Junge. Bei der Vorstellung, dass er diesen Sommer vielleicht immer noch seine Zeit mit ihr verbringen wollte, war Daria ganz aufgeregt. Doch zugleich schämte sie sich auch für den Gedanken, denn sie wusste, wie lächerlich diese Hoffnung war.
“Rory.” Mrs. Taylor öffnete die Fliegengittertür ihres Hauses.
Rory drehte sich nicht um. Er blickte den Polizisten auf ihrem Weg die Straße hinunter nach, und Daria meinte, sogar von der Veranda aus die Dolche in seinen Augen erkennen zu können.
Mrs. Taylor ging zu ihrem Sohn hinüber, legte ihm den Arm um die Schultern und sprach ruhig auf ihn ein. Schließlich gingen sie gemeinsam ins Haus zurück.
“Rory sieht diesen Sommer ziemlich heiß aus”, sagte Ellen und fächelte sich mit der Hand Luft zu.
“Er ist erst vierzehn”, frotzelte Chloe. “Obwohl, ich glaube, er wäre genau der Richtige für dich.”
Darias Mutter kam auf die Terrasse. Sie trug ein für Kill Devil Hills ungewöhnliches Kleid. “Wir wollen heute Abend Pizza essen gehen”, verkündete sie, während sie Daria übers Haar strich. Die Berührung fühlte sich beinahe fremd an. Seit einer ganzen Weile war ihre Mutter nicht mehr so zärtlich gewesen. “Zu deinem Geburtstag, Daria”, fügte sie hinzu. “Und danach zum Minigolfplatz. Hast du Lust?”
“Au ja!”, sagte Daria. Sie freute sich, dass ihre Mutter den Geburtstag doch nicht vergessen hatte. Chloe und Ellen sahen Sue Cato an, als wäre sie über Nacht zwei Köpfe gewachsen.
“Und jetzt …”, Darias Mutter strich sich das Kleid glatt, “… fahre ich nach Elizabeth City ins Krankenhaus, um das Baby zu besuchen.”
“Warum?”, fragte Chloe. “Es ist doch nicht deins.”
“Das stimmt, aber sie hat doch niemanden”, antwortete Sue. “Niemanden, der sie im Arm hält. Und genau das werde ich jetzt machen.”
“Kann ich mitkommen, Mom?” Daria stand auf. Die Libelle war vergessen. “Ich habe sie schließlich gefunden.”
Ihre Mutter neigte den Kopf zur Seite, als wäge sie ab. “Natürlich”, sagte sie dann. “Ich finde, du musst sogar mitkommen.”
Die Krankenschwester wies sie an, sich die Hände mit einer desinfizierenden Seife zu waschen und blaue Kittel anzuziehen. Erst dann durften sie die Säuglingsstation betreten, wo das kleine Mädchen in einem Brutkasten lag. Da sie sie nicht auf den Arm nehmen durften, sahen sie die Kleine einfach nur an. Daria erkannte sie kaum wieder. War sie wirklich so winzig gewesen, als sie sie am Strand gefunden hatte? Ihre Haut war sehr blass, fast durchsichtig, und ihr Haar war nicht mehr als ein feiner blonder Flaum. Mit langen Drähten, die auf ihrer Brust klebten, war sie an mehrere Monitore angeschlossen.
Überrascht bemerkte Daria, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. Dieses Mädchen lebte ihretwegen. Sie bewegte sich und atmete ihretwegen. Es war schier unglaublich.
Sue Cato nahm die Hand ihrer Tochter und drückte sie – etwas, was sie seit vielen Monaten nicht getan hatte. Daria blickte zu ihrer Mutter auf, die leise Tränen weinte, und in dem Moment begriff sie, dass dieses Baby für sie beide mehr war als ein neuer kleiner Erdenbürger. Dieses Baby war bereits dabei, ihr beider Leben zu verändern.
“Wir werden bei St. Esther's vorbeifahren”, sagte ihre Mutter, als sie wieder im Wagen saßen und über die Currituck-Bucht in Richtung Kill Devil Hills fuhren.
“Um eine Kerze anzuzünden”, fügte Daria im Brustton der Überzeugung hinzu; sie war stolz darauf, die Gedanken ihrer Mutter lesen zu können.
“Genau. Aber wir wollen auch Pfarrer Macy einen Besuch abstatten.”
“Warum?”
