44. KAPITEL

Als Rory ins Haus ging, schmerzten seine Arme vom Herunterreißen der Sperrholzplatten. Er hätte auch auf Zack warten und die Arbeit mit ihm zusammen erledigen können, doch er wollte so schnell wie möglich wieder Sonnenlicht ins Poll-Rory lassen. Glücklicherweise hatte der Sturm keine schweren Schäden angerichtet. Nur das Dach hatte einige kahle Stellen, über denen er neue Schindeln würde auslegen müssen, und ein vom Strand heraufgewehtes Stück Treibholz hatte die Hausverkleidung ein Stück weit aufgerissen. Doch davon abgesehen war das Poll-Rory in bestem Zustand.

Auf dem Küchentresen blinkte der Anrufbeantworter. Das Telefon funktionierte also auch wieder; kurz bevor er am Morgen aufgestanden war, hatte er wieder Strom gehabt. Das Gerät zeigte zwei Nachrichten an. Die erste von Zack, der ihm mitteilte, dass er am Nachmittag nach Kill Devil Hills zurückkäme. Die zweite von Cindy Trump.

“Steht unsere Verabredung für heute noch, Rory?”, fragte sie. “Ich weiß nicht, ob du schon zurück bist – du musstest dein Haus ja sicher räumen. Aber ich bin da, falls du dich noch immer mit mir treffen willst. Du brauchst mich nicht anzurufen. Komm einfach vorbei, wenn du kannst. Ich bin eh den ganzen Tag hier und räume auf.”

Er hatte seine Verabredung mit Cindy völlig vergessen und war froh über die Erinnerung und die Tatsache, dass er sie treffen konnte.

Gerade als er den Anrufbeantworter ausschaltete, klingelte das Telefon. Er nahm ab.

“Rory?”

Grace”, sagte er. “Es tut mir leid, dass ich nicht im Motel war. Wir sind letztlich doch hiergeblieben.”

“Ich habe mich schon gefragt, was passiert ist, und gebetet, dass es euch allen gut geht.”

“Es ist alles in Ordnung. Als der Sturm direkt über uns war, kam er uns heftiger vor, als er am Ende tatsächlich war. Zumindest hat er in unserer Straße kaum Schäden angerichtet. Bist du in Rodanthe? Wie sieht es dort aus?”

“Einige der Häuser am Wasser wurden schwer gebeutelt”, erzählte Grace. “Aber unserem … meinem Haus ist nichts passiert. Warum seid ihr denn dortgeblieben?”

“Das ist eine lange Geschichte.” Er hatte das Gefühl, die Geschehnisse der vergangenen Nacht hätten sich nicht bloß über wenige Stunden, sondern über Tage hinweg ereignet. “Shelly hatte Angst, die Outer Banks zu verlassen. Und als wir aufbrechen wollten, konnten wir sie nicht finden.”

“Oh Gott. Wo war sie? Geht es ihr gut?”

“Wir haben überall gesucht, in den leeren Cottages und am Strand. Schließlich mussten wir aufgeben, und Daria war sehr besorgt.”

“Das kann ich mir vorstellen.”

“Dann fiel der Strom aus und die Telefone funktionierten nicht mehr.” Er erinnerte sich an das Geständnis, das Chloe ihnen gemacht hatte. Das würde er auslassen. “Dann ist plötzlich Darias Kollege, Andy, aufgetaucht und sagte uns, das Boot seines Nachbarn wäre kopfüber auf den Steg gespült worden und dessen Frau und kleiner Sohn säßen darunter fest. Also sind Daria und ich hingefahren, um zu helfen.” Noch immer hatte er das Bild von Daria deutlich vor Augen, wie sie sich unter das Boot warf, um den kleinen Jungen zu retten. “Dort haben wir dann auch Shelly getroffen. Es hat sich herausgestellt, dass schon seit einiger Zeit etwas zwischen ihr und Andy läuft.”

Grace war einen Moment lang still. Vermutlich, um das Gesagte zu verarbeiten.

“Wie, da läuft was? Du meinst, sie sind zusammen?”

“Ich weiß nicht, ob das der richtige Ausdruck ist. Aber offensichtlich sind sie mehr als bloß Freunde. Wir konnten nicht darüber sprechen. Es ging alles viel zu turbulent zu da draußen, und wir waren zu beschäftigt damit, die Leute aus der Bootsfalle zu befreien und in die Notaufnahme zu begleiten.”

“Geht es ihnen gut?”

“Nach meinem Stand der Informationen ja.”

