52. KAPITEL

Als Grace am Morgen nach Rodanthe fuhr, hing die Sonne wie ein cremiger orangefarbener Ball tief über dem Meer. Sie war erschöpft und betäubt, verwirrt und benommen. Shelly war nicht von ihr, so viel stand fest. Trotzdem liebte sie sie inzwischen. Während sie fuhr, betete sie. Betete und weinte.

Sie fuhr in die Auffahrt und ging ins Haus. Von dem Tag an, als Eddie ihr bis zu Rorys Cottage gefolgt war, lebten sie wieder gemeinsam dort. Eddie war es auch gewesen, der sie überredet hatte, zum Lagerfeuer zu fahren. Es sei an der Zeit, allen die Wahrheit zu erzählen, hatte er gesagt. Sie müsse es tun, um sicher sein zu können, dass Shelly auf das Marfan-Syndrom hin untersucht würde. Doch Chloe hatte sie im Wettkampf um die Wahrheit geschlagen. Wie ihr Herz diese Enthüllung überlebt hatte, konnte Grace sich noch immer nicht erklären.

Sie hatte Eddie von der Notaufnahme aus angerufen, um ihm alles zu erzählen, und jetzt saß er hier im Wohnzimmer und wartete auf sie. Er reichte ihr eine Tasse Kaffee und nahm sie in den Arm.

“Wie geht es Shelly?”, fragte er.

“Ihr Zustand ist kritisch.” Grace setzte sich aufs Sofa. “Sie geben ihr nur eine fünfzigprozentige Chance. Und wenn sie durchkommt, könnte ihre Gehirnschädigung sogar noch schlimmer sein als vorher.”

“Das ist furchtbar.” Eddie schüttelte den Kopf. “Einfach entsetzlich.”

“Ich stehe immer noch unter Schock.” Sie hob die Kaffeetasse an ihre Lippen, sie setzte sie mit zittrigen Händen jedoch wieder ab, ohne zu trinken. “Ich kann einfach nicht glauben, dass sie nicht von mir ist, Eddie.”

“Ich schon.”

“Warum sagst du das?”

“Weil ich die Krankenschwester gefunden habe.”

“Was?” Sie stellte die Tasse auf den Couchtisch. “Wie hast du …”

“Das ist jetzt unwichtig.”

“Weiß sie, was mit meiner Tochter geschehen ist? Weiß sie, wer sie adoptiert hat?”

Er nickte. “Ja, das weiß sie. Aber sie wollte nicht am Telefon darüber sprechen. Sie hat uns gebeten vorbeizukommen. Sie sagte, das wäre eine Sache, die sie dir persönlich sagen möchte.”

Grace sah auf ihre Armbanduhr. “Können wir schon heute fahren? Ist es jetzt noch zu früh?” Am liebsten wäre sie sofort aus der Tür gestürmt.

Eddie lächelte. “Lass mich sie erst noch anrufen. Aber ich denke, es wird gehen.”

Während er mit der Krankenschwester telefonierte, analysierte Grace jedes seiner Worte, um herauszufinden, was Nancy am anderen Ende der Leitung sagen mochte. Schwester Nancy. Wie abgrundtief sie diesen Namen all die Jahre über gehasst hatte!

Danach rief Eddie bei Sally an, teilte ihr mit, dass sie heute nicht ins Café kämen, und bat sie einzuspringen. Dann fuhren sie endlich los.

Sie waren beide schweigsam, als sie die Barrier Islands hoch und über die Brücke aufs Festland fuhren. Grace knetete die Hände in ihrem Schoß. Was waren es wohl für Leute, die ihr Kind adoptiert hatten? Und würde ihre Tochter sie überhaupt sehen wollen? Sie musste auf alles gefasst sein.

Als sie nach Elizabeth City hereinfuhren, las sie Eddie die Wegbeschreibung vor. Sie fuhren durch ein hübsches altes Wohnviertel mit prächtigen Alleen und altmodischen Straßenlaternen, bevor sie schließlich vor einem großen roten Backsteinhaus anhielten. Nancy und Nathan haben es seit 1977 offensichtlich zu etwas gebracht, dachte Grace. Damals konnten sie sich nur dieses schäbige kleine Cottage als Ferienunterkunft leisten.

Eddie sah sie an. “Bereit?”, fragte er.

Sie nickte, presste die feuchten Handflächen aneinander und stieg aus dem Wagen.

Hand in Hand gingen sie den mit Schieferplatten gepflasterten Weg zur Eingangstür. Eddie klingelte, und Grace bereitete sich auf Nancys Anblick vor. Doch die Tür wurde von einer jungen Frau in Shellys Alter geöffnet. Sie war groß und schlank, hatte dunkles Haar, ein unsicheres Lächeln und einen unverkennbaren herzförmigen Haaransatz.