“Weil …” Darias Mutter blickte angestrengt auf die Straße und hielt das Lenkrad fest in den Händen. “Weil ich finde, dass das Baby zu uns kommen sollte, wenn sich die Mutter nicht meldet.” Sie streifte Daria mit einem Seitenblick. “Findest du nicht? Immerhin ist sie nur deinetwegen am Leben, meine kleine Daria.”
Nie war es ihr in den Sinn gekommen, das Kind zu behalten. Doch jetzt schien ihr alles andere undenkbar. Eine kleine Schwester! Beim Anzünden der Kerze würde sie dafür beten, dass die Identität der leiblichen Mutter niemals festgestellt würde. Auch wenn es böse war, sich so etwas zu wünschen.
St. Esther's hatte keine Gemeinsamkeiten mit der Kirche in Norfolk in Virginia, die Darias Familie das restliche Jahr über besuchte. Dort roch es modrig, und Daria lief immer ein Schauder aus Angst und Ehrfurcht über den Rücken, wenn sie sie betrat. St. Esther's hingegen stand in der Nähe der weiten Bucht von Nag's Head. Diese Kirche war ein großes rechteckiges Gebäude aus Holz, das innen sauber und neu wirkte. Sie war hoch gebaut und luftig, mit großen Fenstern in Deckennähe und Kirchenbänken aus hellem Holz. In einige Fenster war Buntglas eingelassen – ein Kaleidoskop aus in abstrakte Formen geschliffenem Glas, das bunte Lichtstrahlen quer durch das Gotteshaus warf.
An diesem Nachmittag waren Daria und ihre Mutter die einzigen Besucher in St. Esther's, und als sie über den Holzfußboden zum Opferkerzenstand in der Ecke gingen, kamen Daria ihre Schritte viel zu laut vor. Ihre Mutter nahm den langen Holzstab aus der Wandhalterung, hielt ihn in die Flamme einer Kerze und zündete damit ein weiteres Opferlicht an. Dann übergab sie den Stab an Daria.
Hier eine Kerze anzuzünden hatte zwar bei Weitem nicht die gleiche Magie wie in ihrer düsteren, höhlengleichen Kirche in Norfolk, aber Daria tat es ihrer Mutter dennoch gleich und entzündete eine Kerze in der unteren Reihe. Dann kniete sie neben ihrer Mom nieder und betete für das Kind.
Lieber Gott, bitte lass das Baby überleben und gesund sein. Und mach, dass es zu uns kommt.
Nach dem Gebet verließen die zwei die Kirche durch den Seitenausgang und gingen zu dem angrenzenden kleinen Gebäude, in dem die Büros der beiden Pfarrer sowie jene Räume untergebracht waren, in denen die Veranstaltungen des Feriencamps stattfanden. Sie durchquerten den breiten kühlen Korridor, in dessen gewienertem Holzfußboden sich die Oberlichter spiegelten, und kurz bevor sie das Büro von Pfarrer Macy erreichten, kam er heraus.
“Hallo Mrs. Cato, hi Daria”, begrüßte er sie mit einem Lächeln. “Was führt euch beide denn hierher?” Er trug ein Hawaiihemd, und sein Haar hatte die Farbe von Strandhafer, wie er auch in Kill Devil Hills wuchs. Er passte gut zu St. Esther's – er war genauso offenherzig und fröhlich wie die Kirche selbst.
Sue legte den Arm um ihre Tochter. “Erzähl es ihm, Kleines.”
“Ich habe ein Baby am Strand gefunden”, sagte Daria.
Pfarrer Macy riss die Augen auf. “Ein Baby?”
“Ja”, bestätigte Sue Cato. “Daria war so mutig, das Mädchen zu uns nach Hause zu bringen, obwohl es ein Neugeborenes war und die, äh … Nachgeburt noch an ihr dranhing.” Zärtlich zog sie Daria an sich. “Wir würden gern mit Ihnen darüber sprechen, wenn Sie einen Moment Zeit haben.”
“Aber sicher”, sagte Pfarrer Macy und trat zurück in sein Büro. “Kommt nur rein.”
Sie folgten ihm in den kleinen Raum. Ein massiver Tisch stand vor dem einzigen großen Fenster. Man konnte direkt auf die Bucht sehen und in der Ferne die hohen goldenen Dünen von Nag's Head erkennen. Der Priester setzte sich lässig auf die Ecke des Tischs, während Daria und ihre Mutter in den beiden Armsesseln gegenüber Platz nahmen. Daria wusste, dass ihr Vater von Pfarrer Macys unbekümmertem Benehmen stets irritiert war. “Er ist viel zu locker”, hatte er einmal gesagt, und sie bezweifelte, dass sich die Priester in Norfolk auf einer Tischecke niederließen. Aber Pfarrer Macy war noch sehr jung; es war erst sein drittes Jahr als Priester und sein zweites in St. Esther's. Sogar Daria fand ihn gut aussehend, mit diesen großen braunen Augen und langen Wimpern. Und sein unbeschwertes Lachen vermittelte ihr ein Gefühl von Geborgenheit.