“Rory … könnten wir uns morgen treffen? Bei dir?”

Zum ersten Mal löste die Vorstellung, sie zu sehen, keine Begeisterungsstürme in ihm aus. Er war mit den Gedanken immer noch bei Daria. Sein Magen krampfte sich zusammen, als er an ihr Liebesgeständnis dachte. Ihre Worte hatten ihn überrascht, und er hatte sich schuldig gefühlt. Als hätte er sie ausgenutzt. Er hatte immer gedacht, Daria sei der Typ Frau, den man nicht ausnutzen konnte. Eine Frau, die niemals etwas tun würde, was sie nicht gänzlich unter Kontrolle hatte. Sie wirkte so unverletzbar, so unabhängig und stark, dass ihm ihr Bedürfnis nach Nähe vollkommen entgangen war. Und erst recht ihre Sehnsucht nach ihm. Sein Körper hatte auf ihren Kuss mit sofortiger Erregung reagiert, und es war ihm nicht eine Sekunde lang in den Sinn gekommen, sich zu zügeln. Vielmehr hatte er es als eine weitere Aktivität mit einer alten Freundin betrachtet, wie Krebse fangen oder angeln. Dass es ihr viel mehr bedeutet hatte, war ihm nicht bewusst gewesen. Er hätte es nicht zulassen dürfen. Wenn es doch nur nicht so verdammt gut gewesen wäre. Doch in diesem Augenblick wusste er, dass er den nächsten Nachmittag viel lieber mit Daria Krebse fangen würde, als seine Zeit mit Grace zu verbringen.

“Lass uns doch morgen noch mal telefonieren”, wich er ihr deshalb aus, “und spontan entscheiden, ob es passt.”

Sie zögerte. “Einverstanden. Aber ich würde wirklich gern kommen.”

“Wir reden morgen, ja? Und entschuldige noch mal, dass ich dich im Motel versetzt habe.”

Er legte auf und starrte noch sekundenlang auf den Hörer, ehe er aufstand und zur Haustür ging. Noch eine Frau, bei der er sich am Nachmittag würde entschuldigen müssen.

Chloe wischte auf den Stufen zur Veranda gerade das Seegras auf, das der Wind ihnen vor die Tür geweht hatte.

“Bei euch mussten wohl ein paar Fliegengitter dran glauben, was?”, fragte Rory.

Chloe würdigte ihn kaum eines Blickes. “Ja. Aber das ist zum Glück auch der größte Schaden. Zumindest am Haus.” Sie feuerte einen finsteren Blick auf ihn ab, und er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie von seinem Techtelmechtel mit Daria wusste. Doch vielleicht spielte ihm auch nur seine Fantasie – oder sein schlechtes Gewissen – einen Streich. Vielleicht meinte sie lediglich die Verletzungen, die Andys Nachbarn erlitten hatten. Oder, was noch wahrscheinlicher war, sie spielte auf ihre eigene Verlegenheit an, die sie nach ihrem intimen Geständnis verspürt hatte.

“Ist Daria da?”, wollte er wissen.

“Sie ist oben.”

“Ob es in Ordnung ist, wenn ich raufgehe?”

“Warum nicht? Ich schätze, es gibt eh nicht mehr viele Geheimnisse zwischen euch, oder?”

Autsch. “Chloe …”, fing er an, unsicher, wie er fortfahren sollte.

Chloe seufzte und stützte sich auf den Besen. “Hör nicht auf mich, Rory. Meine Schwestern verlieren nur gerade den Boden unter den Füßen, und das macht mir Sorgen.”

“Ich ziehe Daria nicht den Boden weg.”

“Ach nein? Wie würdest du es denn nennen? Obwohl du an einer anderen interessiert bist, hast du Sex mit einer Frau, die dich aufrichtig liebt, die alles für dich tun würde. Ich will Darias Verhalten nicht entschuldigen, aber wenigstens waren ihre Beweggründe edel. Sie hat es getan, weil sie verrückt nach dir ist.”

Da er keine Ahnung hatte, was er erwidern sollte, schwieg er und ging einfach an ihr vorbei ins Haus und die Treppe hinauf.

Die Tür zu Darias Zimmer stand offen. Sie saß im Schneidersitz auf dem Bett und hatte vor sich architektonische Zeichnungen ausgebreitet. Er klopfte an die Tür und sie blickte auf.

“Hi”, sagte er.

“Hi.”

“Ich dachte, ich sehe mal nach, was du machst.”

