32. KAPITEL

Nach dem Gottesdienst traf Daria auf Rory. Er hatte in der Kirche weit hinten gesessen und wartete nun draußen auf sie. Er hegte gemischte Gefühle für den Priester, weshalb sich Daria über sein Kommen umso mehr freute. Er wusste, wie viel Pfarrer Macy ihrer Familie bedeutet hatte.

Schweigend legte Rory einen Arm um sie, den anderen um Shelly und führte sie von der Kirche zum Parkplatz. Aus irgendeinem Grund drohten die Wärme und das leichte Gewicht seines Arms Daria wieder die Tränen in die Augen zu treiben. Sie atmete tief durch den Mund ein, um die Kontrolle zu behalten.

Die Ereignisse der vergangenen Tage hatten ihrem Drang, ihm von Grace zu erzählen, einen gehörigen Dämpfer verpasst. Dennoch wusste sie, dass sie mit ihm reden musste. Aber nun war Shelly bei ihnen; schon wieder nicht der richtige Zeitpunkt. Shelly jedoch schien das zu spüren.

“Ich möchte lieber zu Fuß nach Hause gehen”, meinte sie. Ihr siebter Sinn sagte ihr, dass Daria ein wenig Zeit allein mit Rory brauchte.

“Bist du sicher?”, fragte Daria besorgt. Sie glaubte nicht, dass Shelly Pfarrer Macys Tod bereits bewältigen konnte.

“Ganz sicher. Es geht mir gut. Wir sehen uns dann zu Hause.”

Daria sah ihr einige Augenblicke nach, dann wandte sie sich Rory zu. “Bist du mit dem Wagen hier?”

“M-hm. Und du?”

“Ich auch. Aber …” Sie sah in seine grünen Augen, die jede ihrer Bewegungen genau beobachteten. “Ich muss mit dir reden”, sagte sie. “Lass uns mit meinem Auto irgendwo hinfahren. Ich bringe dich später wieder her.”

“Geht es wieder um Shelly? Um meine Recherche …”

“Nein”, unterbrach sie ihn. “Nein. Es geht um etwas anderes.”

“Okay. Wo hast du geparkt?”

Sie fuhren quer über die Insel zur Bucht, wo sie auf den Steg gingen, an dem sie ein paar Wochen zuvor Krebse gefangen hatten. An diesem Nachmittag tummelten sich dort einige Kinder, die Krebse fingen, angelten und einander drohten, sich ins Wasser zu schubsen. Daria und Rory gingen an ihnen vorbei bis zum Ende des Stegs. Dort zogen sie die Schuhe aus, setzten sich in ihrer feinen Beerdigungskleidung hin und ließen die Füße über dem Wasser baumeln.

Daria war unsicher, wie sie anfangen sollte. “Ich habe dir noch gar nicht von meinem Besuch bei den Eltern der Pilotin erzählt”, sagte sie schließlich.

“Das hat mich auch schon gewundert”, erwiderte Rory. “Aber wegen der Sache mit Pfarrer Macy hatten wir auch noch gar keine Gelegenheit zu reden.”

Sie blickte in das grünbraune Wasser. Unmittelbar unter der Oberfläche schwamm ein Krebs seitwärts durchs Wasser.

“Und?”, hakte Rory nach. “Wie war es?”

Ihr Blick schweifte vom Meer zu ihm und wieder zurück. “Es fällt mir nicht leicht, das zu sagen”, begann sie. Sie wollte ihn vorwarnen. “Es war nur ihr Vater da. Ich habe ihn in dem kleinen Café getroffen, das ihm und seiner Frau gehört. Und während des Gesprächs habe ich erfahren, dass seine Frau … dass die Mutter der Pilotin … Grace ist.”

Für wenige Sekunden war Rorys Miene ungerührt. Dann begriff er langsam, was sie gesagt hatte, und sah sie an. “Grace?”, fragte er. “Grace Martin?”

“So habe ich zuerst auch reagiert. Und ich verstehe es immer noch nicht. Ich weiß immer noch nicht, was da vorgeht. Vielleicht heißt sie tatsächlich Martin, aber ihr Mann heißt Fuller. Eddie Fuller.”

“Ihr Exmann, meinst du.”