“Erzähl mir mehr über das Baby, Daria”, forderte er sie auf.
“Ich war heute Morgen schon sehr früh am Strand, um mir den Sonnenaufgang anzusehen und Muscheln zu sammeln. Und dann habe ich einen Pfeilschwanzkrebs-Panzer umgedreht, und darunter lag das Baby.” Sie wollte ihm nicht von dem Blut erzählen.
“Und offensichtlich war es erst kurz zuvor zur Welt gekommen, nicht?” Er sah zu Darias Mutter, und diese nickte zustimmend.
“Irgendjemand hat sie dort oder zumindest in der Nähe geboren und zum Sterben zurückgelassen”, sagte Darias Mutter.
“Du liebe Güte.” Pfarrer Macy blickte betroffen drein. “Ist sie denn … am Leben?”
“Ja, Gott sei Dank, das ist sie”, antwortete Sue Cato. “Sie liegt in Elizabeth City im Krankenhaus. Wir haben sie gerade besucht. Es geht ihr gut. In ein paar Tagen kann sie wahrscheinlich nach Hause. Aber sie hat kein Zuhause, und deswegen sind wir hier.” Zum ersten Mal nach Betreten des Büros strahlte Darias Mutter ein gewisses Unbehagen aus. Sie sah auf ihren Schoß hinab und spielte mit der Schnalle ihrer Geldbörse. Daria wartete ungeduldig, dass sie weitersprach.
“Mein Mann und ich möchten sie gern adoptieren”, sagte sie schließlich. “Natürlich nur, wenn niemand sonst Ansprüche geltend macht. Und wir haben uns gefragt, ob Sie uns dabei helfen würden. Ob Sie sich zu unseren Gunsten aussprechen würden?”
Pfarrer Macy machte ein nachdenkliches Gesicht. “Wissen Sie eigentlich, was für ein Wunder das ist?”, fragte er dann. “Dass Daria dieses Kind noch rechtzeitig gefunden hat? Dass es von jemandem gefunden wurde, der Teil einer so gläubigen, einer so heiligen und gesegneten Familie wie der Ihren ist?”
Zum zweiten Mal an diesem Nachmittag war Daria den Tränen nah.
“Ja”, sagte ihre Mutter leise. “Ja, wir sind uns bewusst, dass der Herr uns auserwählt hat.”
“Ich werde mich mit dem Krankenhaus in Verbindung setzen”, fuhr Pfarrer Macy fort und erhob sich. “Und auch mit der staatlichen Adoptionsvermittlungsstelle. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, damit das Kind zu Ihnen kommt. Denn ich kann mir für die Kleine kein besseres Zuhause vorstellen.”
Eine Woche später kam das Baby im Sea Shanty an und wurde sofort zum Star in der Nachbarschaft. Jeder aus der Straße kam vorbei, um sich das kleine Mädchen anzusehen und über seinen grausamen Start ins Leben den Kopf zu schütteln. Sue Cato gab ihm den Namen Michelle oder kurz: Shelly. Aber niemandem außer Daria schien die Ironie des Namens aufzufallen. Sie hatte sich darüber gefreut, wie passend er war. Die Leute hatten indessen eine andere Ironie des Schicksals kommentiert: dass dieser blonde, blasse Winzling nun Teil des dunkelhaarigen, griechischstämmigen Cato-Clans war.
Den ganzen Sommer lang hatte Darias Mutter auf der Veranda gesessen, das Baby in ihren Armen gewiegt und jedem Besucher erzählt, dass Shelly ein Geschenk des Meeres sei.
“Daria?”
Der Klang von Chloes Stimme ließ Daria hochschrecken. Sie setzte sich auf und schüttelte die Erinnerungen ab.
“Shelly ist wieder da”, rief Chloe von unten. “Komm runter zum Kuchenessen.”
“Ich komme!”, antwortete Daria, erleichtert, dass Shelly wohlbehalten zurückgekommen war. Sie fuhr sich mit den Händen durchs Haar und lief nach unten, um die junge Frau zu umarmen, die zugleich ihr Glück und ihr Kummer war, ihr Stolz und ihre Bürde.