Sie biss sich auf die Unterlippe, senkte den Blick auf die Zeichnungen und schob sie mit den Fingerspitzen umher. Er durchquerte den Raum und setzte sich auf die Bettkante. Dann erlöste er ihre Hand von ihrer sinnlosen Tätigkeit und hielt sie fest.

“Es tut mir leid, Daria”, sagte er. “Ich wollte dich nicht verletzen.”

“Es war nicht deine Schuld. Ich habe angefangen. Ich hätte es nicht tun dürfen, solange ich nicht bereit war, die Konsequenzen zu ertragen.”

“Du weißt, dass du mir viel bedeutest, oder?”, fragte er.

Sie stieß ein ironisches Lachen aus, und ihm wurde klar, dass seine Worte schwach, bedeutungslos und, so fürchtete er, gönnerhaft klangen.

“Ich wusste nichts von deinen Gefühlen”, fuhr er fort. “Und … es hat mich umgehauen, als du sie mir gestanden hast.” Er wollte ihr noch so viel sagen: dass er Zeit brauchte, um sich über seine Gefühle für sie klar zu werden, um zu begreifen, warum er, würde sie ihn jetzt küssen, alles noch mal genauso machen würde. Doch er wusste, dass es unfair wäre, ihr all das in diesem Moment zu sagen. Er würde damit nur seine Last verringern und ihre erschweren.

Sie sah ihm offen in die Augen. “Shelly ist schwanger.” Dann brach sie in Tränen aus, zog die Knie an die Brust und vergrub den Kopf zwischen ihren Knien.

“Oh nein.” Er hätte sie gern an sich gezogen und getröstet, doch genauso war in der vergangenen Nacht alles außer Kontrolle geraten. Und so hielt er einfach nur ihre Hand ein wenig fester. “Was wird sie machen?”

“Ich weiß es nicht”, antwortete Daria. “Sie will Andy heiraten und das Kind behalten. Aber ich weiß nicht, wie das gehen soll.”

“Wie … wie weit ist sie denn schon?” Er dachte an Shellys schlanke Figur. “Sie kann doch noch nicht lange schwanger sein.”

“Erst seit wenigen Wochen.”

“Dann ist also noch Zeit, um …”

“Ja.” Sie seufzte, als wäre sie der Diskussion überdrüssig. “Es ist noch Zeit.”

Er zögerte. “Sieh mal, ich fahre gleich nach Corolla und treffe mich mit Cindy Trump. Magst du mitkommen?”

Sie schüttelte den Kopf. Noch immer liefen ihr die Tränen über die Wangen. Rory trocknete sie mit seinen Fingern und stand auf.

“Also dann, bis später”, sagte er. “Mach's gut.”

Die Strandstraße war übersät von Schildern, Brettern und den Ästen junger Bäume. An einigen Stellen hatte sich das Wasser gesammelt, und die unzähligen Heimkehrer verstopften die Straße. Die Gegend um Corolla war wie rein gewaschen, und die riesigen Häuser der Stadt erstreckten sich von der Straße bis zum Meer. Das hier waren richtig große Häuser, keine kleinen Cottages. Viele konnte man beinahe als Villen bezeichnen.

Er folgte der Beschreibung, die Cindy ihm auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hatte, und fand ihr Haus ausgerechnet in einer Sackgasse. Er fuhr in die Auffahrt und musste auf dem Weg zu ihrer Haustür einen entwurzelten Baum umgehen. Noch ehe er klopfte, ging die Tür auf, und Cindy Trump stand in einem orangefarbenen Bikini vor ihm. Sie sah noch fast genauso aus wie vor zweiundzwanzig Jahren.

“Rory!” Sie trat einen Schritt zurück, um ihn hereinzulassen, und umarmte ihn dann. “Ich kann es kaum glauben. Du siehst ja noch besser aus als im Fernsehen.”

“Danke. Und du hast dich kein bisschen verändert.” Die Worte klangen zwar abgedroschen, doch er meinte es ehrlich. Von all den ehemaligen Bekannten aus der Sackgasse, denen er bisher begegnet war, hatte Cindy sich am wenigsten verändert. Sie war sonnengebräunt, schlank, blond und machte noch immer eine gute Figur im Bikini. Sie erinnerte ihn an die Frauen aus Hollywood, und er fragte sich, ob sie dem Schönheitschirurgen wohl schon den einen oder anderen Besuch abgestattet oder einfach nur gute Gene hatte.