Sie schüttelte den Kopf. “Er hat von Grace, seiner Ehefrau, gesprochen, und dann habe ich das Foto auf dem Schreibtisch gesehen. Ich habe mir nicht anmerken lassen, dass ich sie kenne, sondern nur gefragt, ob er und seine Frau sich getrennt haben, und er sagte Nein. Allerdings stecken sie gerade in einer Krise. Sie gibt ihm die Schuld für …”

“Warte mal kurz. Immer schön der Reihe nach, okay? Grace und ihr Mann leben getrennt. Vielleicht wollte er das dir gegenüber nur nicht zugeben.”

Einer der herumtobenden Jungen rannte in sie hinein, und Rory raunzte ihn an, er solle gefälligst aufpassen. Zum ersten Mal erlebte sie an ihm einen Anflug von Ungeduld, was ihr zeigte, wie sehr ihn diese Neuigkeiten durcheinanderbrachten.

“Das kann natürlich sein”, räumte sie ein. “Aber ich hatte das Gefühl, er war ehrlich zu mir. Er sagte, sie lebt in einem Apartment über ihrer Garage, weil sie wütend auf ihn ist wegen …”

“Die Grace, die ich kenne, hat keine Kinder”, unterbrach er sie erneut.

Langsam verlor Daria die Geduld. “Rory, es tut mir leid, aber glaub mir: Es ist dieselbe Frau. Er hat mir sogar erzählt, dass sie vor nicht allzu langer Zeit operiert werden musste. Allerdings habe ich nicht gefragt, weswegen. Und sie hatte mindestens ein Kind. Eine Tochter namens Pamela, die Pilotin des verunglückten Flugzeugs. Und ein Grund für ihre Wut auf ihren Ehemann ist, dass er Pamela zum Fliegen ermutigt hat. Grace war immer dagegen, dass sie …”

“Warte. Mal angenommen, du hast recht, und Grace Fuller ist Grace Martin – ist es dann nicht ein ziemlich großer Zufall, dass ich sie treffe, während du so eng mit dem Unfall … mit dem Versuch verknüpft bist, ihrer Tochter nach einem Unfall das Leben zu retten?”

“Ja, ein riesiger Zufall”, stimmte Daria ihm zu. “Und, Rory, so leid es mir tut, aber genau das lässt mich annehmen, dass es vielleicht gar kein Zufall war.”

“Was willst du damit sagen?”

“Das weiß ich selbst nicht genau.” Ein Windsurfer segelte so dicht an ihnen vorbei, dass sie das Grübchen in seinem Kinn erkennen konnte. “Ich weiß zwar noch nicht, was es zu bedeuten hat”, fuhr sie fort, “aber ich musste über ihr auffälliges Interesse an Shelly nachdenken. Vielleicht war es wirklich nur ein Zufall, und jetzt sieht sie in Shelly eine Art … Tochterersatz. Aber sagen wir mal, es war keiner. Nehmen wir an, sie hat irgendwie herausbekommen, was Shelly während der Rettungsaktion getan hat, und jetzt … keine Ahnung … will sie Rache oder so was.” Sie wusste, dass das nichts als wilde Spekulationen waren, und hörte selbst den Zweifel in ihrer Stimme. “Wie sie jedoch davon erfahren haben will, wenn nur Pete und ich es wussten, ist mir ein Rätsel.”

“Also, ich bin für die Zufallstheorie. Die Art, wie ich sie kennengelernt habe … am Strand … sie wurde von einer Bremse gestochen … Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie das alles inszeniert hat. Aber offensichtlich hat sie mich im Hinblick auf die Trennung angelogen – außer sie betrachtet es als Trennung, über einer Garage zu wohnen. Und sie hat mich belogen, als sie sagte, sie hätte keine Kinder.” Er schüttelte den Kopf. “Kein Wunder, dass ich sie nie in Rodanthe besuchen kommen durfte.”

“Kannst du der Sache auf den Grund gehen?”, fragte Daria. “Ich meine, kannst du sicherstellen, dass sie nicht … na ja, irre ist? Dass sie nicht den kranken Plan verfolgt, Shelly etwas anzutun?”

“Wenn eines sicher ist, dann, dass sie Shelly anbetet.”

“Jeder betet Shelly an. Aber nicht jeder erschlägt sie mit persönlichen Fragen und schenkt ihr gläserweise Muscheln.”

Rory atmete tief durch, dann nickte er. “Wir treffen uns morgen Abend. Dann rede ich mit ihr.”