Sie führte ihn auf die steinerne Veranda hinter dem Haus und reichte ihm ein Glas Eistee. “Entschuldige den Lärm”, sagte sie und zeigte zu dem Haus auf dem Grundstück hinter ihr, wo Dacharbeiter die Sturmschäden reparierten. “Normalerweise ist es hier ganz ruhig.”

Rory betrachtete das beschädigte Haus und musste an den Tag denken, als er Daria auf einem Dach hatte arbeiten sehen. Zwar waren diese Arbeiter allesamt männlich, doch vor seinem geistigen Auge sah er Daria dort oben und verspürte dasselbe Verlangen, das ihn am Abend zuvor in solche Schwierigkeiten gebracht hatte.

“Wurdet ihr evakuiert?”, erkundigte er sich, als er an dem Glastisch Platz nahm.

“Nein. Wir wohnen weit genug vom Strand entfernt, und dieses Haus kann sowieso nichts wegpusten.”

Glücklicherweise fragte sie ihn nicht, ob er die Outer Banks verlassen hatte, denn er hätte keine Lust gehabt, von den Ereignissen der letzten Nacht zu berichten.

Cindy war eine Plaudertasche. Sie erzählte ihm von ihrem Mann, einem Immobilienmakler, und ihren zwei Jungen, die beide am Anfang ihres Teenagerdaseins standen. Während sie einander kurz ihr Leid über Jungen in der Pubertät klagten, suchte er in ihrem Gesicht nach Ähnlichkeiten mit Shelly. Er fand keine. Er musste zugeben, dass es außer der Haarfarbe keine gab.

Dann nannte er ihr den Grund seines Besuchs: Er stelle Nachforschungen über Shellys Vergangenheit an und wolle herausfinden, wer ihre Eltern waren.

“Und”, fragte er, “wer könnte deiner Meinung nach Shellys Mutter sein?”

Cindy lachte und schlug ein langes braunes Bein über das andere. “Na, ich natürlich. Das hat damals doch jeder gedacht, oder?”

Er lächelte. “Na ja, du warst im richtigen Alter, und euer Cottage lag der Fundstelle am nächsten”, meinte er, als wären das die einzigen Faktoren, die sie verdächtig gemacht hatten.

“Du bist wirklich sehr höflich, Rory. Cindy Tramp. So habt ihr mich doch damals alle genannt.”

“Vielleicht einige von uns”, sagte er versöhnlich, doch an Cindys Lächeln erkannte er, dass sie ein dickes Fell hatte.

“Auf jeden Fall kann ich dir versichern, dass ich nicht Shelly Catos Mutter bin. Obwohl ich zugeben muss, dass das pures Glück war. Wenn ich zurückblicke, läuft mir beim Gedanken daran, was ich für ein Mädchen war, ein Schauder über den Rücken. Ich bin gottfroh, dass ich zwei Jungs und keine Mädchen habe. Wären es Mädchen, würde ich sie die nächsten fünf Jahre einschließen.”

“Ich war auch schon so manches Mal versucht, Zack einzusperren”, gab Rory zu.

“Wahrscheinlich war es eine Touristin, Rory. Deshalb hat die Polizei auch nie eine Verdächtige gefunden. Obwohl …” Sie zog die Nase kraus und sah auf den Ozean hinaus.

“Obwohl?”, drängte er.

“Ich hatte stets einen Verdacht, aber ich scheue mich, es zu sagen. Ich hasse es nämlich, schlecht über andere Frauen zu sprechen. Schließlich weiß ich, wie das ist.”

Rory beugte sich vor. Cindy hat sich in der Tat kein bisschen verändert, dachte er. Sie ist immer noch ein Plagegeist. “Du kannst nicht so eine Andeutung machen und dann nicht sagen, von wem du sprichst”, sagte er.

“Ich dachte immer, es war Ellen. Erinnerst du dich noch an Ellen? Die Nichte der Catos?”

Er nickte.

“Ich weiß ja nicht, wie gut du dich noch an sie erinnerst, aber sie war immer ziemlich ungezwungen mit Jungs.” Cindy zuckte die Achseln. “Nicht so ungezwungen wie ich, muss ich gestehen, aber trotzdem … Und sie konnte fies sein. Weißt du das noch?”

Er wusste es sogar noch sehr gut. Immerhin hatte er es erst wenige Wochen zuvor erlebt.

“Sie hatte etwas Garstiges an sich. Einmal waren mein Onkel und meine Tante zu Besuch bei uns. Sie hatten zwei kleine Kinder, und da mein Bruder und ich unterwegs waren, engagierten sie Ellen als Babysitter. Sie hat eines der Mädchen so böse geschlagen, dass es Blutergüsse am Arm hatte. Ich weiß noch, dass mein Onkel und meine Tante mit Mr. und Mrs. Cato – und vermutlich auch mit Ellens Mutter – darüber gesprochen haben. Und meines Wissens haben sie es dann dabei belassen. Aber von Zeit zu Zeit muss ich noch an diesen Zwischenfall denken. Man kann nicht leugnen, dass Ellen etwas Rohes an sich hatte. Ich könnte mir gut vorstellen, dass sie einen Säugling am Strand zurücklässt und nicht einen weiteren Gedanken daran verschwendet.”

Jetzt, nachdem sie es gesagt hatte, erschien es auch ihm nicht ganz abwegig. “Aber Ellen und Shelly haben nicht die geringste Ähnlichkeit”, wandte er ein.

“Ich habe Shelly nicht mehr gesehen, seit sie ein kleines Mädchen war. Aber ich erinnere mich noch genau, dass sie braune Augen hatte. Sehr helle Haare, aber große braune Augen, wie Ellen.” Auf einmal setzte sich Cindy gerade auf ihren Stuhl und blickte in den Himmel. “Leg nicht zu viel Gewicht auf das, was ich sage, Rory. Vom Kind, das man beim Babysitten schlägt, bis zum Säugling, den man am Strand aussetzt, ist es ein weiter Weg.” Sie wollte zurückrudern, vermutlich weil sie sich jetzt, nach der Äußerung ihres Verdachts, unwohl fühlte. “Ich denke, ich lag mit meinem ersten Tipp richtig. Es ist wahrscheinlicher, dass es eine Touristin war. Wenn du eine Sendung darüber machst, meldet sich die Person vielleicht. Oder ein Bekannter von ihr.”

“Vielleicht”, stimmte er ihr zu, doch er dachte noch immer über Ellen nach; darüber, wie sie versucht hatte, sich in Shellys Erziehung einzumischen.

“Wie geht es deiner Schwester?”, wechselte Cindy das Thema. “Polly, richtig? Ich kann mich noch so gut an sie erinnern. Sie war der erste geistig behinderte Mensch, den ich näher kennengelernt habe. Ich mochte sie immer sehr.”

Ihre Worte berührten ihn. “Sie ist vor ein paar Jahren gestorben”, antwortete er.

“Oh, das tut mir leid, Rory. Wie ungerecht. Meine deutlichste Erinnerung an dich war immer, wie du dich für sie aufgeopfert hast.”

“Sie war jemand Besonderes für mich.”

“Aber das war nicht nur bei Polly so. Du warst immer so nett zu jedem. Erinnerst du dich noch an den Jungen, der keinen einzigen Fisch gefangen hat, und du …”

“Ja, ja.” Seine Heiligsprechung.

“Das war ungewöhnlich für einen Jungen in deinem Alter, dass er anderen gegenüber so sensibel ist. Wenn ich hätte voraussagen müssen, was du einmal beruflich machst, hätte ich auf Sozialarbeiter getippt.”

“Sozialarbeiter?”

“Ja, überleg doch mal. Das ist es doch, worum es bei 'True Life Stories' geht, oder etwa nicht? Ich habe immer das Gefühl, es bricht dir schier das Herz, wenn du die Geschichten deiner Gäste erzählst. Die Zuschauer denken bestimmt, du spielst das bloß. Aber jeder, der dich als Kind kannte, weiß, dass du schon immer eine Schwäche für Menschen in Not hattest.”

Er musste plötzlich an Grace denken. Er war von ihrer Hilflosigkeit angezogen worden, okay. Aber war das wirklich alles?

Mit Glorianne war es dasselbe gewesen. Er erinnerte sich daran, wie seine Exfrau war, als er sie kennengelernt hatte – wie unsicher, wie verzweifelt auf der Suche nach einer starken Schulter, an die sie sich anlehnen konnte.

Und dann gab es Daria, die niemanden zu brauchen schien. Er war von Graces Schönheit so hingerissen, von ihrer Bedürftigkeit so umnebelt gewesen, dass er nicht die liebevolle Frau bemerkt hatte, die direkt vor ihm stand.

“Cindy”, sagte er und stand unvermittelt auf. Jetzt konnte er gar nicht schnell genug nach Kill Devil Hills zurückkommen. “Ich glaube, du hast mir sehr geholfen.”